„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 22. September 2023

Dialektik und Ressentiment

In seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) macht Habermas ein überraschendes Eingeständnis. Er habe, so schreibt er, das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ bislang vernachlässigt. Im selben Buch, in dem er dieses Eingeständnis macht, zeichnet Habermas dennoch unverdrossen eine Vernunftsgeschichte nach, trotzig beteuernd, daß er auch weiterhin keine Geschichte der Unvernunft schreiben wolle.

Wenn Habermas von einer Unvernunft in der Geschichte schreibt, denkt man als Leserin oder Leser und vor allem er selbst als Vertreter der „Kritischen Theorie“ sogleich an die „Dialektik der Aufklärung“ (1944/69/88) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die das Umschlagen von Vernunft und ihrer Geschichte in Unvernunft beschreiben. Als eine Freundin sah, wie ich in die „Dialektik der Aufklärung “ vertieft war, sprach sie ihren Respekt für dieses Buch aus, als einem Grundlagenwerk für kritisches Denken. Ich gestand, daß ich wegen einiger Textstellen, auf die ich gestoßen war, einige Zweifel hätte, die sie aber souverän beiseite wischte. Natürlich, meinte sie, sei das damals eine andere Zeit gewesen und deshalb auch kein Wunder, wenn da jetzt nicht alles politisch korrekt sei.

Deshalb möchte ich jetzt vor allem über die von mir inkriminierten Stellen berichten, ungeachtet des überwiegenden Großteils dieses Buches, das auch einem unverbesserlichen Fortschrittsoptimisten wie Habermas, sollte er es noch einmal lesen, ins Grübeln bringen könnte. Das erste, was mir auffiel, ist das Ressentiment, das Horkheimer/Adorno gegen den Jazz entwickelt haben. (Vgl. DA, S.135, 140, 144, 157, 162f. u.ö.) Der Jazz ist für sie eine Fortsetzung des Industriekapitalismusses, insofern er den Rhythmus von Fließband und Akkord auf die Freizeitaktivitäten der Ausgebeuteten überträgt und sie so fügsamer und brauchbarer macht für die Maximierung des Profits.

Von einem Ressentiment zu reden, scheint mir angemessen zu sein, denn die Ablehnung des Jazz durch die Faschisten war sicher auch den beiden Autoren nicht unbekannt. Und wohl auch nicht, daß damit unmittelbar ein gegen dunkelhäutige Menschen gerichteter Rassismus verbunden gewesen war.

Dazu paßt ein weiteres Ressentiment, das sich direkt gegen die „Neger in Harlem“ richtet, wobei es mir weniger um die Verwendung des N-Wortes geht, als vielmehr um die Unterstellung, es handele sich bei ihnen um „gierige Nachläufer“, ohne irgendein aufklärendes Wort zu den Umständen, die Horkheimer/Adorno dazu veranlaßten, so ein Urteil zu fällen. (Vgl. DA, S.179)

Insgesamt steht der Jazz für Kulturindustrie, wie übrigens auch das Kino und der Film, gegen die Horkheimer/Adorno ebenfalls ein Ressentiment entwickelt haben, gewissermaßen eine „Idiosynkrasie“, ein Wort, das die beiden insbesondere im Antisemitismus-Fragment immer wieder verwenden. Das Fragment zur Kulturindustrie (vgl. DA, S.128ff.) ist jedenfalls auch ressentimentgeladen. Die Kulturindustrie läßt den beiden Autoren zufolge als Totalität der individuellen Rezeption keine Chance.

Orson Welles werfen sie z.B. vor, daß alle seine „Verstöße gegen die Usancen des Metiers“ doch nur „als berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen“. (Vgl. DA, S.137) Dabei lassen sie beflissen unter den Tisch fallen, daß Orson Welles’ souveränes Spiel mit den Möglichkeiten des Films einen intellektuellen und ästhetischen Freiraum schafft, der der geistigen Beweglichkeit durchaus förderlich ist. Einmal in Bewegung gesetzt, kann sich diese Beweglichkeit auf alles richten: auch auf bzw. gegen die Kulturindustrie. Kein Wort auch zu Orson Welles‛ „Krieg der Welten“ (1938), mit dem er dem Radiopublikum seine unreflektierte Radiogläubigkeit vorhielt. Aufklärung im besten Sinne! Adorno und Horkheimer schweigen dazu.

Da ist es schon wieder amüsant, zu lesen, wie widerwillig Horkheimer/Adorno der künstlerischen Leistung in der Filmindustrie ihre Anerkennung zugestehen müssen. Wenn Horkheimer/Adorno einigen Produkten der Filmschaffenden „so feine Nuancen“ bescheinigen, „daß sie fast die Subtilität der Avantgarde erreichen“, dann ist dieses „fast“ vor allem ihrem Ressentiment geschuldet. Und wenn es ein Vorwurf sein soll, daß die Filmsprache sich an der „Alltagssprache“ orientiert, dann kann auch der Vorwurf der Nähe zum „logischen Positivismus“ nicht den Verdacht abwehren, daß hier jemand nicht begriffen hat, daß die Sprache immer und zuallererst Alltagssprache ist, und alle unsere ach so kulturell wertvollen geistigen Leistungen sich ihr verdanken. Letztlich müssen Horkheimer/Adorno den „Spezialisten“ ‒ gemeint sind die Experten der Filmproduktion vom Ton- und Bildtechnik über die Drehbuchautoren bis hin zur Requisite und Schnitt ‒ auch noch einen „letzte(n) Rest sachlicher Autonomie“ bescheinigen, wenn diese mit ihrem „Renommee“, gemeint ist wohl Kompetenz, der „Geschäftspolitik der Kirche oder des Konzerns“ Widerstand leisten. (Alle Zitate in DA, S.137)

Selbst eine der großen Kritiken, deren sich die „Kritische Theorie“ mit Recht rühmen darf, ihre Kritik am Patriarchat und an der damit verbundenen Unterdrückung der Frauen (vgl. DA, S.10, 17, 23, 29f., 37, 39, 57, 65, 72f., 79ff., 82f. 114, 117ff., 120, 184, 195, 223, 264ff., 269), ist bei Horkheimer/Adorno mit Ressentiments gegen die Frauen durchsetzt. So halten sie es für unwahrscheinlich, daß ein Mann seine Ehe zerstören würde. Die Schuld läge doch eher „bei der Frau“. (Vgl. DA, S.256)

An anderer Stelle, wo es um die Deformationen der Frauen geht, die sie durch das Patriarchat erleiden, heißt es: „Der Blutdurst des Weibes im Pogrom überstrahlt selbst den männlichen.“ (DA, S.267) ‒ Wie kommen Horkheimer/Adorno darauf? Welche Statistik liegt ihrer Aussage zugrunde? Soll man aus dem Blutdurst der Frauen vielleicht schließen, daß das Patriarchat die Männer friedliebender und konfliktscheuer gemacht hat?

Eine weitere durch das Patriarchat verursachte Deformation machen die beiden Autoren tatsächlich an dem Umstand fest, daß die Frauen neuerdings sozial und politisch aktiver werden: „Als soziale Hyäne verfolgt sie kulturelle Ziele. ... sie (die weibliche Opposition ‒ DZ) wird zur pervertierten Aggression des social work und des theosophischen Klatsches, zur Betätigung der kleinen Ranküne in Werktätigkeit und Christian Science.“ (DA, S.267)

Das Patriarchat hat aber noch weitere, insbesondere sexuelle Deformationen zur Folge. Dazu gehört die Homosexualität, gegen die Horkheimer/Adorno anscheinend ebenfalls ein Ressentiment haben. Um ihr negatives Urteil zu begründen, greifen Horkheimer/Adorno auf die Psychoanalyse zurück, was gerade aufgrund der dialektischen Methodik des Buchs keine gute Idee ist. Wenn die Dialektik psychoanalytisch zu argumentieren beginnt, verwandelt sie sich von einem Organ des Denkens in ein Organ des Verdachts. Und Denken, dessen Aufmerksamkeit durch einen Verdacht belastet ist, verwandelt sich leicht in Paranoia. Jedenfalls ist es wohl nach Ansicht der beiden Autoren psychoanalytisch gerechtfertigt zu behaupten, daß das „in Aggression umgesetzte Verpönte“ angeblich „meist homosexueller Art (ist)“. (Vgl. DA, S.201)

Natürlich ist auch die Psychoanalyse eine Form des Denkens. Aber Denken wiederum ist auch noch etwas anderes als Psychoanalyse. Wenn es anfängt, die Phänomene, die sich ihm geben, nicht mehr als solche ernstzunehmen, sondern sie grundsätzlich unter den Verdacht stellt, etwas anderes zu sein, hört es auf, Denken zu sein. Das „Verpönte“, also Ressentiment, ist das eine. Aber Homosexualität ist etwas ganz anderes. Eins hat mit dem anderen nichts zu tun.

Ganz zum Schluß heißt es dann nochmal: „Im faschistischen Kollektiv mit seinen Teams und Arbeitslagern ist von der zarten Jugend an ein jeder ein Gefangener in Einzelhaft, es züchtet Homosexualität.“ (DA, S.269)

Ich finde es schade, daß die wirklich lesenswerte Kritik an Kollektiven aller Art, die ich ebenfalls zu den großartigen Kritiken in dem Buch zähle, die uns auch heute, in Zeiten der Wiederkehr des Faschismusses, wieder viel zu sagen hat, durch solches Ressentiment desavouiert wird.

Aber Horkheimer/Adorno haben eine Entschuldigung. Die „Wahrheit“, so schreiben sie zu der 1969 erschienenen Neuausgabe ihres Buchs, also 22 Jahre nach seiner Ersterscheinung, habe einen „Zeitkern“, so daß manches von dem, was sie geschrieben haben, inzwischen als veraltet gelten müsse. (Vgl. DA, S.IX) Sie wollen das Buch deshalb als Dokument verstanden wissen. Außerdem, so heißt es an anderer Stelle: „... unfertig zu sein und es zu wissen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt.“ (DA, S.261)

Der Satz vom unfertigen Denken ist auf jene Intellektuellen gemünzt, die bereit sind, den Tod eines zum Strang Verurteilten mit der Begründung hinzunehmen, daß sein Denken fehlerhaft gewesen sei. (Vgl. DA, S.261) Unfertiges Denken ist fehlerhaft. Und da Denken immer unfertig ist, ist es auch immer fehlerhaft.

Insofern hat also meine Freundin recht. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist ein Buch aus einer anderen Zeit und als solches kein Gegenstand der Bewertung im Rahmen einer ebenfalls zeitgebundenen political correctness. Es bleibt aber weiterhin die Aufgabe einer kritischen Auswertung, den bleibenden Einsichten in ihm auf die Spur zu kommen. Und zwar, gerade auch gegen Habermas, als eine nicht nur das Buch selbst betreffende Analyse einer Geschichte der Unvernunft.

Montag, 11. September 2023

Individuelle und kollektive Erinnerungsarbeit

„ ... stets trägt die Unterdrückung der Gesellschaft
zugleich die Züge der Unterdrückung durch ein Kollektiv.“
(Dialektik der Aufklärung)

Nicolai Epplée, Autor von „Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo“ (2023), hat ein verdienstvolles Buch über die Schwierigkeiten und den Nutzen einer dynamischen Erinnerungsarbeit in Gesellschaften geschrieben, die eine vom Staat getragene Politik der systematisch begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinter sich haben. Dabei liegt der dramatische Ort einer solchen Erinnerungsarbeit vor allem in den Familien, in denen sich über Generationen hinweg die Folgen von Opfer- und Tätergeschichten vererben, so daß von hier aus von einer Traumatisierung der ganzen Gesellschaft gesprochen werden kann.

Subjekte der Erinnerungsarbeit sind deshalb oft Kinder oder Enkel oder wie im Falle Rußlands sogar Urenkel, die die familiäre Vergangenheit nicht zur Ruhe kommen läßt. Auch der psychologische Begriff des Traumas ist individuellen Traumabiographien entlehnt und wird für die ,kollektive‛ Erinnerungsarbeit übernommen; wobei hier nochmal zu unterscheiden ist zwischen staatlich unterstützter und anerkannter Erinnerungsarbeit einerseits und der Erinnerungsarbeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Opfergemeinschaften andererseits.

Das besondere Verdienst von Epplées Buch sehe ich darin, daß es die Erinnerungsarbeit in sechs Nationen miteinander vergleicht: Argentinien, Spanien, Südafrika, Polen, Deutschland und Japan. Dazu kommt noch Rußland, das den Anlaß für und das Zentrum von Epplées Analysen bildet. Die Einsichten, die diese vergleichenden Studien bieten, sind fruchtbar und interessant. Aber ich habe ein Problem mit der fehlenden Differenzierung der verschiedenen Kollektivbegriffe, mit denen Epplée seine Analysen sprachlich durchsetzt. Das Phänomen des Kollektivbewußtseins wird mit so unterschiedlichen Begriffen wie Schicksalsgemeinschaft (Gemeinschaft als gesellschaftlich-politische Kraft), Leidens- bzw. Opfergemeinschaft, Volksgemeinschaft, kollektives Gedächtnis, Kollektivschuld, Zivilgesellschaft etc. adressiert (vgl. Epplée 2023, S.24, 111, 116, 132, 235f., 268, 282ff., 304f. u.ö.), während das Basisphänomen, mit dem alle diese Begriffe verbunden sind, schlicht und einfach die Lebenswelt ist. Von ihr her und aus ihr erwächst diesen Begriffen ihre je spezifische Bedeutung zu.

Dennoch bleibt die lebensweltliche Genese dieser Begriffe in Epplées Buch ungeklärt. Ebenso ungeklärt bleibt deshalb auch das Verhältnis dieser Gemeinschaftsformen zu den Individuen. Wo die Individuen immer wieder als Teil eines Kollektivbewußtseins thematisiert werden, können die geschichtlich tradierten Traumata niemals ein Ende finden und setzen sich von Generation zu Generation fort. Denn nur das autonome, persönliche Urteil, das Gewissen, kann die Kette der fortlaufenden Traumatisierung, die die Generationen als Kollektivschuld miteinander verbindet, durchbrechen, wie ja auch Epplée selbst an so vielen Stellen seines Buchs an entsprechenden Beispielen aufzeigt. Immer ist die Versöhnung allererst eine persönliche, und jede und jeder Einzelne ist frei, sie zu gewähren oder zu verweigern. Was nicht gegen eine gerichtliche Aufarbeitung und auch nicht gegen staatliche Unterstützung der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit spricht!

An einigen Beispielen möchte ich meine Probleme mit den Kollektivbegriffen verdeutlichen. So beschreibt Epplée das Projekt einer „Volkserziehung“ des Heimatforschers und Historikers Jurij Dmitriev, der mit Hilfe gemeinsamer Erinnerungen „an die Vorfahren eine diffuse Menschenmasse zu einem Volk“ machen will, so daß es sich, also als Volk, den traumatisierenden Erfahrungen in und mit der Sowjetunion stellen kann. (Vgl. Epplée 2023, S.116) Zugleich soll diese kollektive Erinnerung eine „persönliche Beziehung zur Geschichte“ ermöglichen, die die Menschen weniger „leicht manipulierbar“ macht. (Vgl. ebenda) Dmitriev geht es mit der Volkserziehung darum, „die nationale Identität der Bevölkerung Russlands durch die Wiederbelebung des Familiengedächtnisses ,umzuprogrammieren‛“. (Vgl. Epplée 2023, S.117)

Dabei, so Epplée, steht diese Volkserziehung in Konkurrenz zu dem, was die russische Regierung tut, nämlich „die nationale Identität in Russland traditionell von oben“ zu programmieren. (Vgl. Epplée, S.117) Epplée problematisiert Dmitrievs Begrifflichkeit in keiner Weise, sondern anerkennt dessen Erinnerungsarbeit als zivilgesellschaftliche, also vom Staat unabhängige Initiative. Er akzeptiert also den Begriff der Umprogrammierung für eine Erinnerungsarbeit, in der es um die freie und persönliche Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Vergangenheit gehen soll, wie Epplée selbst immer wieder betont!

Weitere Textstellen befinden sich am Ende des dritten Kapitels im dritten Teil seines Buches, einem Kapitel, das Epplée mit dem Titel „Blutwäsche“ versehen hat und in dem es um die Ausweitung „der Vergangenheitsbewältigung von der individuellen und familiären Ebene auf die Gesellschaft“ geht. (Vgl. Epplée 2023, S.412) Dabei will ich jetzt gar nicht weiter auf das reichlich dürftige Argument eingehen, daß die gemeinsame Basis einer solchen gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit darin bestehe, daß sich doch eigentlich alle, Verbrecher wie Opfer, in der „Bewertung des sowjetischen Terrors“ als Verbrechen einig seien. (Vgl. Epplée 2023, S.416) Wäre es tatsächlich so, wäre vielleicht was gewonnen. Aber auch die Bewertung eines Verbrechens als Verbrechen hindert niemand daran, alle möglichen Entschuldigungen dafür zu erfinden, daß es eben historisch nötig und unvermeidbar gewesen sei.

Noch ärgerlicher finde ich aber, daß Epplée drei Zeugen für die gesellschaftliche Bedeutung persönlicher Vergangenheitsaufarbeitung zitiert, die völlig verschiedene Konzepte für ihren Gemeinschaftsbezug vertreten, ohne daß Epplée auf diesen doch eigentlich bemerkenswerten Umstand eingeht. Er faßt stattdessen seine drei Zeugen in einem nichtssagenden Fazit, in dem er seinen dritten Zeugen Péter Esterházy zitiert, zusammen: „Soweit sich von einem Mechanismus sprechen lässt, durch den der ,Versuch, seine denkbar persönlichste Angelegenheit zu bewältigen‛, ,wie nebenbei die Nation eint‛, helfen diese Zeilen vielleicht dabei, zu verstehen, wie er funktioniert.“ (Epplée 2023, S.422)

Epplée bezieht sich in diesem alles zusammenfassenden Zitat auf eine Textstelle aus „Verbesserte Ausgabe“ (2018), in der Péter Esterházy die Vergangenheit seines Vaters im kommunistischen Ungarn aufarbeitet. Esterházy geht es dabei um eine Verantwortungsübernahme auf der Basis der Repräsentativität seiner adligen Familie, die über viele Jahrhunderte eine herausragende geschichtliche Rolle in Ungarn gespielt hatte. Wenn er also schreibt: „So verwickeln wir uns in die Geschichte.“ (Zitiert nach Epplée 2023, S.421) ‒ dann ist das vor allem die weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte des Nachkommen einer Adligenfamilie.

Esterházys Verantwortung unterscheidet sich also von der Verantwortung anderer Menschen, insbesondere von der Verantwortung der beiden anderen Zeugen und von dem, was diese darunter verstehen. Der erste dieser beiden Zeugen ‒ Esterházy ist der dritte, also letzte, den Epplée in dieser Reihe aufführt ‒ ist der Litauer Tomas Venclova. Venclova nennt als Grund für seine Verantwortungsübernahme für von Litauern an Juden begangene Verbrechen seine Volkszugehörigkeit: „Wenn man ein Volk als eine große Person betrachtet ..., dann haben alle Angehörigen des betreffenden Volkes Anteil an dieser Person, die Rechtschaffenen ebenso wie die Verbrecher. Jede begangene Sünde belastet das Gewissen des ganzen Volkes und das Gewissen jedes Einzelnen.“ (Zitiert nach Epplée 2023, S.419)

Das Volk als „Person“, das Volk als „Gewissen“, „Sünde“ ‒ hier ist mit dem Gewissen nicht mehr das autonome Urteil eines Individuums gemeint, sondern wir haben es mit einer Sphäre des Heiligen zu tun. Während die anderen beiden Zeugen aus unterschiedlichen Gründen, wie noch zu zeigen sein wird, als Einzelne dastehen, die ihrem persönlichen Gewissen folgen, fällt Venclova mit seiner Motivlage aus den grundlegenden Einsichten, die Epplée in diesem Kapitel diskutiert, heraus.

Hatte Epplée zuvor herausgearbeitet, daß es einen „Unterschied im Sinn und in der Sache“ macht, wenn man von individueller und gesellschaftlicher Verantwortung spricht (vgl. Epplée 2023, S.407); und hatte er zustimmend Jennifer Teege, Enkelin eines KZ-Kommandanten, zitiert, die ihre Familiengeschichte aufgearbeitet und öffentlich gemacht hat und die bestreitet, daß es eine „genetische Schuld“ gibt und jeder Mensch für sich entscheidet, „wer und was er sein möchte“ (vgl. Epplée 2923, S.409); und hatte er selbst ausdrücklich festgehalten, daß „vor allem diejenigen“ Verantwortung übernehmen, „die an den aufzuarbeitenden Taten der Gemeinschaft den kleinsten Anteil haben“ (vgl. Epplée 2023, S.417) und dies „nur selbständig und freiwillig“ möglich sei (vgl. Epplée 2023, S.422), beruft er sich plötzlich auf einen Zeugen, der dieses entscheidende Merkmal, die individuelle Persönlichkeit, gleich auf ein ganzes Volk „als eine große Person“ ausdehnt!

Das Kapitel endet dann auch nochmal mit Epplées Hinweis auf „eine wirkliche, innerliche Blutwäsche“ (vgl. Epplée 2023, S.423), die „Vorfahren“ und „Ahnen“ in die Erinnerungsarbeit einbezieht. Also ist dann doch wohl irgendwie alles genetisch?

Das ist dann wieder ganz anders beim zweiten Zeugen, einem Polen, der zugleich Jude ist, Adam Michnik. Er begründet den Zusammenhang zwischen seiner persönlichen Verantwortung und der der polnischen Nation anders: „Ich bin Mensch von Natur und trage anderen Menschen gegenüber Verantwortung für das, was ich tue. Ich bin Pole durch Wahl und trage der Welt gegenüber Verantwortung für das Böse, was meine Landsleute getan haben. Ich trage sie aus freiem Willen, aus eigener Wahl und auf das Drängen aus den Tiefen meines Gewissens.()“ (Epplée 2023, S.420)

Verschiedenartiger kann man sich die drei Zeugen kaum vorstellen: zwanghafte Volksverbundenheit beim ersten, freier Wille und persönliches Gewissen beim zweiten, familiäre Verbundenheit und gesellschaftliche Verantwortung beim dritten. Und der Autor des Buches geht auf alle diese Unterschiede nicht ein! Der Grund dafür kann eigentlich nur die begriffliche Wüste sein, was die Problematik des Verhältnisses von Individualität und Kollektivität betrifft.

Letztlich deckt sich Epplées Vorstellung von Kollektivität sogar mit der von Stalin. Das zeigt sich an zwei Stellen: Epplée beschreibt das „Bewusstsein von Massen“ als „unmittelbare Folge“ einer historischen „Situation“. (Vgl. Epplée 2023, S.134) So erklärt er den massenpsychologischen Hang zum „starken Staat“ als historisch bedingt durch den Stalinismus. (Vgl. ebenda) Implizit gesteht Epplée dem Massenbewußtsein also zu, daß es, wäre es nicht durch den Stalinismus deformiert worden, anstelle des starken Staates die „Idee vom Wert des Individuums“ bevorzugen würde. (Vgl. ebenda) Als wäre es nicht gerade die begrifflich herauszuarbeitende Definition von Massen, immer der Autorität eines starken politischen Führers zu folgen!

Das Massenbewußtsein ist nicht von Stalin deformiert worden. Es war nicht eine unmittelbare Folge des Stalinismus. Er hat es nur benutzt. Aber das ist es eigentlich noch nicht, was Epplées Begrifflichkeit dem Stalinismus annähert. Das wird erst in einer weiteren Stelle deutlich, in der Epplée vom „staatliche(n) Monopol auf Kollektivität“ spricht (vgl. Epplée 2023, S.132) und daß der Staat zur Wahrung seines Monopols deshalb „unweigerlich“ auf „Proteste aus der Gesellschaft“ mit „Gegenveranstaltungen“ reagiert (vgl. Epplée 2023, S.133). Indem Epplée auf diese Weise staatliche und gesellschaftliche Kollektivität gegeneinanderstellt, unterstellt er der Zivilgesellschaft ein Kollektivbewußtsein. Die Zivilgesellschaft ist aber kein Kollektivbewußtsein. Die Zivilgesellschaft steht und fällt mit der Zivilcourage, und die ist immer singulär und individuell.

Nur in Kollektivbegriffen denken zu können ist wohl ein bislang unausrottbares Erbe des Sowjetkommunismus. Wenn Epplée also schreibt, daß es ihm nicht um „die Frage nach der Zugehörigkeit zu einem ,liberalen‛ oder ,etatistischen‛ Überzeugungssystem“ gehe, sondern um „psychologische Mechanismen“ (vgl. Epplée 2023, S.134), dann liegt vor dem Hintergrund von „Volkserziehung“ und „Umprogrammierung“ der Verdacht nahe, daß die angestrebte Vergangenheitsaufarbeitung in Rußland noch lange nicht richtig begonnen hat. Denn natürlich geht es um die Schaffung einer ,liberalen‛, nämlich zivilgesellschaftlich geprägten Öffentlichkeit! Und natürlich geht es, ineins mit der persönlichen Erinnerungsarbeit in den Familien, um die Überwindung eines ,etatistischen‛ Überzeugungssystems.

Erst wenn die zivilgesellschaftliche Erinnerungsarbeit mit einer erhöhten Wachsamkeit für das immer noch zirkulierende kollektivistische Gift einhergeht, können auch „psychologische Mechanismen“ zu ihrem Recht kommen. Denn Epplée liefert in seiner eigenen Arbeit als Autor eines Buchs über den „Umgang mit Staatsverbrechen“ das Beispiel dafür, wie leicht es ist, die Inhalte einer individuellen und gesellschaftlichen Traumabewältigung an kollektive und sogar völkische Manipulationsinteressen zu verlieren.

Sonntag, 3. September 2023

Semiotik: Zur Bedeutungslosigkeit von Zeichen

„Je vollkommener nämlich die Sprache in der
Mitteilung aufgeht, je mehr die Worte aus
substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen
Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie
das Gemeinte vermitteln, desto undurch-
dringlicher werden sie zugleich.“
(Dialektik der Aufklärung)

In ihrem Buch „Im Dickicht der Zeichen“ (2023/2015), das die Grundlage für meine folgenden Ausführungen zur Semiotik bildet, zitiert Aleida Assmann Friedrich Hölderlin: „Das Zeichen an sich selbst (ist) unbedeutend = 0.“ (Assmann 2023, S.63)

Im Brockhaus (2006), der letzten in Buchform herausgegebenen Enzyklopädie, finde ich unter dem Stichwort „Semiotik“ folgende Stelle: „S. präsentiert sich eher als ein Feld verwandter Untersuchungen denn als eine selbständige Disziplin mit eigener Methode und präzisem Gegenstand.“ ‒ Mit anderen Worten: Semiotik ist eigentlich gar keine richtige Wissenschaft.

Beide Zitate, von Hölderlin und aus der Enzyklopädie, erklären, warum ich immer solche Schwierigkeiten damit hatte, zu verstehen, worum es in der Semiotik eigentlich geht. Es hatte mich schon immer interessiert, was es mit der Sprache auf sich hat. Aus einem inneren, aus mir selbst entspringenden Interesse heraus, aber auch aus einem Unwillen, einer Verärgerung heraus, die mit dem linguistic turn zusammenhängt, für den Namen wie Ferdinand de Saussure und Ludwig Wittgenstein stehen und der die geisteswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Entwicklung des ganzen 20. Jhdts. prägte. Meine Verärgerung galt dem sprachwissenschaftlichen Dogma, daß es außerhalb der Sprache kein Denken und sogar eigentlich keine Welt gebe. Die KI-Forschung hat dieses Selbstverständnis geerbt. Letztlich läßt sich sogar die KI auf den linguistic turn zurückführen.

Ich wollte also wissen, was es mit der Sprache auf sich hat. Und damit hing wiederum ganz eng die Frage zusammen, wieso Wörter eine Bedeutung haben. Das ist der eigentliche Gegenstand der Semantik. Aber die Semantik bildet keine eigene Disziplin. Sie ist nur ein Anhängsel der Semiotik. Wer wissen will, was es mit der Bedeutung auf sich hat, muß sich an die Semiotiker wenden. Aber die Semiotiker, siehe Hölderlin, haben die Bedeutung abgeschafft. Sie interessieren sich nur noch für Zeichen und ihre Funktionen. Und Funktionen sind bedeutungslos.

Ich war frustriert. Ich verstand die Semiotiker nicht. Ich verstand ihre Texte nicht, die sie schrieben. Sie gaben und geben sich keinerlei Mühe, sich verständlich auszudrücken. Warum auch. Hat ja alles keine Bedeutung. Als ich dann in Helmut Plessners Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) eine Definition fand, die die Bedeutung der Wörter an der Differenz von Meinen und Sagen festmacht, also an dem, was eine Sprecherin meint und was ein Hörer versteht, hatte er mich gewonnen. Dazu an späterer Stelle mehr.

Aleida Assmann machte mir die Entwicklung der Semiotik als wissenschaftliche Disziplin wieder verständlich. Sie spricht von zwei verschiedenen Traditionslinien, von denen die eine weit in die Menschheitsgeschichte zurückreicht und in der es den Menschen darum geht, die Welt lesbar zu machen. Die Menschen haben versucht, ihrer Umwelt Zeichen darüber zu entnehmen, was um sie herum vorging und was sie als nächstes tun sollten. Obwohl Assmann an keiner Stelle auf Levi-Strauss verweist, ist das, was sie „wilde Semiose“ nennt (vgl. Assmann 2023, S.18ff.u.ö.), vergleichbar mit Levi-Straussens „wildem Denken“.

In dieser semiotischen Traditionslinie, so Assmann, ist der Mensch, bis heute übrigens!, an nichts mehr interessiert als an Bedeutung. Er interpretiert einfach alles, was ihm begegnet: „Neben dem homo faber gibt es den homo interpres, den deutenden Menschen, der Impulse aus seiner Umwelt aufnimmt und als Zeichen empfängt, auch wenn er sie nicht verstehen kann.“ (Vgl. Assmann 2023, S.31)

Die andere semiotische Entwicklungslinie beginnt mit der Neuzeit und bringt im 20. Jhdt. den Strukturalismus und den Poststrukturalismus hervor. Auch der Dekonstruktivismus gehört hierhin. Ich will jetzt nicht Assmanns Ausführungen zu diesem Thema referieren. Das wird sonst alles zu lang. Ich fasse es nur kurz zusammen, so wie ich es verstanden habe: Der moderne Semiotiker befaßt sich nicht mehr mit der mündlichen Sprache, mit den Wörtern, die wir sprechen, mit Phonemen und Silben, aus denen sie zusammengesetzt sind; nicht mit Wörtern, die sich zu neuen Wörtern zusammenfügen lassen oder die über die Syntax zu einem Satz zusammengefügt werden. Das ist die Ebene der Bedeutung. Die kleinsten Elemente der gesprochenen Sprache als bedeutungsstiftende Praxis sind die Wörter.

Aber für Bedeutung interessieren sich die Semiotiker nicht, wie schon erwähnt wurde. Sie halten sich statt an die gesprochene Sprache an die Schrift, und sie nehmen statt den gesprochenen Wörtern die Schriftzeichen, aus denen die Wörter zusammengesetzt sind, in den Fokus. Und diese Schriftzeichen sind, wenn wir mal von den noch eng mit der Mündlichkeit zusammenhängenden Konsonantenschriften absehen, seit den Phöniziern und Griechen im europäischen Kulturraum Buchstaben.

Nachdem die zunehmende Alphabetisierung breiter Teile der Bevölkerung um die Wende vom 18. zum 19. Jhdt. zunächst dazu geführt hatte, daß die Menschen Bücher zu lesen lernten, als verfolgten sie einen spannenden Film ‒ also das Stadium des mühsamen, vom Mitsprechen begleiteten Buchstabierens überwunden hatten ‒, gerieten die Buchstaben zunächst wieder in Vergessenheit. Wer beim Lesen eines Buches einen inneren Film abspielen kann, sieht die Buchstaben nicht mehr. Er liest über sie hinweg. Das Erleben spielt sich auch beim Lesen eines Textes, wie das Hören in der gesprochenen Sprache, vor allem auf der Wort- und der Satzebene ab.

Nicht so die Semiotiker des 20. Jhdts.! Mit Emphase beschreibt Assmann die semiotische Abwendung vom Wort und die Hinwendung zum Buchstaben: „Die Buchstaben des Textes, seine irreduzible Materialität ist es, was das hermeneutische Verlangen nach Sinn und Transparenz von jeher übersehen und verdrängt hat. Nachdem der Geist (also das bewußte Lesen ‒ DZ) den Buchstaben unterjocht hat, dreht sich dieses Verhältnis um: das Medium ist nun die Botschaft.()“ (Assmann 2023, S.301f.) ‒ Das Lesen spielt sich für die moderne Semiotik jetzt nur noch auf der Buchstabenebene ab: „... es gibt kein Transzendieren der Lektüre mehr, keine Flucht von der Materialität der Zeichen in den Geist, kein behänder und selbstvergessener Aufstieg vom Buchstaben zum Deuten.“ (Assmann 2023, S.302f.)

Trotzdem gibt es sogar auf dieser materiellen Ebene noch eine Deutungspraxis. Jacques Lacan ersetzt das bislang von einem Bewußtsein begleitete Lesen durch ein Unterbewußtes. Er nimmt die Homonymie zwischen Medium (Presse, Rundfunk, Internet etc.) und Medium (Hellseherin, Wahrsager) zum Anlaß, den an sich bedeutungslosen Zeichen eine unterschwellige Bedeutung zuzusprechen, die wie in einer Psychoanalyse durch die Assoziationsbereitschaft von Lesern aufgedeckt werden kann. Mich erinnert die ,Geistlosigkeit‛ dieses ,medialen‛ Umgangs mit Texten an die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, wie sie Friedrich Kittler gefordert hat.

Aber das ist nur ein Ergebnis der semiotischen Buchstäblichkeit unter anderen. In der neuen Semiotik überwiegt eher eine Art des Lesens von Texten, das sich nur für die Funktionalität und Struktur von Schriftzeichen interessiert. Und damit sind wir auch schon bei den Maschinensprachen. Das semiotische Desinteresse an Wörtern und das Primat der Buchstaben (Zeichen) hat sich in allen wissenschaftlichen Disziplinen nachhaltig durchgesetzt. Lesen ist nur noch eine Variante der Informationsverarbeitung. Und Informationstheoretiker können genau berechnen, wie viele Bits ein Walgesang enthält, ohne auch nur ein ,Wort‛ davon zu verstehen.

Zurück zu Plessner. Plessners Differenz von Meinen und Sagen beruht auf einer Bewußtseinskrise, aus der heraus dann erst so etwas wie ein Selbstbewußtsein möglich wird. Wir wollen etwas tun, haben auch einen Plan, um unser Ziel zu erreichen, aber es mißlingt. Der auf das Ziel gerichtete Bewußtseinsstrahl wird unterbrochen. Plessner nennt das ein Hiatuserlebnis. Wir beginnen, zwischen uns und der Welt, zwischen Innen und Außen, zu unterscheiden. Wir werden unserer selbst bewußt. Diese Differenz überträgt sich auch auf die Kommunikation zwischen uns und anderen wie uns: was wir sagen, wird mißverstanden; was wir gemeint hatten, kommt beim anderen nicht an. Beim Versuch, uns besser auszudrücken, beginnen wir auch hier uns selbst besser zu verstehen. Plessner läßt deshalb die Bedeutung, aus der Differenz von Meinen und Sagen hervorgehen. Die Differenz von Meinen und Sagen ist auch die Differenz von Innen und Außen.

Auch die Semiotiker unterschieden lange Zeit zwischen Innen und Außen: „Die abendländische Semiologie beruht auf einem Zeichenbegriff, der das Bezeichnende und das Bezeichnete über Jahrhunderte hinweg als Dichotomie zwischen einem ,Außen‛ und einem ,Innen‛ thematisierte und unterschiedlichen ontischen Sphären zuordnete.“ (Assmann 2023, S.62)

Aber in der modernen Semiotik, der Semiotik des 20. Jhdts., der Semiotik des linguistic turn, verschwand das Interesse an dieser Differenz. Sie interessierten sich nur noch für das ,Innen‛ der Sprache, zu der es kein Außen mehr geben sollte, was eigentlich eine Verdrehung des tatsächlichen Verhältnisses von Innen und Außen darstellt. Denn es ist die Sprache, die Schrift noch mehr als die gesprochene Sprache, die den Sprechenden und Hörenden äußerlich ist. Das gilt im gesteigerten Maße seit der Erfindung des Buchdrucks. Das gedruckte Wort ist uns, anders als die Handschrift, absolut äußerlich.

Die Verlagerung des semiotischen Interesses auf das ,Innere‛ der Sprache hat möglicherweise mit der dreistelligen Relation des modernen Zeichenbegriffs, wie sie von Charles S. Peirce vorgeschlagen wurde, begonnen. (Vgl. Assmann 2023, S.17) Peirce unterscheidet zwischen dem Signifikanten (dem Zeichen), dem Signifikat (der Bedeutung) und dem Referenten (dem realweltlichen Gegenstand). Wenn Peirce am realweltlichen Bezug als Bestandteil des Zeichenbegriffs festhält, erkennt er damit immer noch die Außenwelt als etwas an, das Bestandteil einer ernstzunehmenden Semiotik ist.

Aber Peirce trennt zugleich die Bedeutung vom Gegenstand. Worin soll aber die Bedeutung bestehen, wenn nicht im Gegenstand? Aleida Assmann schreibt: „Während die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat durch einen Code geregelt ist, der rein linguistischer Art ist, regelt die Verbindung zu einem Referenten die Einlassung des Zeichensystems in die Außenwelt und damit in praktisches Handeln und Verstehen.“ (Assmann 2023, S.17)

Peirce hat also die Bedeutung vom Gegenstand abgelöst und zum Bestandteil eines „rein linguistische(n)“ Codes gemacht. Der Bezug zur Außenwelt ist nicht mehr von linguistischem Interesse. Damit ist der erste Schritt zu einer Zeichentheorie getan, die sich von der Außenwelt abwendet und sich nur noch mit dem rein linguistischen Inneren von Sprachzeichen befassen will. Aber die Zeichen, mit denen sich die Semiotiker befassen, sind jetzt keine Sprachzeichen mehr. Sie haben sich in Schriftzeichen verwandelt.

Es ist bezeichnend, daß Assmann deshalb auch nicht mehr von einer Bewußtseinskrise spricht, wenn die Dinge und Worte auseinanderfallen, sondern von einer „Zeichenkrise“. (Vgl. Assmann 2023, S.151, 156, 162) Und an die Stelle des Bewußtseins tritt die „Zeichenkraft“. (Vgl. Assmann 2023, S.58) Von nun an kommt die Semiotik ohne menschliches Bewußtsein aus.

Indem Peirce die Bedeutung vom Gegenstand trennt und in den Zeichencode verlagert, haben wir es analog zu Kants Begriffen mit Zeichen ohne Anschauung zu tun. Es ist die bewußte Anschauung, die Apperzeption, die Kant zufolge die Verbindung zwischen Begriffen bzw. ,Zeichen‛ und unserer Wahrnehmung herstellt. Ohne diesen Bewußtseinsakt bleiben die Begriffe bzw. Zeichen leer und alles ist bedeutungslos.

Damit wir es nicht nur mit Schriftzeichen zu tun haben, sondern mit Sprachzeichen, bedarf es einer anderen dreistelligen Relation als der von Peirce vorgeschlagenen. Peirces Zeichenbegriff fehlt das Bewußtseinsmoment, das die drei Bestandteile, Signifikant, Signifikat, Gegenstand überhaupt in einer dreistelligen Relation zu integrieren vermag. Um das Schriftzeichen in ein Sprachzeichen zu verwandeln, müssen wir auf Plessners Differenz von Meinen und Sagen zurückkommen. Auch hier finden wir eine dreistellige Relation vor. Die Differenz von Meinen und Sagen beinhaltet, daß die Bedeutung weder auf Seiten des Sagens noch auf Seiten des Meinens liegt, sondern als ein Drittes aus ihrer Differenz hervorgeht.

Weder das Zeichen noch der Sender noch der Empfänger noch der Zeichencode sind die Quellen der Bedeutung, sondern das gesprochene Wort. Es gibt die Wörter im Lexikon, und es gibt das gesprochene Wort. Das Lexikon besteht aus Listen optionaler Bedeutungen für wiederum in Listen alphabetisch aneinander gereihte Wörter. Aber was die Wörter wirklich bedeuten, stellt sich erst heraus, wenn wir sie verwenden. Denn im Kontext ihres Gebrauchs ist ihre Bedeutung immer vielfältig und abhängig von dem, was die Sprecherin meint, und von dem, was der Hörer versteht. Wenn sich Hörerin und Sprecher auf ein gemeinsames Meinen verständigen, ist es als Bedeutung auf den jeweiligen Akt der Kommunikation bezogen und steht in künftigen Kommunikationsakten wieder offen für eine neue Verständigung.

Deshalb kann man mit Plessner sagen, daß die Differenz von Meinen und Sagen in diesen drei Bezügen besteht: Kontext, Meinen und Verstehen. Bedeutung geht also aus der Differenz von Meinen und Sagen hervor.

Ohne Bezug auf ein Bewußtsein gibt es keine Bedeutung. Eine Semiotik, die das Bewußtsein aus ihrer Zeichentheorie ausschließt, schließt auch die Bedeutung aus. Was bleibt ist ein auf die Interaktion von Maschinen reduziertes Sprachverständnis.