„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 23. Februar 2019

Mein persönlicher Karl May II

Ich weiß noch, wie mir die Mutter eines Spielkameraden stolz eine Reihe von Karl-May-Büchern auf dem Bücherbrett ihres Sohnes zeigte. Ich stand starr vor Staunen vor diesen Wälzern, deren Seiten voller gedruckter Buchstaben waren, ohne einem einzigen Bild dazwischen, und ich konnte es nicht fassen, daß jemand fähig war, das alles zu lesen, sprich: mühsam Buchstabe für Buchstabe zu entziffern. Meine damalige Lektüre war geprägt von Enid Blytons „Fünf Freunde“ und Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“.

Erst als ich nach einer Blinddarmoperation eine Woche im Krankenhaus verbringen mußte und meine Eltern mir ein Karl-May-Buch, „In den Kordilleren“, schenkten, zwang mich die Langeweile, dieses Buch zu lesen, und es dauerte nicht lange, und ich war ‚angefixt‘. Es brauchte noch ein Weilchen, bis ich dahinterkam, daß der „El Sendador“ in dem Buch Old Shatterhand war, und auch Kara Ben Nemsi, und alle waren Karl May. Ich war begeistert! – Als ich ältere Karl-May-Bücher in die Hände bekam, von vor dem Krieg, hielt mich sogar die Frakturschrift mit ihren unleserlichen großen Ks, Gs und Rs und den verschiedenen Varianten von ‚s‘ nicht davon ab, diese Bücher zu verschlingen. Die richtigen Buchstaben erriet ich einfach aus dem jeweiligen Satzkontext.

So lernte ich lesen, also nicht Buchstabe für Buchstabe entziffernd, sondern so, daß sich in meinem Kopf ein innerer Film abspulte. Das war übrigens Friedrich Kittler zufolge die kulturelle Voraussetzung dafür, daß so etwas wie ein Kino entstehen konnte. Die Menschen waren darauf vorbereitet gewesen, weil sie Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, also in der Romantik, damit begonnen hatten, Bücher so zu lesen, als würden sich nicht Worte, sondern Bilder vor ihren geistigen Augen abspulen wie ein Film.

Ich habe jedes von über 70 Karl-May-Büchern gelesen. Wirklich jedes! Der Mix aus Abenteuer und christlicher Frömmigkeit prägte mich zutiefst. Es brauchte lange, bis ich aus dieser kindlichen May-Seligkeit herauswuchs. Als Mays alter ego Kara ben Nemsi in den letzten beiden Bänden des „Silberlöwen“ den Henrystutzen aus der Hand legte, um sich fortan ausschließlich den tiefsten Menschheitsfragen zu widmen, bedauerte ich das sehr, versuchte aber, mir diesen neuen Ton in Mays Werk zueigen zu machen.

Der nächste Schritt, zu Büchern, die keine Abenteuer mehr erzählten, sondern den Lesern nur staubtrockenes abstraktes ‚Wissen‘ boten, fiel mir ähnlich schwer wie einst der von den bebilderten Kinderbüchern hin zu Mays textlastigen Romanen. Während meines Studiums umkreiste ich teils eingeschüchtert, teils neugierig die dicken, so eng be- wie klein gedruckten Wälzer der Germanistik, der Theologie und der Erziehungswissenschaft, und ich fragte mich, ob es mir jemals gelingen würde, diese Expertenphrasiologie zu durchdringen und sie mir sogar so weit anzueignen, um irgendwelche Examina zu bestehen. Es ist mir tatsächlich gelungen. Und es waren nicht zuletzt Mays Reiseromane, mit denen ich die erste Stufe in diese Richtung genommen hatte.

Diesen Dank schulde ich ihm. Das Beste, was ich von ihm an dieser Stelle sagen kann: Er war ein Anachronist; wie ich.

PS (04.10.2023): Was den El Sendador betrifft, handelt es sich um eine falsche Erinnerung. Der El Sendandor ist nicht identisch mit dem Ich-Erzähler, sondern im Gegenteil der Hauptbösewicht.

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Freitag, 22. Februar 2019

Mein persönlicher Karl May I

Als Kind stand ich sehnsüchtig vor den Kinoplakaten, auf denen Pierre Brice als Winnetou und Lex Barker als Old Shatterhand posierten; es kam aber nie dazu, daß ich die Filme im Kino sehen konnte. Erst als meine Eltern einen Fernseher anschafften, konnte ich die Filme sehen, aber irgendwie war das dann nur noch enttäuschend. Die Action verlief im Zeitlupentempo, während gleichzeitig pathetische Reden geschwungen wurden. Und wenn die Darsteller mit ihren Pferden steif über die Prärie hoppelten, hatte das mit den von Karl May so fesselnd beschriebenen Ritten auf Hatahtitla und Iltschi wenig zu tun. Galopp geht anders.

Als 2016 dann „Winnetou – Der Mythos lebt“ mit Nik Xhelilaj als Winnteou und Wotan Wilke Möhring als Old Shatterhand in die Kinos kam – Regie: Philipp Stölz –, habe ich zwar den Film wieder nicht im Kino angeschaut; aber ich habe mir natürlich die DVDs besorgt, sobald sie herauskamen. Was ich da zu sehen bekam, war die übliche Enttäuschung, was die Action betrifft. Deutsche Filme können das einfach nicht! – Dabei fand ich die beiden Hauptdarsteller wirklich gut, und auch einige Nebendarsteller, u.a. Milan Peschel als Sam Hawkins, haben mir gefallen.

Es wurden auch einige wünschenswerte Korrekturen an Mays „Winnetou I“ (1893) vorgenommen. Ich habe als Kind nie verstanden, warum dieser Old Shatterhand Nscho tschi nicht heiraten wollte! Ich fand das richtig ärgerlich. Alle die dramatischen Ereignisse, die diese Weigerung auslösten, bis hin zu Nscho tschis und Intschu tschunas Tod wären nicht passiert. Mays latenter Rassismus, der in Old Shatterhands Heiratsverweigerung zum Ausdruck kam (bloß keine Mischlingskinder!), wird in der Neuverfilmug korrigiert. Im zweiten Teil, „Das Geheimnis vom Silbersee“, darf Nscho tschi ihren Old Shatterhand heiraten. Ich finde das sehr befriedigend.

Außerdem ist der von Wotan Wilke Möhring gespielte Old Shatterhand kein frommer Christ, sondern ein aufgeklärter Skeptiker. Wenn es dann im Verlauf der Filmhandlung doch noch zum Glauben bei ihm kommt, dann nicht an Christus, sondern an die magischen Kräfte der Schamanin Nscho tschi, die ihm das Leben rettet. Auch das finde ich erfreulich.

Interessanterweise wird im Film der Vater Old Shatterhands von Winnetou wegen seiner Verdienste als Vorkämpfer für die sozialen Rechte der Arbeiter zum Ehren-„Apache“ gekürt. Beide Eigenschaften aber, Old Shatterhands Religionsskeptizismus und die sozialrevolutionäre Einstellung seines Vaters, sind im Original die Eigenschaften von Klekih-petra, dem weißen Lehrer und Erzieher Winnetous, der auf der Flucht vor den Folgen seines politischen Wirkens bei den Apatschen Zuflucht gefunden hatte und schließlich beim Versuch, Winnetou das Leben zu retten, den Tod findet. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou I. KMW-IV.12, S.39ff. (Greno Verlag)) Tinka Edel, die Autorin des Buches, das der Neuverfilmung zugrundeliegt, hat also die Figur von Klekih-petra mit der von Old Shatterhand kompiliert, was, wie ich finde, eine reizvolle neue Perspektive auf die Old Shatterhand-Figur ermöglicht.

Zum Schluß wird Old Shatterhand sogar der Häuptling der Apatschen, was zwar auch der ursprüngliche Old Shatterhand von Karl May war, aber mit der von Karl May sich unterscheidenden Pointe, daß Old Shatterhand der technokratischen Zivilisation den Rücken kehrt. Fortan träumt er nicht mehr von fliegenden Restaurants und sechsstöckigen shopping malls, sondern vom Wind in Gräsern, Büschen und Baumwipfeln auf der Prärie.

Schön erzählt finde ich auch die Liebesaffäre zwischen Sam Hawkins und Belle (Henny Reents).

Was mich aber wirklich ärgert, sind diese absolut stümperhaften Angriffe der Apatschen auf die Weißen, auf die Stadt Roswell im ersten Teil, und auf das Ölfeld von Santer jr. im dritten Teil. Im ersten Teil greifen die Apatschen nachts Roswell an. Wie machen die das? Winnetou sitzt auf seinem Pferd und hält eine hell lodernde Fackel in der Hand, während er auf die nächtliche Stadt hinabblickt. Wie dämlich muß man eigentlich sein? Nichts mit Anschleichen und Strategie und so’n Zeug. Seht alle her, hier bin ich, eine lebende Zielscheibe, und damit ich noch besser von euch gesehen werden kann, trage ich diese Fackel!

Winnetou schwenkt die Fackel sogar hin und her, für den Fall, daß man ihn da unten in der Stadt noch nicht gesehen haben sollte! – Auf dieses Zeichen hin, ein blöderes Zeichen ist ihnen nicht eingefallen, treten nun die anderen Apatschenkrieger aus dem Wald hervor und, ja tatsächlich!, zünden nun auch ihre Fackeln an. Und so reiten sie alle zusammen mit ihren lodernden Fackeln, und mit viel Kriegsgeschrei, in die Stadt hinunter. Da unten scheinen sie alle zu schlafen, denn niemand ist zu sehen. Ist das zu fassen? Dabei hatten sie doch am Tag vorher noch ihr Kommen angekündigt! Wahrscheinlich denken sich die tapferen Apatschenkrieger, daß sie ihre Feinde mit ihrem Kriegsgeschrei erst noch wecken müssen.

In der Stadt haben sich natürlich alle versteckt. Aber Rattler, der fiese Bösewicht, hat ein modernes Maschinengewehr aufgestellt und wartet in aller Ruhe, bis die Apatschen nah genug herangekommen sind. Jetzt sieht man auch, warum die Apatschen Fackeln mitgenommen haben. Sie zünden mit ihnen alles mögliche an. Heuhaufen und so. Tolle Idee! Es wird jetzt taghell, bestes Büchsenlicht also, um abgeknallt zu werden. Und das macht Rattler auch, mit dem Maschinengewehr und seine Mitstreiter mit Gewehren und Revolvern. Kein Apatsche überlebt. Abgesehen natürlich von Winnetou. Es gibt ja noch zwei Teile.

Im dritten Teil gibt es einen ähnlich dämlichen Angriff auf das Ölfeld von Santer jr. Diesmal am hellichten Tage und ohne Fackeln. Die Apatschen reiten wieder ohne jede Strategie im Pulk, damit sie besser erschossen werden können, eine Attacke, mit viel Geschrei, damit die Ölarbeiter auch möglichst früh bemerken, daß sie angegriffen werden und rechtzeitig Deckung nehmen können, aus der heraus sie in aller Ruhe auf die völlig schutzlosen Apatschenkrieger schießen können, bis außer Winnetou, Old Shatterhand, Belle, Sam Hawkins und Nscho tschi niemand mehr übrig ist. Warum machen die Apatschen das so? Wer hat dieses dämliche Drehbuch geschrieben?

Und die Bösewichter? Sie sind auf schrecklich klischeehafte Weise böse. Insbesondere im zweiten Teil geht einem das dreckige Lachen der mexikanischen Banditen auf die Nerven. Denn was tun Banditen die ganze Zeit anderes als dreckig zu lachen? Jedenfalls scheint der Regisseur dieser Meinung zu sein. Der von Fahri Yardým gespielte Banditenboß El Mas Loco macht irgendeine Bemerkung, die ein Witz sein soll, aber nur seinen völligen Mangel an Intelligenz bezeugt, und natürlich lacht die ganze Bande, selbstverständlich dreckig. Alle Monologe des Banditenbosses werden von dem ständigen dreckigen Gelächter seiner Leute begleitet, es sei denn sie schweigen gerade betroffen, weil der Boß wiedermal einen von ihnen erschossen hat. – Wenn Old Shatterhand in diesem zweiten Teil nicht Nscho tschi heiraten würde, könnte man ihn, also den zweiten Teil, komplett vergessen.

Im zweiten Teil kommt Old Shatterhand übrigens in den Besitz seines berühmten Henrytutzens. Völlig unspektakulär: er nimmt ihn im Haus von Sir Henry von der Wand und sagt: „Ich brauche den jetzt mal!“

Sonst spielt der Henrystutzen eigentlich keine Rolle. Bei dem gescheiterten Befreiungsversuch von Nscho tschi bedroht Old Shatterhand mit dem Henrystutzen den Banditenboß, der sich aber nicht weiter davon beeindrucken läßt und Old Shatterhand mühelos überwältigt. Das waffentechnische Meisterstück von Sir Henry, diese Wunderwaffe, mit der, ohne nachzuladen, fünfundzwanzigmal geschossen werden kann und um die sich im ganzen Wilden Westen Legenden ranken, wird dann von Nscho tschie als Keule benutzt, mit der sie Loco von hinten niederschlägt.

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Donnerstag, 21. Februar 2019

Karl May: Alles Gold der Indianer

Noch einmal zurück zu „Winnetous Erben“ (1910): Zu der Zeit, in der Mays Roman spielt, zu Beginn des 20. Jhdts., sind die amerikanischen Ureinwohner fast vollständig vernichtet. Trotzdem imaginiert May einen großen indianischen Aufbruch in eine glänzende Zukunft, garniert mit einem drohenden Angriff von 4.000 – sage und schreibe viertausend! – feindlichen Indianern, die ihren fortschrittsorientierten Brüdern (und Schwestern) am Mount Winnetou in den Rücken fallen wollen, um ihre Erb- und Todfeinde, Old Shatterhand an der Spitze, zu vernichten.

Als wenn die damals noch lebenden Nachkommen von Sitting Bull und Chief Joseph nicht andere Probleme gehabt hätten!

Karl May war, bevor er „Winnetous Erben“ schrieb, tatsächlich ein einziges Mal in seinem Leben selbst in US-Amerika gewesen, 1908, zwei Monate, und hatte dort ein Indianerreservat besucht. Nun findet sich folgende Stelle in seinem letzten Buch, wo er die Bewohner von „Mount Winnetou“ beschreibt und ihnen ein außerordentlich sauberes und intelligentes Aussehen attestiert:
„Nirgends die indolenten Papusengesichter, denen man anderwärts begegnet. Und auch nirgends auf den Gesichtern der Ausdruck der stummen Klage oder jenes nationalen Trübsinnes, der auf jede Freude und auf alles Glück verzichtet zu haben scheint.“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.418 (Greno Verlag))
Man fragt sich, wo May die „indolenten Papusengesichter“ anderswo gesehen haben mag. In jenem Indianerreservat? – Es gibt ein einziges Photo Mays in einem Indianerreservat. Dort schaut er, halb verdeckt durch einen aus Baumrinden bestehenden ärmlichen Tipi, etwas verschämt in die Kamera, neben ihm ein Tuscarora-Indianer, und vor ihnen, an den Tipi gelehnt, zwei Kinder.

Die Indianerfamilie auf diesem Photo sieht nicht so aus, als hätte sie Kenntnisse von den enormen Goldmengen, die „alle, alle Stämme der Indianer zu liefern“ haben, um mit ihnen eine Riesen-Winnetoustatue auf einsamer Bergeshöhe zu errichten: „Ein Denkmal von purem, glänzendem Golde!“ – Aber wahrscheinlich hält sie dieses Gold ja auch geheim, in „all den Bonanzen, Lagern und Nuggetverstecken“, wie es die Indianer „jahrhundertelang“ zu tun pflegten? Und lebt lieber in Armut, als sich mit seiner Hilfe das Leben zu erleichtern? (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; vgl. KMW-V.7, S.205 (Greno Verlag))

Die Riesengoldstatue ist nicht May-Shatterhands Idee, sondern die Idee fehlgeleiteter Freunde und Verehrer, der Brüder Old Surehand und Apanatschka und ihrer Söhne. Und May-Shatterhand will zusammen mit Tatellah-Satah die Ausführung der Idee verhindern. Ihre Perversität wird also von den wirklichen Winnetou-Freunden durchaus durchschaut. Aber niemandem kommt es in den Sinn, daß die Ausführung selbst, also die Heranschaffung der vielen ‚Zentner‘ des dazu nötigen Goldes, irgendwelche Probleme bereiten könnte. Daß die indianischen Nationen tatsächlich jederzeit Zugriff auf reiche verborgene Bodenschätze haben, wird nicht in Frage gestellt.

Irgendwie mißlingt hier Winnetous Verherrlichung – nicht nur im Sinne der Errichtung einer Statue, sondern auch im Sinne eines weltumfassenden Clans der Winnetous und der Winnetahs – aufs Gründlichste. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen historischen Misere erscheint sie einfach als unangemessen, und dieses Buch wäre wohl besser nicht geschrieben worden. Auf den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg ist Mays Winnetou allemal besser aufgehoben als im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts.

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Mittwoch, 20. Februar 2019

Karl Mays evolutionsbiologischer Symbolismus

Karl May behauptet in seinem Spätwerk immer wieder, alle seine Reiseerzählungen seien symbolisch zu verstehen und verfolgten einen gemeinsamen Plan: die Darstellung der Entwicklung des Menschengeschlechts aus der biologischen Materie zum Geist bzw., auf individueller Ebene, des Gewaltmenschen zum Edelmenschen (nicht zu verwechseln mit Nietzsches Übermenschen). Eine seiner Figuren in „Und Friede auf Erden“ (1901/1904), der ‚Governor‘, beschreibt das symbolische Muster: Karl May bzw. sein alter ego „Kara Ben Nemsi“ oder „Old Shatterhand“ bereise die Welt, „um Rassen, Völker und Einzelmenschen auf ihre Psychologie hin anzusehen“, und entkleide „sie dann ihrer sichtbaren Körper“, um sie „in ganz anders gemeinten Gestalten zu beschreiben“. (Vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.364 (Greno Verlag))

In seiner Autobiographie (1910) faßt Karl May die symbolische Struktur seiner Reiseerzählungen so zusammen:
„Meine ‚Reiseerzählungen‘ haben, wie bereits erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prairie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen.“ (Karl Mays Werke: Mein Leben und Streben. KMW-VI.3, S.209 (Greno Verlag))
Mays Romanfiguren bilden also keine individuellen Charaktere, sondern stehen für Prinzipien oder Funktionen im Rahmen der Menschheitsentwicklung. Zu diesen Funktionen gehören ‚Gut‘ und ‚Böse‘, aber nicht im Sinne eines individuellen Schicksals, das sich auf welchen Umwegen auch immer in die eine oder andere Richtung hin entwickelt, sondern als Momente eines göttlichen Heilsplans. So heißt es in „Ardistan und Dschinnistan“ (1909):
„Denn, aufrichtig gesagt, ist doch wohl ein jeder Mensch in Beziehung auf das, was er innerlich zu leben und zu kämpfen hat, ein größerer oder kleinerer Mir von Ardistan, der zwischen dem unsichtbaren Mir von Dschinnistan und dem Verräter ‚Panther‘ um den leeren Titel kämpft, den nur derjenige auszufüllen vermag, der den Letzteren durch den Ersteren bezwingt.“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan II; KMW-V.6, S.415 (Greno Verlag))
Der „Mir von Ardistan“ ist der Gewaltmensch, der sich zum Edelmenschen entwickeln soll, der „Mir von Dschinnistan“ nimmt hier, wie überhaupt alle Herrscher in Mays Spätwerk, die Stelle Gottes ein, und der „Panther“, der zweitgeborene Sohn eines arabischen Scheiks, ist der unverzichtbare Antagonist, an dem sich der Protagonist zum Edelmenschen emporentwickeln muß. Dabei ist in „Dschinnistan“ der Funktionalismus der Romanfiguren so weit auf die Spitze getrieben, daß die Menschen keine Namen mehr tragen, sondern nur noch Funktionsbezeichnungen, wie Abd el Fadl, ein Dschinnistani, erläutert:
„Dort (nämlich in Dschinnistan – DZ) ist der Name wahr. Er stimmt mit dem Wesen, mit der Tätigkeit, mit dem Beruf (überein). Ich heiße Abd el Fadl, und so ist es auch wirklich mein Beruf, ein ‚Diener der Güte‘ zu sein. Meine Tochter wird Merhameh genannt; bald werdet ihr sehen, daß sie nur von der Barmherzigkeit geleitet wird, die gewohnt ist, Alles mit zu tragen, auch wenn es verschuldet ist. So wird unser Herrscher ganz kurz nur Mir genannt; aber das, was dieses Wort besagt, das ist er auch in voller Wirklichkeit. Mir ist die Abkürzung des Wortes Emir, was so viel wie Fürst, Herr, Herrscher bedeutet. Das ist er im vollsten Sinne des Wortes. Wozu da noch andere Namen?“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; KMW-V.5, S.452 (Greno Verlag))
‚Dschinnistan‘ ist nicht umsonst das Land der ‚Geister‘ (Dschin). Seine Bewohner sind wie die Engel der christlichen Mythologie nur Funktionsträger. Sie sind nichts für sich selbst.

Frühe Symbolisierungsebenen

Lange hatte man Karl May nicht geglaubt, daß auch seine früheren Reiseromane in diesem Sinne symbolisch zu lesen seien. Man glaubte vielmehr, hier handele es sich nur um die Rückprojektion eines alternden Schriftstellers, der lediglich versuchte, seine früheren, unter dem Druck von Terminen und aufgrund von Geldnot in fliegender Hast niedergeschriebenen und ohne Korrektur abgelieferten Schriften mit zweifelhafter literarischer Qualität im nachhinein aufzuwerten. Als dann aber Mays lange verschollenen „Geographischen Predigten“ (1875) wiederentdeckt wurden, mußte man einsehen, daß an Mays Behauptungen etwas dran war.

Eigentlich ist es verwunderlich, daß man so lange daran gezweifelt hatte, denn allein schon „Weihnacht“ (1897), ein teilweise in Deutschland, teilweise in Nordamerika spielender Reiseroman, ist schon vom Titel her an Symbolik kaum noch zu überbieten. Die zeitliche Nähe zu „Am Jenseits“ (1899) und die thematische Nähe zu „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) macht diesen noch klassischen Reiseroman geradezu zu einem Vorläufer von Mays im engeren Sinne symbolischem Spätwerk.

Insgesamt beschränkt sich aber der Symbolismus der klassischen Reiseromane auf holzschnittartige Charakterbeschreibungen vor dem Hintergrund von symbolisch aufgeladenen Landschaftsbildern und Naturereignissen, die zugleich als Hintergrund für ebenso ausführliche religiöse Reflexionen über Gottes Wirken auf Erden dienen und nicht selten in Gebet und Meditation münden. Das Ganze ist von einem ständigen christlich-humanistischen Anschauungsunterricht hinsichtlich Gottes Güte und Allmacht durchzogen und erzählt von der Erfolglosigkeit bösartiger Absichten und der Belohnung christlicher Tugenden.

Besonders liebte es Karl May, die Bestrafung der Übeltäter an ihren eigenen Worten auszurichten, und zwar durch unmittelbares Eingreifen Gottes. Wenn die Bösewichter etwa ihre Untaten hartnäckig leugneten und zur Bekräftigung Flüche ausstießen wie „Ich will verdammt sein, wenn ...“, – dann orientierte sich Gottes Strafe exakt am Wortlaut: „Ich will zerschmettert sein, wenn ...“, – also wird der Übeltäter durch einen Sturz in einen Abgrund zerschmettert; „Ich will erblinden, wenn ...“, – also stürzt bei einem Blizzard ein Schuppen über dem Übeltäter ein und ein herabstürzender Balken raubt ihm das Augenlicht; „Ich will vom Blitz getroffen werden, wenn ...“, – also wird der Übeltäter von einem Blitz getroffen; „Ich will zerschmettert und ertränkt sein, wenn ...“, – also werden dem Übeltäter in einer Folge von Unfällen Arme und Beine gebrochen und anschließend ertrinkt er in einem passender Weise in der Nähe befindlichen See oder Meer.

Autors Feder – Gottes Finger

Aber auch Karl May selbst, in Gestalt seiner alter egos Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, macht oft, von höherer Einsicht geleitet, unheilvolle Prophezeiungen, die sich dann erfüllen. In „Winnetous Erben“ (1908-1909) spricht ihn seine Frau darauf an:
„Dein Wort, daß diese Quadern wohl eher in die Erde verschwinden werden, als daß du Lampions und Feuerwerk duldest, hat sich wie ein Gewicht auf mich gelegt. Es kommt bei dir so häufig vor, daß das, was du sagst, in Erfüllung geht, selbst wenn andere es für vollständig unmöglich halten. Zuweilen ist diese Erfüllung eine geradezu wörtliche. Und als du vorhin sprachst, hatte ich das Gefühl, als ob das, was du sagtest, eine solche Prophezeiung sei, aus dir selbst herausgestiegen, ohne alle Ahnung, woher es kommt.“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S. 414 (Greno Verlag))
Und natürlich wird sich Mays „Wort“ erfüllen, und die Winnetou-Statue wird in den Höhlen unterhalb des Platzes vorm Schleierfall versinken.

Hier haben wir es mit einem weiteren symbolischen Moment zu tun. Nicht nur die diversen alter egos treten als Stimme Gottes auf, auch der Erzähler Karl May selbst überhöht die Struktur seines Plots zu einem Gottesbeweis: nichts in den unwahrscheinlichen Handlungsverläufen verläuft zufällig, denn hier wirkt des Autoren Feder als Gottes Finger. Karl May als Metatron. Wenn sich die verschiedenen Ereignisstränge wiedermal besonders auffällig, sich zum Guten auflösend, bündeln, wird das auf Gottes Plan zurückgeführt. So auch in „Weihnacht“, wo Old Shatterhand zwei Reiter trifft, einer der beiden ist der von ihm gesuchte Pelzhändler und Familienvater Hiller, den er eigentlich aus der Gefangenschaft bei den Upsarokahs hatte befreien wollen, und der andere ist Sannel, ein befreundeter Westmann, dessen gestohlenes Gewehr er noch vor wenigen Wochen in der Hand gehalten hatte und den er für tot gehalten hatte, dem er aber just in dem Moment begegnet, wo er sich gerade auf der Spur des Diebes befindet.

Es falle ihm gar nicht ein, schreibt May-Shatterhand, diese „Begegnung mit Hiller und dem alten Amos Sannel für Zufall zu halten“:
„Gott hatte es gewollt, daß wir uns treffen sollten. Der Weg, welchen sie zurückgelegt hatten, wäre von keinem nur einigermaßen erfahrenen Westmanne eingeschlagen worden; er war so außerordentlich beschwerlich, daß es ein außer ihnen liegender Wille gewesen sein mußte, der sie veranlaßt hatte, vom Poison- und Agir-Creek so schnurgerade über das vollständig pfadlose Gebirge herüberzukommen. Die Verhältnisse lagen so, daß sie grad in diesem Augenblicke und grad auf diesem Wege hatten kommen müssen, um da zu sein, wo sie gebraucht wurden.“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.446 (Greno Verlag))
Immer wieder meditieren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi auf diese Weise über ‚Fügung‘ und ‚Zufall‘ und sichern so gleichermaßen die Glaubwürdigkeit des Erzählten, wie das Erzählte Gottes Handeln bezeugt. Letztlich funktioniert nämlich Gottes Handeln nach demselben Prinzip wie Mays Erzählungen: „Der Mensch glaubt, zu schieben, und er wird geschoben“ (vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.144 (Greno Verlag)), – als wäre er eine Figur in einem Karl-May-Buch.

Maskeraden

Als symbolisch könnte man auch die Maskeraden nehmen, die May-Shatterhand so gerne spielt. Old Shatterhand gibt sich als jemand anderes aus, z.B. als ein gewisser „Meier“, der Bücher schreibt, und man hält ihn dann für einen Simpel bzw. für ein Greenhorn, den keiner ernstzunehmen braucht. So wie Mr. Watter in „Weihnacht“, der sich seiner angeblichen Bekanntschaft mit Old Shatterhand brüstet, ohne zu ahnen, daß dieser ihm gegenüber sitzt:
„Ihr seid nicht einmal ein Greenhorn; Ihr wißt weder Gix noch Gax von dem Wildwest und seinem Leben; ich aber bin ein Westmann, welcher sich in jeder Lage auskennt; ja, ich kann dreist behaupten, daß ich mich selbst vor Leuten wie Winnetou, Old Shatterhand, Old Firehand und anderen nicht zu verstecken brauche; und da setzt Ihr Euch her zu mir und sprecht von Fehlern, die ich gemacht haben soll, und macht mir Vorschläge, über die ich eigentlich mich gar nicht ärgern, sondern lieber grad hinaus lachen sollte! Ihr habt doch wohl auch einmal sagen hören, daß der Mops den Mond anbellt? Nun, der Mond bin ich, und das weitere wollt Ihr Euch gefälligst selbst denken!“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.164 (Greno Verlag))
Symbolisch könnte man solche Szenen nehmen, weil May hier einen Hinweis darauf gibt, daß sich hinter „Old Shatterhand“ noch etwas anderes verbirgt als Karl May selbst, der seine Identität mit dem Protagonisten leugnet: nämlich ein ‚Geist‘ auf der Suche nach seiner ‚Seele‘; oder besser: eine ‚Seele‘ auf der Suche nach ihrem ‚Geist‘, also ein Mensch auf dem Weg zum Edelmenschen. Wir haben es zwar tatsächlich mit einer Maskerade zu tun, aber eben anders, als es sich der auf die erzählte Handlung fixierte Leser denkt.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß sich Mays Symbolismus vor allem dort ausprägt, wo May als Ich-Erzähler auftritt. In „Der Schatz im Silbersee“ (1890/1891), wo Old Shatterhand nicht mit dem auktorialen Erzähler ‚identisch‘ ist, fehlt diese symbolisch überhöhte Betrachtungsweise von Landschaften, Menschen und Ereignissen. Hier darf dann auch der meines Wissens einzige Afroamerikaner in Mays Büchern auftreten, der keine alberne Babysprache sprechen muß. Was schon dem Karl-May-erfahrenen Leser auffällt, wird von dem Autor selbst übrigens als ein besonders bemerkenswerter Umstand eigens erwähnt: „Er sprach sein Englisch wie ein Weißer.“ (Karl Mays Werke: Der Schatz im Silbersee; KMW-III.4, S.53 (Greno Verlag))

Weiterhin ist erwähnenswert, daß der Superbösewicht Cornel Brinkley, dem gleich mehrere Parteien wegen seiner Übeltaten hinterher sind und der immer wieder entkommen kann, am Ende von den Utah-Indianern zu Tode gemartert wird, ohne daß dieses sonst so symbolträchtige ‚Gottesurteil‘ Teil der Handlung wäre. Es wird lediglich am Rande vermerkt, wie etwas, daß es auch noch zu berichten gibt. Angesichts Brinkleys gewaltsamen Todes werden keine der sonst üblichen erbaulichen Gespräche geführt – weder mit dem Gemarterten (er ist ja schon tot) noch unter den Gefährten, die fassungslos vor den Marterpfählen stehen –, abgesehen von einer lakonischen, summarisch gehaltenen Bemerkung des auktorialen Erzählers über die ebenfalls zu Tode gemarterten Tramps, zu denen auch Brinkley gehörte: „Die Tramps hatten geerntet, was und wie von ihnen gesäet worden war.“ (Karl Mays Werke: Der Schatz im Silbersee; KMW-III.4, S.573 (Greno Verlag))

Erbauungsliteratur

Der von May behauptete Symbolismus war also schon in den klassischen, von einem Ich-Erzähler getragenen Reiseromanen durchaus vorhanden, nur eben noch nicht so ausgefeilt und durchdacht wie in seinem Spätwerk, sondern als plumpe Erbauungslektüre. Ironischerweise zeigt sich Karl May gegenüber der allzu aufdringlichen Frömmigkeit dieser Art ‚Literatur‘ als äußerst empfindlich, was vielleicht gerade der Nähe seiner eigenen Schriften zu ihr geschuldet ist, wie ganz besonders in folgenden erstaunlich hellsichtigen Textstellen deutlich wird. In „Weihnacht“ versucht ein „Prayer-man“ dem Ich-Erzähler ausgerechnet ein von ihm, nämlich dem Ich-Erzähler selbst verfaßtes Weihnachtsgedicht anzudrehen, das übrigens leitmotivisch „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) vorwegnimmt. Es wäre auch interessant, einmal genauer die Funktion des Weihnachtsgedichts mit dem Gedicht, das in „Und Friede auf Erden“ eine zentrale Rolle bei der Heilung des Missionars Waller spielt, zu vergleichen.

Jetzt aber zu den erwähnten Textstellen. Über den „Prayer-man“ heißt es:
„... das zudringliche Zurschautragen der Frömmigkeit ist mir verhaßt, und wenn jemand vor Salbung förmlich überfließt wie dieser Mann, so zuckt es mir in der Hand, und ich möchte ihm am liebsten mit einer Salbung anderer Art antworten. Ich kann mir da nicht helfen: ich muß dabei stets an die Fabel vom Wolf im Schafsfell denken.“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.125 (Greno Verlag))
Diese Szene ist geradezu paradigmatisch für den Konflikt zwischen Literatur und Erbauung, der in Mays Empörung zum Ausdruck kommt:
„Die Sprache soll für das Höchste, was der Mensch besitzt, die edelsten ihrer Worte haben; hier aber war es trivialisiert. Ein einziges kleines Heftchen hatte einen Titel, der mir wenigstens nicht widerwärtig war; er lautete: ‚Sechs ergreifende Festgedichte für Weihnachten, Ostern und Pfingsten.‘“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.126 (Greno Verlag))
Und genau in diesem Heftchen stößt der fassungslose Ich-Erzähler auf sein eigenes Weihnachtsgedicht!

Es ist vor allem der Titel des Weihnachtgedichts, der in Mays Augen sein tiefempfundenes religiöses Anliegen pervertiert: „Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem!“ (Vgl. Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.127 (Greno Verlag)) – Diese Entstellung eines literarischen Werks durch ein verunstaltendes Etikett erinnert an „Kiss-y-Darr“ (persisch für Schundroman) in „Im Reiche des silbernen Löwen IV“ (1903), einem eigentlich edlen Pferd, aber mißhandelt und verunstaltet, das an einem Wettrennen teilnimmt und schließlich, seiner wahren Natur entsprechend, die ‚literarische‘ Konkurrenz in diesem Wettrennen aussticht. (Vgl. Karl Mays Werke: Im Reiche des silbernen Löwen IV; KMW-V.4, S.463 (Greno Verlag)) Wir haben es in beiden Fällen mit dem Versuch einer Ehrenrettung von Mays früheren Kolportageromanen zu tun, die von seinen Verlegern so umfangreich ‚redigiert‘ worden waren, daß er seine eigene Autorenschaft in ihnen nicht mehr wiedererkennen konnte. Die Szene mit dem Prayer-man zeigt also eine weitere thematische Nähe von „Weihnacht“ mit Mays Spätwerk.

Interpretationsspielräume

Das Problem bei dem ganzen Symbolismus ist, daß es zu seinem Verständnis eines Schlüssels bedarf, z.B. der intimen Kenntnis von Gottes Heilsplan, um die in seinen Reiseromanen beschriebenen Ereignisse zu deuten. Was aber, wenn man sich einfach eines anderen Schlüssels bedient und so Mays christlich-humanen Symbolismus ad absurdum führt? Das hat Arno Schmidt in seinem Buch „Sitara oder der Weg dorthin“ (1963) getan. Er deutete einfach alle Ereignisse in den Reiseromanen psychoanalytisch. Anstatt die vielen Landschaftsbeschreibungen als Entwicklungsweg von den Sumpfniederungen oder der Wüste hin zu hochaufragenden Gebirgen spirituell-moralisch zu deuten, nimmt Arno Schmidt sie einfach als Sexsymbole. Wenn Mays Protagonisten in Schluchten eindringen, aus denen zudem noch kleine feuchte Rinnsale herausrieseln, dann haben wir es Schmidt zufolge mit purer Pornographie zu tun. Ebenso wenn wilde Pferde zugeritten werden, daß der Schweiß in Flocken nach allen Seiten spritzt, während es aus zusammengepreßter Pferdelunge ächzt, seufzt und stöhnt.

Weitere Details erspare ich mir. Dennoch: gegen Arno Schmidts Deutungen läßt sich nichts einwenden. Wenn Mays Werk nach eigenem Wunsch allererst symbolisch zu verstehen ist, ist jede Deutung möglich. Alle Schlüssel, die passen, sind einander gleichwertig.

Evolutionsbiologischer Symbolismus

Was mich an Mays Spätwerk tatsächlich interessiert, ist aber etwas anderes. May hat hier den Versuch unternommen, die Entwicklung des Menschen auf drei bis vier verschiedenen Entwicklungsebenen zu beschreiben: biologisch-animalisch in Form von Tier-Mensch-Vergleichen und von Tier-Mensch-Beziehungen, kulturell in Form von Begegnungen mit anderen Kulturen und individuell in Form von symbolisch zu deutenden Biographien (Gewaltmensch/Edelmensch). Hinzu kommen ebenfalls symbolisch aufgeladene geographische Fiktionen wie z.B. der „Mount Winnetou“ oder „Sitara“ oder „Ardistan“ und „Dschinnistan“. Diese drei- bis vierfach ausdifferenzierte Entwicklungssymbolik ähnelt meinem eigenen anthropologischen Ansatz. Darauf möchte ich im Folgenden differenzierter eingehen.

Was das Verhältnis von Mensch und Tier betrifft, ist Karl May Darwinist und Nietzscheaner. Der Mensch ist nicht nur aus dem Tierreich hervorgegangen, sondern selbst noch ein Tier, und er muß sich erst zum Menschen entwickeln. In seinen Büchern stehen Menschen und Tiere immer wieder auf Augenhöhe zueinander und sind in Freundschaft und Liebe herzlich einander zugetan. Unvergessen die Tierfreundschaften zwischen Old Shatterhand und Hatahtitla, zwischen Kara Ben Nemsi und Rih und zwischen Kara Ben Nemsi und Dojan!

Das hat aber seine Tücken. Tier-Mensch-Vergleiche sind immer heikel. In einem Germanistikseminar zur „Unendlichen Geschichte“ tadelte unser Dozent einmal Michael Endes Tiervergleiche, mit denen er die Menschen abwerte oder beleidige. So hat z.B. der Antiquar Karl Konrad Koreander ein Bulldoggengesicht. Ich habe nie so recht verstanden, was an solchen Vergleichen nicht in Ordnung ist. Was hätte unser damaliger Dozent wohl zu Walter Moersens „Rumo“ gesagt, in dem es um das Schicksal eines menschenähnlichen, auf zwei Beinen laufenden Hundevolks geht? In diesem Roman wimmelt es von menschlichen Hundegesichtern, nicht nur in Worten, sondern sogar gezeichnet!

Auch Karl May geht nicht nur unbekümmert mit solchen Vergleichen um, sondern bedient sich ihrer sogar systematisch:
„Das Thierreich ist höchst wohlhabend an psychologischen Characteren, und viele von ihnen sind so scharf gezeichnet, daß sie als Typen Eingang in die vergleichende Redeweise des alltäglichen Lebens gefunden haben. ... Es giebt oft menschliche Physiognomieen, welche mit denen gewisser Thiere eine auffallende Aehnlichkeit haben, und eine genaue Beobachtung ergiebt dann stets, daß diese Aehnlichkeit sich nicht blos auf das Aeußere, sondern auch auf den Character erstreckt.“ (Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel; KMW-I.1.A-29:31, S.247 (Greno Verlag))
Auch hier haben wir natürlich wieder die Reduktion des Individuellen auf eine Gattungseigenschaft, nämlich der bestimmter Tierarten. Aber abgesehen davon dienen die Tiere May hier als Stilmittel, um die Entwicklungsdimension hervorzuheben: das Animalische, das von May mit der ‚Seele‘ gleichgesetzt wird, soll sich zum ‚Geist‘ emporentwickeln. Die Biologie bildet also die materielle Grundlage des Geistigen. Deshalb vergleicht May auch immer wieder ‚niedrig‘ stehende Menschen, also Bösewichter, mit Tieren, und zwar derart, daß sie noch ‚tiefer‘ stehen als Tiere, etwa Hunde oder Pferde: ein Mensch, der seinen Hund oder sein Pferd quält, steht tiefer als sie. Man denke z.B. an Nietzsche, der der Legende nach einen Kutscher daran zu hindern versuchte, sein Pferd zu peitschen.

Gerade diese Entwicklungsdimension kann aber auch ganz andere ‚moralische‘ Inhalte bekommen. So heißt es z.B. in dem „Buch der Liebe“ (1876?), das May redaktionell betreut hatte, mit Bezug auf schwarze Afrikaner und Papua:
„Aus tausend zuverlässigen Zeugnissen geht hervor, daß die geistigen Unterschiede zwischen den höchsten Thieren und den niedersten Menschen geringer sind, als diejenigen zwischen den höchsten und niedersten Menschen.“ (Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel; KMW-I.1.A-32, S.407 (Greno Verlag))
Diese Textstelle stammt wahrscheinlich nicht aus Mays eigener Feder, der im Gegenteil immer die Gleichheit aller Menschen vor Gott hervorgehoben hat. Tatsächlich soll er viele üble Stellen dieses Machwerks gestrichen haben. Man mag sich angesichts des eben Zitierten nicht vorstellen, wie übel diese Stellen gewesen sein müssen. Solche verfänglichen Tier-Mensch-Vergleiche liegen aber natürlich nahe, wenn es darum geht, die Menschen biologisch und kulturell nach ihrer Entwicklungsstufe zu klassifizieren. Und May ist solchen Fallstricken nicht immer entgangen.

Dies um so weniger als zum von May vertretenen evolutionsbiologischen Symbolismus auch die Abwertung des Materiellen und Körperlichen gehört. Dieses bildet nämlich nicht einfach die materielle Grundlage der Entwicklung zum Edelmenschen, sondern es soll ausdrücklich überwunden und als bloße Hülle abgelegt und zurückgelassen werden:
„Die Heimat des Körpers ist das Grab; der andere, edlere Teil des Menschen aber ist im Jenseits daheim, aus welchem er stammt.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.402 (Greno Verlag)
May löst die Doppelaspektivität von Körper und Leib, von Außen und Innen zugunsten des Inneren auf. Alles Wesentliche ist Innen, das, was man mit den Augen sehen kann, ist bloß äußerlich:
„Das innerliche ist die Hauptsache, denn es gehört der Ewigkeit an. Das äußerliche ist Nebensache, weil es sich aus Vergänglichem zusammensetzt.“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; KMW-V.5, S.335 (Greno Verlag))
Die Materie ist also zwar überall symbolisch aufgeladen und ein Zeichen für Gottes Handeln: Naturereignisse, Geographie und Biologie ‚predigen‘ von seiner Güte und seiner Allmacht. Aber für sich selbst hat sie keinen Wert, so wenig wie die Menschen in Dschinnistan, die ja auch ‚nur‘ Engel sind, also Funktionen in Gottes Heilsplan. Karl May hat demnach keine Vorstellung vom Körperleib.

Und damit unterscheidet sich Mays Entwicklungssymbolik von der Entwicklungslogik, wie ich sie hier in meinem Blog vertrete. Die Perspektive dieser Entwicklungslogik liegt nicht in der Überwindung des Individuellen und Materiellen, wie bei Karl May, sondern in der Individualität und damit im versuchten Ausgleich und nicht in der Überwindung der verschiedenen Entwicklungsprozesse, die einen Menschen ausmachen. Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Verstand wird von May grundlegend anders beantwortet als von mir. Insofern ähnelt Mays Ansatz doch nicht meinem eigenen. Die planetarisch-kosmische Entwicklungsperspektive ist dieselbe. Nicht aber die Perspektive auf das, was das Menschliche darin ausmacht.

May sucht in allem das Große Ganze, wie er es in dem Bild von den Niagarafällen beschreibt, als den Erie-See, von dem aus der Niagara River in den Abgrund stürzt und „in der Tiefe in hundert und aberhundert Völker, Stämme, Herden, Rotten und Banden zerfällt“. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S.66ff. (Greno Verlag)) Das Individuum gilt ihm nichts außerhalb dieser Funktion für „das noch mächtigere, das noch herrlichere Volk“, dort, wo sich die Myriaden zerstäubter Wassertropfen wieder zum Ontario-See vereinen. Mir aber geht es um das fallende Individuum selbst, um „die Stäubchen, Tropfen, Wellen und Wasser“ (Winnetou IV; KMW-V.7, S.279 (Greno Verlag)), und um die Beziehung zwischen den Individuen, die nicht stellvertretend über ein ‚Volk‘ verwirklicht werden kann.

Trotz dieser schwerwiegenden Differenz zwischen Mays evolutionsbiologischem Symbolismus und meinen drei Ebenen der Entwicklung des Menschen gehört Mays Konzept in die Ahnenreihe, die zu meinem eigenen anthropologischen Ansatz führt. Alle ‚Weltanschauungen‘, die das Mensch-Weltverhältnis als ein Ganzes konzipieren, aus dem man nicht einzelne Momente analytisch wegdenken kann, ohne die Menschlichkeit des Menschen zu beschädigen, gehören in diese Ahnenreihe. Zu dieser Ahnenreihe zähle ich Alexander von Humboldts „Kosmos“ mit seiner „physischen Weltanschauung“ und Helmuth Plessners Ästhesiologie. Es läßt sich in Mays „Geographischen Predigten“ das gleiche Anliegen wiedererkennen, das auch Alexander von Humboldts Kosmogonie zugrundeliegt. Allerdings bleibt festzuhalten, daß Alexander von Humboldt den christlichen Rassismus von Karl May längst weit hinter sich gelassen hatte, so daß Mays evolutionsbiologischer Symbolismus als ein Rückfall hinter Humboldts „Kosmos“ gewertet werden muß. Tatsächlich hatte Humboldt nichts mit dem Rassebegriff anfangen können, ein Begriff, den er in seiner Unbestimmtheit und Vagheit für ungeeignet hielt, der Individualität der Menschen bzw. der Vielfalt in der „Einheit des Menschengeschlechts“ gerecht zu werden. (Vgl. „Kosmos“, Teilband 1, 1993, S.323)

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Dienstag, 19. Februar 2019

Karl May: Christlicher Humanismus, Patriotismus und Völkerkunde

Ich hatte unlängst das Bedürfnis, mal wieder ein Karl-May-Buch zu lesen. Aus gegebenem Anlaß – europaweit laufen die Menschen Populisten hinterher, die die nationale Karte spielen und mit der Angst vor Überfremdung Wählerstimmen einsammeln – hatte ich daran denken müssen, wie Karl May in seinen Reiseromanen immer alles ‚Deutsche‘ im besten Licht erscheinen ließ und alle schlechten oder wenigstens fragwürdigen Charakterzüge gerne bestimmten Völkern bzw. Ethnien zuordnete, den Armeniern und Levantinern beispielsweise:
„Ich habe es schon gesagt und sage es hier wieder, natürlich im allgemeinen gesprochen und den Durchschnitt gemeint, daß mir ein Kurde zehnmal lieber ist als ein Armenier, obgleich der letztere ein Christ ist. Wenn und wo auch im Oriente irgend eine Niederträchtigkeit geschieht, da hat gewiß ein Levantiner, ein Grieche oder, was noch viel leichter denkbar ist, ein habichtsnäsiger Armenier die Hand im Spiele.“ (Karl Mays Werke: Im Reiche des silbernen Löwen II. KMW-IV.23, S.476 (Greno Verlag))
In US-Amerika sind es meistens die Yankees, die die Rolle des Bösewichts übernehmen müssen; oder auch die Mormonen. Aber fast nie sind es die Deutschen, obwohl es schon damals nicht wenige davon in dieser Weltregion gab.

„... diese Halbblutleute ...“

Noch schlimmer ist es in Karl Mays Augen allerdings, wenn jemand ein ‚Mischling‘ ist und keiner Ethnie zugeordnet werden kann, weil er seiner ‚Erkenntnis‘ zufolge immer nur die schlechten Eigenschaften der beiden Elternteile erbt. Sogar in seinem letzten, zum Spätwerk zählenden Buch „Winnetous Erben“ (1910) läßt sich der unter dem Pseudonym „Mr. Burton“ reisende May von seiner Frau darauf ansprechen:
„‚Ein Mischling!‘ sagte sie. ‚Du bist doch immer der Meinung, daß diese Halbblutleute meist nur die schlimmen Eigenschaften ihrer Eltern erben?‘“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.306 (Greno Verlag))
Kein Wunder, daß Old Shatterhand Nscho tschi nicht heiraten wollte!

Einer dieser „Halbblutleute“, auf die sich Mrs. Burton, alias Frau May, bezieht, ist Mr. Paper, der Sekretär des Denkmalskomitees, ein unangenehmer Mensch und insgesamt ein Schurke. Allerdings geht es noch schlimmer. Antonius Paper ist immerhin ein ‚halber‘ Weißer. Aber mehr als ein Schurke, geradezu ein Unmensch, ist der Kantinenwirt, der ein ‚halber‘ Afroamerikaner ist, „mit indianischen Gesichtszügen, aber aufgestülpter Negernase und echter Mohrenhaut. Einen treffenderen Typ der Brutalität als ihn konnte man sich wohl kaum denken“. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S.560 (Greno Verlag))

In dem kurzen Wortwechsel zwischen Mrs. Burton/May und Mr. Burton/May wird mit keinem Wort erwähnt, daß auch Old Surehand und Apanatschka und deren Söhne, weitere wichtige Akteure in „Winnetous Erben“, ebenfalls ‚Mischlinge‘ sind, aber keineswegs Schurken oder Unmenschen wie Mr. Paper und der Kantinenwirt. Wie so viele andere inhaltliche Inkonsistenzen wird das einfach so hintereinander wegerzählt und weder explizit noch implizit im Handlungskontext reflektiert; wenn man mal davon absieht, daß Mr. Burton/May seiner Frau mit einem knappen „Ja, meist.“ antwortet. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.306 (Greno Verlag)) Also nicht alle Mischlinge sind erblich belastet, sondern nur die meisten.

Allerdings bleibt auch Old Surehand, was seine Herkunft betrifft, zwar an anderer Stelle, aber eben doch, nicht verschont. In „Old Surehand III“ wird er von einem Utah-Häuptling darüber belehrt, daß die „Bleichgesichter“, die „rotes Blut in den Adern haben“, die „Schlimmsten“ seien, „die es giebt“. Immerhin beeilt sich der diese Szene belauschende Shatterhand/May, dem Leser zu versichern, daß Old Surehand weder das Äußere „und noch viel weniger den Charakter eines Mestizen“ habe. (Vgl. Karl Mays Werke: Old Surehand III. KMW-IV.20, S.388 (Greno Verlag))

Gegen Indianer hatte Karl May ansonsten nichts. Zwar gibt es auch hier die ewigen Bösewichter in Gestalt der Sioux, der Komantschen und Kiowas, aber an deren Bosheit sind nicht sie selbst schuld, sondern die Weißen. Die Apatschen sind aber immer gut.

Angesichts des obigen Zitats zum halbindianischen afroamerikanischen Kantinenwirt fällt es mir schwer, etwas zu Mays Ausführungen zu dunkelhäutigen Menschen zu schreiben. Einerseits tritt er, immer wieder mit Verweis auf seinen christlichen Hintergrund, als entschiedener Gegner der Sklaverei auf, aber seine Beschreibungen dunkelhäutiger Menschen sind gespickt mit geradezu peinlichen Stereotypien. Und in einem von May als Redakteur verantworteten Buch mit dem biblischen Titel „Das Buch der Liebe“ (1876?) ist sogar von den „affenartigen Negerstämme(n) vom obern Nile“ die Rede und davon, daß der „Papua dem Thiere näher steht, als den geistig hochentwickelten Bewohnern unserer Culturländer“. (Vgl. Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel, S.406-407 (Greno Verlag)) Allerdings ist zweifelhaft, ob es sich dabei um direkt aus Mays Feder stammende Textstellen handelt.

In „Die Sklavenkarawane“ (1889/1890) finden sich widersprüchliche Stellen: Im Gespräch mit einem arabischen Emir bestätigt Schwarz, der deutsche Protagonist, dem Emir, daß dessen in früher Kindheit entführter Sohn, ein „guter Mensch“ sei und „überhaupt nicht so tief (steht) wie ein gewöhnlicher Neger“. (Vgl. Karl Mays Werke: Die Sklavenkarawane. KMW-III.3, S.266 (Greno Verlag)) – „Er weiß“, so Schwarz, „daß er den Schwarzen überlegen ist; dieses Bewußtsein spricht sich in seinem Wesen, in seiner Erscheinung aus ...“ (Vgl. ebenda)

An anderer Stelle aber dominiert dann wieder Mays christlicher Humanismus, in dem alle Menschen vor Gott gleichgestellt sind. Dort heißt es bezüglich zweier Afrikaner, die sich in Lebensgefahr begeben, um ihre in Gefangenschaft geratenen Verwandten und Freunde zu befreien:
„‚Das sind nun zwei lebende Beispiele von den verachteten Menschen, denen man in Europa nachsagt, daß sie fast auf der Stufe der Tiere stehen‘, sagte Schwarz. ‚Unter tausend Weißen würde sich wohl kaum einer finden, der für seine Landsleute das wagte, was diese beiden wackern Kerls riskieren.‘“ (Karl Mays Werke: Die Sklavenkarawane. KMW-III.3, S.584 (Greno Verlag))
Solche Stellen finden sich auch in anderen Karl-May-Büchern immer wieder, etwa in „Old Surehand“ (1894/95), wo Shatterhand/May zunächst im besten christlich-humanistischen Eifer dem unverbesserlichen Rassisten Old Wabble eine Predigt über die Gleichheit der Menschen hält:
„Ich beabsichtigte, aufrichtig, aber nicht höflich zu sein. Ich bin nicht höflich gegen Leute, welche ihre Nebenmenschen verachten. Wenn man Euch einmal in die Erde scharrt, wird aus Eurem weißhäutigen Leibe grad und genau so ein stinkiger Kadaver wie aus einer Negerleiche. Das werdet Ihr wohl zugeben, und nun habt die Güte und zählt mir einmal Eure sonstigen Vorzüge auf! Es sind alle, alle Menschen Gottes Geschöpfe und Gottes Kinder, und wenn Ihr Euch einbildet, daß er Euch aus einem ganz besonders kostbaren Stoffe geschaffen habe und daß Ihr sein ganz besonderer Liebling seiet, so befindet Ihr Euch in einem Irrtum, den man eigentlich gar nicht begreifen kann.“ (Karl Mays Werke: Old Surehand I. KMW-IV.18, S.241-242)
An späterer Stelle im selben Buch bescheinigt Old Shatterhand dem „Neger Bob“, um den es in dieser Auseinandersetzung mit Old Wabble ging, nicht etwa nur ihm selbst, sondern auch seiner „Rasse“ wegen, beschränkte geistige Fähigkeiten, auf die er sich bei der Suche nach einer Oase im Liano Estacado nicht verlassen kann, obwohl er, also Bob, dort zuhause ist:
„Zwar war der Neger bei mir, aber, die geistigen Schwächen seiner Rasse überhaupt nicht gerechnet, war er stets nur mit Bloody-Fox durch die Wüste geritten, hatte sich auf diesen verlassen und konnte mir also nicht die geringste Auskunft geben.“ (Karl Mays Werke: Old Surehand I. KMW-IV.18, S.317-318)
Predigten zur Gleichheit aller Menschen wechseln sich immer wieder mit platten Rassismen ab. Man hat den Eindruck, hier weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut, als wären Mays Gehirnhälften lobotomisiert. Zwei Autoren statt einem. Könnte man meinen. Letztlich also nur eine weitere inhaltliche Inkonsistenz.

Andererseits aber sind Afroamerikaner in Mays Reiseromanen immer durch eine überbordende kindliche Emotionalität gekennzeichnet, und sie sprechen ihre eigene Sprache, also englisch, so unbeholfen, als müßten sie sie erst noch lernen. Kinder haben ja bekanntlich im Christentum vor Gott einen besonderen Status und ganz ähnlich eben auch Völker oder ‚Rassen‘ im Kindheitsmodus (die ‚Erwachsenen‘ sind natürlich immer die christlichen Nationen). Auch die Indianer vergleicht Mr. Burton/May in „Winnetous Erben“ mit Kindern, die endlich erwachsen werden müssen, damit sie kulturell mit den Europäern auf Augenhöhe sind:
„Habt ihr begriffen, daß es keinem Volk erlaubt ist, Kind zu bleiben? – Daß ihr einst Kinder waret und nur darum dem Untergange zugetrieben wurdet, weil ihr nicht aufhören wolltet, Kinder zu sein? Habt ihr begriffen, daß ihr als Kinder eingeschlafen seid, um nun nach schweren Niagaraträumen als Männer zu erwachen?“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.286 (Greno-Verlag))
In „Old Surehand III“ rechtfertigt Shatterhand-May die Bestrafung einiger Übeltäter pädagogisch. Kinder bedürfen einer besonderen pädagogischen Aufmerksamkeit:
„Wie denke ich überhaupt über die Prügelstrafe? Sie ist für jeden Menschen, der noch einen moralischen Halt besitzt, fürchterlich; sie kann sogar diesen letzten Fall vollends zerstören. Aber der Vater straft sein Kind, der Lehrer seinen Schüler mit der Rute, um ihm grad diesen moralischen Halt beizubringen!“ (Karl Mays Werke: Old Surehand III. KMW-IV.20, S.307 (Greno Verlag))
Genauso erklärt Karl May dem jungen Adler die mißliche Lage der Indianer als eine Form göttlicher Pädagogik. Und genau in dieser Tradition steht auch der Kolonialismus. Der angebliche Kindheitsstatus der indigenen Völker galt als päpstlicherseits hochoffiziell beglaubigte Rechtfertigung für die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft im Dienste der Plünderung der Ressourcen ihrer Länder, was man auch einfach ‚Kolonialismus‘ nennt. Diese ‚Christianisierung‘ (via Kolonialisierung) der indigenen Bevölkerung, also die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zum Zwecke ihrer kulturellen Weiterentwicklung, erwies sich für die spanischen Konquistadoren als wesentlich kostengünstiger als die Sklavenhaltung. Insofern verträgt sich Mays christlicher Humanismus mit gelegentlichem Rassismus eigentlich ganz gut. Auch wenn die weiter oben erwähnte Stelle aus dem „Buch der Liebe“ nicht aus Mays eigener Feder stammt: sie paßt zu seiner christlichen Evolutionserzählung.

Um May eine Ehre zu erweisen, muß ich hier festhalten, daß er zumindestens kein ausgeprägtes Judenfeindbild propagiert. Zwar müssen Juden in Mays Heimat- und Fortsetzungsromanen immer wieder als geldgierige Kulisse für das Elend und die Armut der notleidenden Bevölkerung herhalten; aber abgesehen von diesen damals üblichen Antisemitismen kommen Juden bei ihm durchaus auch als Opfer vor, und nicht selten setzen sich dann Mays Protagonisten für sie ein. Es gibt auch eine beachtliche Antwort Mays auf den Leserbrief eines jungen Juden, der sich von seinen Romanen zum Christentum bekehrt fühlte und konvertieren wollte. May riet ihm davon ab, da die jüdische Religion nicht weniger wertvoll sei als das Christentum und zudem die Religion seiner Väter sei.

Von Stinktöpfen und andren üblen Gasen

Wie mir das so durch den Kopf ging, fiel mir eins seiner Bücher ein, in dem die deutschen Protagonisten zunächst nicht als moralisch überlegene Athleten und Alleskönner in Erscheinung treten, sondern eher als Karikaturen aus der deutschen Provinz, die niemals die Grenzen ihrer Heimat verlassen hatten, dann aber plötzlich den wunderlichen Entschluß fassen, eine Reise nach China zu machen. Bei diesem Buch handelt es sich um „Kong-Kheou“ (1888/89) bzw. „Der blaurote Methusalem“.

Ich hatte plötzlich Lust dieses Buch, das ich zuletzt als kleiner Junge gelesen hatte, erneut zu lesen, weil ich dachte, daß es vielleicht ganz unterhaltsam wäre, mit meinem heutigen multikulturellen Horizont, Karl May dabei zuzusehen, wie er die deutsche Provinz vor dem Hintergrund einer Reise durch China karikiert. Denn um Karikaturen handelt es sich bei den Figuren um den „Methusalem“ herum, dem Diener Gottfried mit Wasserpfeife und Oboe, dem Kapitän Turnerstick, der allen Worten ein ‚-ing‘ oder ‚-ang‘ anhängt, in der Meinung, er spräche so chinesisch, und dem dicken Holländer Aardappelenbosch, dessen größte Sorge es ist, er könne seinen Appetit verlieren, dabei aber Mahlzeiten verschlingt, die für ganze Hochzeitsgesellschaften ausgereicht hätten. Der „Methusalem“, ein ewiger Student, der alles studiert, aber niemals ein Examen absolviert hat und eben deshalb von seinen Kommilitonen Methusalem genannt wird, wird von Karl May mit folgenden Worten beschrieben:
„Er trug einen blausamtenen Schnürenrock, eine rote Weste, weiße Lederhosen und hohe, lacklederne Stulpenstiefel, an denen ungeheure Sporen klirrten, welche mexikanischen Ursprunges waren und deren Räder einen Durchmesser von drittehalb Zoll besaßen. Auf den lang herabwallenden, dichten Locken saß ein rotgoldenes Cerevis. Die Hände trug er weltverächtlich in den Hosentaschen. Zwischen den Zähnen hielt er das Mundstück einer persischen Wasserpfeife, deren Rauch er in dicken Schwaden von sich stieß.“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.11 (Greno Verlag))
Die beschriebene Bekleidung gehört Karl May zufolge zum damaligen Studentenoutfit. Sein Diener Gottfried – Methusalem ist sehr wohlhabend und kann sich nicht nur ein ausgiebiges Studium, sondern auch einen Diener leisten – ist mit derselben Bekleidung ausgestattet. Er trägt auch würdevoll die erwähnte Wasserpfeife hinter ihm her. Voran schreitet Methusalems Hund, ein Neufundländer, und dieser trägt ein leeres Bierglas im Maul. Dieses Bierglases wegen und aufgrund seiner Vorliebe für das dazugehörige Getränk kam der Methusalem mit seiner blaurot verfärbten Akoholikernase übrigens zu seinem Beinamen.

Als sich der ‚blaurote‘ Methusalem auf den Weg nach China macht, weigert er sich, auf seine Studentenkleidung zu verzichten. Auch sein Auftreten mit Diener, Wasserpfeife und Hund bleibt in der Fremde ganz dasselbe. Als ihm der bereits erwähnte Kapitän, der sich als ein chinesischer Mandarin verkleidet, vorschlägt, sich etwas Passenderes, vielleicht sogar etwas Chinesisches anzuziehen, man könne ihn sonst vielleicht auslachen, verweist Methusalem stolz auf seine deutsche Gesinnung:
„Ich habe wenig Lust, aus reiner Angst meine deutsche Abstammung zu verleugnen.“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.37 (Greno Verlag))
Es sind also eigentlich alle Zutaten für eine Groteske über den Patriotismus vorhanden, aber ich hatte vergessen, vor welchem Hintergrund sie sich abspielt. Bei der erneuten Lektüre wurde mir klar, daß mir mein Gedächtnis einen Streich gespielt hatte. Die eigentliche Groteske stammt nicht vom Autor, sondern richtet sich, von ihm unbeabsichtigt, gegen ihn selbst. Denn alles, was die seltsame Truppe auf ihrer Reise durch China erlebt, spielt sich vor dem Hintergrund einer beständigen Abwertung der chinesischen Kultur und Geschichte ab. Trotz aller satirischen Überzeichnung erweist sich die deutsche Kultur und Gesinnung der chinesischen als himmelhoch überlegen. Tatsächlich macht die lächerliche Erscheinungsweise der Reisegruppe die Herabsetzung der Chinesen nur noch schlimmer, denn sie können selbst solchen Witzfiguren nicht das Wasser reichen. Letztlich entpuppt sich der bierselige deutsche Student doch noch als ein weiterer Superheld, dem alles gelingt und dem nichts und niemand, schon gar kein Chinese, etwas anhaben kann.

‚Der‘ Chinese schlechthin wird immer wieder als feige und als grausam beschrieben, demgegenüber die Taten des Methusalem und seiner Truppe um so leuchtender erstrahlen. Die vieltausendjährige Kultur ist für Karl May nur der Beleg für deren Greisenhaftigkeit. Selbst Kinder sind schon Greise und spielen keine unschuldigen Kinderspiele, sondern lassen lieber ihrer Grausamkeit freien Lauf, wenn sie Grillen gegeneinander kämpfen lassen:
„Er (der „chinesische Knabe“ – DZ) ist ein Erwachsener in verkleinertem Maßstabe. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen. Mit Behagen sieht er, wie sie sich die Glieder abbeißen, sich gräßlich verstümmeln und selbst dann noch kämpfen, wenn sie nur noch aus dem gliederlosen Rumpfe bestehen. Ist es da ein Wunder, daß die Grausam- und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muß?“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.223 (Greno Verlag))
Ich will die Reihe solcher ethnologischen ‚Einsichten‘ nicht unnötig verlängern. Allerdings kann ich mich nicht enthalten, abschließend noch eine interessante ‚Studie‘ zu den chinesischen „Stinktöpfen“ zu erwähnen. Der Methusalem befindet sich mit seinen Leuten auf einer Piratendschunke. Es ist ihnen gelungen, sich aus der Kajüte, in der sie eingeschlossen gewesen waren, zu befreien und nun wiederum die Piraten unter Deck einzuschließen. Um die Piraten endgültig zu entwaffnen und zu fesseln, entscheiden sie sich, die an Bord vorhandenen Stinktöpfe einzusetzen. Darauf folgt eine ethnologische Erörterung des Autors:
„Nur der Chinese kann auf eine solche Erfindung verfallen. Der Räuber eines jeden andern Landes wagt sein Leben. Der chinesische Pirat besiegt seine Gegner mit Gestank!“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.204 (Greno Verlag))
Sogar unter Räubern gibt es also kulturelle Rangunterschiede, und die niedrigste Stufe nimmt dabei der chinesische Pirat ein. Was Karl May damals selbstverständlich nicht wissen konnte: Nur ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen seines Buches, im ersten Weltkrieg, werden die den Chinesen kulturell angeblich so überlegenen Deutschen etwas erfinden und zur Anwendung bringen, das die chinesischen Stinktöpfe an perverser Grausamkeit bei weitem übertrifft: das Senfgas. Weitere Hinweise auf die üblen Praktiken im ‚Umgang‘ mit Gas gerade in Deutschland erspare ich mir an dieser Stelle.

„Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns ...“

Obwohl Karl May das mit dem Senfgas also nicht hatte wissen können, ändern sich seine ‚Reisebeschreibungen‘ in seinem Alterswerk gegen Ende des 19. Jhdts. Zu Beginn des 20. Jhdts. erscheint sogar mit „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) ein Buch, in dem er mit solcherart kulturellem Überlegenheitswahn, wie er in „Der blaurote Methusalem“ zum Ausdruck kommt, abrechnet. In „Und Friede auf Erden“ schildert Karl May in fünf Kapiteln eine Reise nach China, die in Kairo beginnt und irgendwo an der chinesischen Küste endet. Auf dieser Reise begegnen sich verschiedene Nationalitäten: Araber, Chinesen, US-Amerikaner, Engländer, Deutsche, Malaien etc. Eigentlich erinnert dieses Buch nicht so sehr an einen Reiseroman als an ein Theaterstück in fünf Akten. Es passiert sehr wenig, aber es wird sehr viel geredet oder besser: gepredigt. Tatsächlich erinnern die Auftritte der verschiedenen Repräsentanten der Völkerfamilie an die „Geographischen Predigten“ (1875), die nach Aussage Karl Mays die Grundlage seiner Reiseerzählungen bildeten.

Allerdings kann sich Karl May auch hier nicht der für ihn anscheinend unvermeidlichen Verallgemeinerungen beim Beschreiben von Menschen enthalten. So heißt es z.B. von Sejjid Omar, der später sein Diener wird – Karl May tritt im Buch als Ich-Erzähler auf – :
„Sein Gesicht zeigte zwar auch den Zug von Verschlagenheit, der allen Eseltreibern eigen ist, aber er war nicht aufdringlich und lag seinem Geschäfte in einer Weise ob, als werde Jedem, der sich seines Esels bediente, eine ganz besondere Gunst erwiesen.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; (vgl. KMW-V.2, S.2 (Greno Verlag))
Man erfährt also, daß es geraten ist, sich vor Eselstreibern in Acht zu nehmen, denn sie sind alle ‚verschlagen‘, also hinterhältig. Aber immerhin: Sejjid Omar ist zwar zunächst ein Eselstreiber, doch ist er, wie sich dann herausstellt, bildungsfähig und letztlich das Musterbeispiel eines edlen und stolzen Arabers.

Trotz des das ganze Buch durchziehenden humanitären Anliegens einer übergreifenden Völkerfreundschaft unterläuft May aber bei der Beschreibung zweier Protagonisten seines Buches, Fu und Tsi, der Lapsus, Persönlichkeitsmerkmale gegen Rassemerkmale auszuspielen, nämlich in dem Sinne, daß sich ‚Geist‘ und asiatische Gesichtszüge gegenseitig ausschließen:
„Was ihre Gesichter betrifft, so trat der mongolische Schnitt derselben nur wenig hervor. Bei dem Sohne mochte diese Milderung eine Folge der Jugend sein; bei dem Vater aber war es ganz entschieden der Wirkung geistiger Tätigkeit zuzuschreiben, daß ihn fast nur der echt chinesisch gepflegte Bart als einen ‚Sohn der Mitte‘ verriet.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.4 (Greno Verlag))
Karl May arbeitet also weiterhin mit solchen Stereotypen, auf die er anscheinend einfach nicht verzichten kann. Trotzdem gibt er sich große Mühe, immer wieder klarzustellen, daß alle Völker und Nationalitäten einander gleichgestellt sind und keines als geringer gewertet werden darf als ein anderes: „Kein Mensch, kein Stand, kein Volk“ dürfe „sich rühmen, von Gott mit irgend einer speziellen Auszeichnung begnadet worden zu sein“. (Vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.24 (Greno Verlag))

Wenn doch mal was Negatives über eine spezielle Kultur gesagt werden muß, dann sind es nicht mehr die Chinesen, sondern es ist das kalte, selbstsüchtige Abendland, gegen das sich Karl Mays Verdikt richtet (vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.9 (Greno Verlag)); oder es sind die ‚Kaukasier‘ als Rassebegriff, unter den Karl May alle Kolonisatoren faßt, die meinen, den Rest der Welt nicht nur beherrschen, sondern auch missionieren zu müssen, weil sie sich ihm kulturell so außerordentlich überlegen fühlen:
„Man beobachte den Europäer, wie er aus hochmütigen Augen im fremden Lande um sich schaut! Der Schiffsjunge, welcher jetzt wegen unheilbarer Dummheit vom Maate mit dem Tau verhauen wird, geht eine Viertelstunde später mit dem erhebenden Bewußtsein an das Land, daß alle Malaien und Chinesen Penangs nicht wert seien, ihm die ochsenledernen Stiefel zu schmieren, und zwar nur deshalb, weil er ein Kaukasier aus Dorf Klapperschnalle ist!“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.203 (Greno Verlag))
Einem chinesischen Wissenschaftler gegenüber leistet Karl May als Autor gewissermaßen Abbitte für alle in seinen früheren Büchern verbrochenen Verbalinjurien gegenüber den eingangs erwähnten Armeniern und Levantinern, oder jener Entgleisung, als die man den „blauroten Methusalem“ bezeichnen muß:
„Ich liebe Ihre Nation. Ich liebe sie nicht weniger als jede andere Rasse. Auch mein Beruf ist, Bücher zu schreiben, ganz so, wie der Ihrige. Und ich versichere Ihnen, daß ich niemals imstande sein werde, ohne vorherige, genaue Prüfung mein eigenes Volk auf Kosten anderer Völker herauszustreichen!“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.170 (Greno Verlag))
May spricht hier von der Zukunft, in der er nicht mehr imstande sein wird, solche Bücher zu schreiben; was immerhin offen läßt, daß er früher schon solche Bücher geschrieben hat. So kann diese Textstelle immerhin als eine Entschuldigung für vergangene Sünden gelten.

Um noch einmal auf den ersten Weltkrieg zu sprechen zu kommen: Tatsächlich war es u.a. Karl Mays Absicht gewesen, mit „Und Friede auf Erden“ auch auf den deutschen Kaiser einzuwirken, von dem er wußte, daß er seine Bücher las. Er hoffte, ihn dahingehend beeinflussen zu können, nicht für den Krieg zu rüsten, sondern sich für den Frieden einzusetzen, was natürlich ziemlich naiv gewesen ist. Von dieser Naivität zeugt auch der durchgehende Predigtton der endlosen Monologe, aus denen die ‚Gespräche‘ bestehen und die die nacheinander auftretenden Repräsentanten der verschiedenen Völker halten, sich gegenseitig ihres Respekts und ihrer Liebe zueinander versichernd, alles getragen von einer frommen Gottgläubigkeit, die ich mir damals als kleiner Junge sehr zueigen gemacht hatte und auf die ich heute als ‚gereifter‘ Erwachsener mit Befremden zurückblicke.

Zu Beginn hatte ich bei meiner erneuten Karl-May-Lektüre nur nach ein wenig Leseunterhaltung gesucht. Nach „Kong-Kheou“ und „Und Friede auf Erden“ aber regt sich in mir mehr als die zunächst erwarteten multikulturellen Reminiszenzen, mit denen ich gerechnet hatte. Vor dem Hintergrund der spezifisch deutschen Geschichte des 20. Jhdts. erscheinen mir Karl Mays Reiseabenteuer, sowohl die ethnischen Stereotypen der Klassiker wie auch die symbolisch überhöhten und religiös überladenen ‚Märchen‘ seines Spätwerkes als seltsam unangemessen. Gerade auch weil Karl May selbst seine klassischen Reiseerzählungen im Nachhinein symbolisch verstanden wissen wollte, als Vorarbeiten zu seinem eigentlichen Spätwerk, wirken sie verniedlichend und verharmlosend und halten dem tatsächlichen historischen Drama des beginnenden 20. Jhdts. nicht stand.

Dennoch liefert Karl May mit seinem Spätwerk, zu dem auch „Und Friede auf Erden“ gehört, eine bemerkenswerte Perspektive auf das, was wir seit Darwin ‚Evolution‘ nennen, obwohl dieser Begriff selbst gar nicht von Darwin stammt. May hatte immer wieder behauptet, seine Reiseromane seien gar keine Abenteuergeschichten, sondern symbolisch verklausulierte Erzählungen über die Entwicklung des Menschengeschlechts, nämlich im Sinne einer christlich-mystisch gefärbten Evolutionserzählung. Wir hätten es also bei seinen Reiseromanen nicht mit einzelnen Werken, sondern vielmehr mit einem Gesamtwerk zu tun, das von den Niederungen der afrikanischen Wüste bzw. amerikanischen Savanne hinaufsteigt in die wahlweise vorderasiatischen Gebirgsregionen oder Rocky Mountains seines Spätwerkes. Spätestens seit der Wiederentdeckung der „Geographischen Predigten“ (1875) muß man May zugestehen, daß er mit seinen Büchern tatsächlich einen solchen Plan verfolgt hatte, unabhängig davon wie man die literarische Qualität seiner Umsetzung in den Reiseromanen beurteilen mag.

Aber was sein Spätwerk betrifft, hatte schon Arno Schmidt konzediert, daß May mit ihm symbolische Meisterwerke geschaffen habe. Ich möchte hier zum Schluß nur eine kleine, aber wirklich köstliche Szene aus „Ardistan und Dschinnistan“ (1909) wiedergeben, in der May den abendländischen Imperialismus aufs Korn nimmt. Im Sumpfland von Ardistan begegnet der Ich-Erzähler dem Häuptling eines Stammes, einem urweltlichen Riesen, etwa so wie man sich zu Beginn des 20. Jhdts. den Neanderthaler vorgestellt haben mag. Kaum sieht dieser Riese den Fremden, erklärt er ihn zu seinem Eigentum und untersucht sein Gepäck, um sich diverse nützliche Gegenstände einzustecken. Als May, also der Ich-Erzähler, ihn fragt, mit welchem Recht er das mache, erklärt dieser ihm, daß das hier so Gesetz sei. Jeder Fremder, der in sein Land komme, werde automatisch zu seinem Eigentum. Der Häuptling und sein Stamm betreiben also eine Art invertierten Kolonialismus. Sie verlassen zwar nicht ihr Land, um andere Länder und Völker zu unterwerfen. Aber sie warten, bis die anderen Völker in Form von einzelnen Fremden zu ihnen kommen, und diese unterwerfen sie dann. Letztlich also dasselbe mit umgekehrtem Vorzeichen.

Im weiteren Verlauf der Episode gelingt es May, den Häuptling mit Hilfe seines Lassos und einer List gefangen zu nehmen. Als der Häuptling protestiert, entgegnet May, daß er sich nur an die Gesetze seines eigenen Landes halte, so wie auch der Häuptling. Und nach den Gesetzen seines eigenen Landes gehören alle Fremden, in deren Länder er seinen Fuß setze, ihm:
„So paß auf: Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns, und zwar mit Allem, was er besitzt.“
„Wirklich?“ fragte er erstaunt.
„Ja,“ antwortete ich mit besonderer Betonung.
„Da seid ihr schöne Kerle! Pfui Teufel!“
(Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan; vgl. KMW-V.5, S.88 (Greno Verlag))
Sogar das Christentum wird nicht verschont: „Wir sind Christen.“ gesteht May dem Häuptling gegenüber ein.
„Das will ich glauben! Denn wohin die Christen nur kommen, da stehlen sie Alles, Alles weg, was sie nur finden.“
„Woher weißt du das?“
„Das weiß doch die ganze Welt! Erst sind die Christen Bettler gewesen, blutarme Leute, haben gar nichts gehabt und ihren Hunger von den Aehren des Getreides gestillt. Isa Ben Marryam, der Stifter ihrer Religion, hat nicht einmal gehabt, wohin er sein Haupt legte. Und heute gehören ihnen die meisten Länder und die meisten Völker der Erde. Das Alles haben sie sich zusammengeraubt und zusammengestohlen, teils mit List und teils mit Gewalt. Und sie sind hiermit nicht etwa zufrieden, sondern sie rauben und stehlen weiter, und sie werden mit ihren Listen und Gewalttaten nicht eher aufhören, als bis sie Alles besitzen, was es auf Erden gibt! Und zu diesen Räubern, Mördern und Gaunern gehörst auch du?“
„Ja.“
„Pfui Teufel!“
(Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; vgl. KMW-V.5, S.89 (Greno Verlag))
Letztlich muß der Häuptling zugeben, daß seine eigenen Gesetze auch nicht besser sind als die Gesetze in Mays Heimat, also in Europa. Die beiden werden Freunde, und Mays damalige Leser im Kaiser-Wilhelm-Land, das selbst gerade erst in den Kreis der Kolonialmächte aufgestiegen war (inklusive dem Genozid an den Herrero und Nama), hatten hier eine Lektüre zu verdauen, die ihnen sicher noch eine Weile schwer im Magen gelegen haben dürfte.

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Freitag, 1. Februar 2019

Elephanten

Es gibt eine alte südasiatische Parabel, in der blinde Männer einen Elephanten untersuchen, und jeder wendet sich einem bestimmten Körperteil zu. Einer meint, der Elephant sei eine Säule (Bein), ein anderer, er sei ein Speer (Stoßzahn), wieder ein anderer, er sei eine an einer Leine befestigte Bürste (Schwanz) usw. Man könnte das Ganze noch ein wenig auf die Spitze treiben und behaupten, daß die blinden Männer nur über einen einzigen Sinn verfügen, den Tastsinn, und alle anderen Sinne, nicht nur der Sehsinn, ausgeschaltet sind. Sie können also den Elephanten nicht nur nicht sehen, sondern auch nicht hören, nicht riechen und seine Wärme nicht wahrnehmen. Damit wäre der ganze lebendige Leib der Männer fast vollständig anästhesiert und wir hätten eine moderne Parabel über die heutigen Naturwissenschaften.

Aber nein! – Eigentlich müßten wir sogar noch einen Schritt weitergehen. Stellen wir uns vor, die Männer verfügten über überhaupt keine funktionierenden Sinne; nicht einmal über den Tastsinn. Ihr einziger Zugang zum Elephanten bestünde in Apparaten, mit denen sie verkabelt sind, so daß sie ihren Gehirnen auf elektrischem Wege Input über den Elephanten liefern. Der Input besteht aus Informationen, die durch Experimente mithilfe von Instrumenten gewonnen werden, die den Elephanten veranlassen, zu reagieren. Diese ‚Reaktionen‘ können auf physiologischer Ebene oder auf der Verhaltensebene erfolgen, oder einfach im Abtasten (mit Hilfe von Lasern oder Sonaren) bestehen. Das einzige Kriterium, mit dessen Hilfe die Informationen ausgewertet werden, besteht in mathematischen Modellen. Was von diesen mathematischen Modellen nicht erfaßt wird, wird auch nicht ‚wahrgenommen‘.

Jetzt stellen wir uns vor, dieser Elephant wäre unendlich groß, also das Universum, und zugleich unendlich klein, also subatomar. Jetzt hätten wir die Erkenntnisebene der modernen Naturwissenschaft erreicht: lauter total anästhesierte Männer (und Frauen), deren Weltbild auf der mathematischen Verarbeitung von maschinell gewonnenen Informationen beruht.

Die Mathematik ist meiner Ansicht nach deshalb so geeignet, unsinnliche Verfahren der Wirklichkeitswahrnehmung zu unterstützen, weil sie nichts abbildet. Sie besteht ausschließlich aus logischen Konstrukten und ist völlig bedeutungsleer. Genau das macht sie für eine universelle Anwendung so brauchbar, denn wir müssen das, was wir mit ihrer Hilfe erforschen, nicht kennen, um es für neue Technologien verfügbar zu machen.

Es ist offensichtlich, daß diese mathematischen Modelle noch weniger ‚Wirklichkeit‘ erfassen als jene blinden Männer der ursprünglichen Parabel, die den Elephanten immerhin betasten können. Aber überlegen wir weiter: Der von den blinden Männern betastete Elephant könnte ein von seiner Herde ausgestoßener einzelgängerischer Bulle sein, der kurz davor ist, die Geduld mit den blinden Männern zu verlieren, und im nächsten Moment über sie herfallen wird.

Da die Mathematik völlig leer ist und lediglich aus logischen Konstrukten besteht, bearbeiten wir mit ihrer Hilfe das Universum, wie vor einigen Jahren, als man erkenntnishalber ein paar klitzekleine Singularitäten künstlich herstellte, nur um zu sehen, was passiert, ohne daß wir auch nur im entferntesten eine Ahnung davon haben, welches Ungeheuer wir da möglicherweise wecken.

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