„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 20. Februar 2019

Karl Mays evolutionsbiologischer Symbolismus

Karl May behauptet in seinem Spätwerk immer wieder, alle seine Reiseerzählungen seien symbolisch zu verstehen und verfolgten einen gemeinsamen Plan: die Darstellung der Entwicklung des Menschengeschlechts aus der biologischen Materie zum Geist bzw., auf individueller Ebene, des Gewaltmenschen zum Edelmenschen (nicht zu verwechseln mit Nietzsches Übermenschen). Eine seiner Figuren in „Und Friede auf Erden“ (1901/1904), der ‚Governor‘, beschreibt das symbolische Muster: Karl May bzw. sein alter ego „Kara Ben Nemsi“ oder „Old Shatterhand“ bereise die Welt, „um Rassen, Völker und Einzelmenschen auf ihre Psychologie hin anzusehen“, und entkleide „sie dann ihrer sichtbaren Körper“, um sie „in ganz anders gemeinten Gestalten zu beschreiben“. (Vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.364 (Greno Verlag))

In seiner Autobiographie (1910) faßt Karl May die symbolische Struktur seiner Reiseerzählungen so zusammen:
„Meine ‚Reiseerzählungen‘ haben, wie bereits erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prairie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen.“ (Karl Mays Werke: Mein Leben und Streben. KMW-VI.3, S.209 (Greno Verlag))
Mays Romanfiguren bilden also keine individuellen Charaktere, sondern stehen für Prinzipien oder Funktionen im Rahmen der Menschheitsentwicklung. Zu diesen Funktionen gehören ‚Gut‘ und ‚Böse‘, aber nicht im Sinne eines individuellen Schicksals, das sich auf welchen Umwegen auch immer in die eine oder andere Richtung hin entwickelt, sondern als Momente eines göttlichen Heilsplans. So heißt es in „Ardistan und Dschinnistan“ (1909):
„Denn, aufrichtig gesagt, ist doch wohl ein jeder Mensch in Beziehung auf das, was er innerlich zu leben und zu kämpfen hat, ein größerer oder kleinerer Mir von Ardistan, der zwischen dem unsichtbaren Mir von Dschinnistan und dem Verräter ‚Panther‘ um den leeren Titel kämpft, den nur derjenige auszufüllen vermag, der den Letzteren durch den Ersteren bezwingt.“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan II; KMW-V.6, S.415 (Greno Verlag))
Der „Mir von Ardistan“ ist der Gewaltmensch, der sich zum Edelmenschen entwickeln soll, der „Mir von Dschinnistan“ nimmt hier, wie überhaupt alle Herrscher in Mays Spätwerk, die Stelle Gottes ein, und der „Panther“, der zweitgeborene Sohn eines arabischen Scheiks, ist der unverzichtbare Antagonist, an dem sich der Protagonist zum Edelmenschen emporentwickeln muß. Dabei ist in „Dschinnistan“ der Funktionalismus der Romanfiguren so weit auf die Spitze getrieben, daß die Menschen keine Namen mehr tragen, sondern nur noch Funktionsbezeichnungen, wie Abd el Fadl, ein Dschinnistani, erläutert:
„Dort (nämlich in Dschinnistan – DZ) ist der Name wahr. Er stimmt mit dem Wesen, mit der Tätigkeit, mit dem Beruf (überein). Ich heiße Abd el Fadl, und so ist es auch wirklich mein Beruf, ein ‚Diener der Güte‘ zu sein. Meine Tochter wird Merhameh genannt; bald werdet ihr sehen, daß sie nur von der Barmherzigkeit geleitet wird, die gewohnt ist, Alles mit zu tragen, auch wenn es verschuldet ist. So wird unser Herrscher ganz kurz nur Mir genannt; aber das, was dieses Wort besagt, das ist er auch in voller Wirklichkeit. Mir ist die Abkürzung des Wortes Emir, was so viel wie Fürst, Herr, Herrscher bedeutet. Das ist er im vollsten Sinne des Wortes. Wozu da noch andere Namen?“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; KMW-V.5, S.452 (Greno Verlag))
‚Dschinnistan‘ ist nicht umsonst das Land der ‚Geister‘ (Dschin). Seine Bewohner sind wie die Engel der christlichen Mythologie nur Funktionsträger. Sie sind nichts für sich selbst.

Frühe Symbolisierungsebenen

Lange hatte man Karl May nicht geglaubt, daß auch seine früheren Reiseromane in diesem Sinne symbolisch zu lesen seien. Man glaubte vielmehr, hier handele es sich nur um die Rückprojektion eines alternden Schriftstellers, der lediglich versuchte, seine früheren, unter dem Druck von Terminen und aufgrund von Geldnot in fliegender Hast niedergeschriebenen und ohne Korrektur abgelieferten Schriften mit zweifelhafter literarischer Qualität im nachhinein aufzuwerten. Als dann aber Mays lange verschollenen „Geographischen Predigten“ (1875) wiederentdeckt wurden, mußte man einsehen, daß an Mays Behauptungen etwas dran war.

Eigentlich ist es verwunderlich, daß man so lange daran gezweifelt hatte, denn allein schon „Weihnacht“ (1897), ein teilweise in Deutschland, teilweise in Nordamerika spielender Reiseroman, ist schon vom Titel her an Symbolik kaum noch zu überbieten. Die zeitliche Nähe zu „Am Jenseits“ (1899) und die thematische Nähe zu „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) macht diesen noch klassischen Reiseroman geradezu zu einem Vorläufer von Mays im engeren Sinne symbolischem Spätwerk.

Insgesamt beschränkt sich aber der Symbolismus der klassischen Reiseromane auf holzschnittartige Charakterbeschreibungen vor dem Hintergrund von symbolisch aufgeladenen Landschaftsbildern und Naturereignissen, die zugleich als Hintergrund für ebenso ausführliche religiöse Reflexionen über Gottes Wirken auf Erden dienen und nicht selten in Gebet und Meditation münden. Das Ganze ist von einem ständigen christlich-humanistischen Anschauungsunterricht hinsichtlich Gottes Güte und Allmacht durchzogen und erzählt von der Erfolglosigkeit bösartiger Absichten und der Belohnung christlicher Tugenden.

Besonders liebte es Karl May, die Bestrafung der Übeltäter an ihren eigenen Worten auszurichten, und zwar durch unmittelbares Eingreifen Gottes. Wenn die Bösewichter etwa ihre Untaten hartnäckig leugneten und zur Bekräftigung Flüche ausstießen wie „Ich will verdammt sein, wenn ...“, – dann orientierte sich Gottes Strafe exakt am Wortlaut: „Ich will zerschmettert sein, wenn ...“, – also wird der Übeltäter durch einen Sturz in einen Abgrund zerschmettert; „Ich will erblinden, wenn ...“, – also stürzt bei einem Blizzard ein Schuppen über dem Übeltäter ein und ein herabstürzender Balken raubt ihm das Augenlicht; „Ich will vom Blitz getroffen werden, wenn ...“, – also wird der Übeltäter von einem Blitz getroffen; „Ich will zerschmettert und ertränkt sein, wenn ...“, – also werden dem Übeltäter in einer Folge von Unfällen Arme und Beine gebrochen und anschließend ertrinkt er in einem passender Weise in der Nähe befindlichen See oder Meer.

Autors Feder – Gottes Finger

Aber auch Karl May selbst, in Gestalt seiner alter egos Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, macht oft, von höherer Einsicht geleitet, unheilvolle Prophezeiungen, die sich dann erfüllen. In „Winnetous Erben“ (1908-1909) spricht ihn seine Frau darauf an:
„Dein Wort, daß diese Quadern wohl eher in die Erde verschwinden werden, als daß du Lampions und Feuerwerk duldest, hat sich wie ein Gewicht auf mich gelegt. Es kommt bei dir so häufig vor, daß das, was du sagst, in Erfüllung geht, selbst wenn andere es für vollständig unmöglich halten. Zuweilen ist diese Erfüllung eine geradezu wörtliche. Und als du vorhin sprachst, hatte ich das Gefühl, als ob das, was du sagtest, eine solche Prophezeiung sei, aus dir selbst herausgestiegen, ohne alle Ahnung, woher es kommt.“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S. 414 (Greno Verlag))
Und natürlich wird sich Mays „Wort“ erfüllen, und die Winnetou-Statue wird in den Höhlen unterhalb des Platzes vorm Schleierfall versinken.

Hier haben wir es mit einem weiteren symbolischen Moment zu tun. Nicht nur die diversen alter egos treten als Stimme Gottes auf, auch der Erzähler Karl May selbst überhöht die Struktur seines Plots zu einem Gottesbeweis: nichts in den unwahrscheinlichen Handlungsverläufen verläuft zufällig, denn hier wirkt des Autoren Feder als Gottes Finger. Karl May als Metatron. Wenn sich die verschiedenen Ereignisstränge wiedermal besonders auffällig, sich zum Guten auflösend, bündeln, wird das auf Gottes Plan zurückgeführt. So auch in „Weihnacht“, wo Old Shatterhand zwei Reiter trifft, einer der beiden ist der von ihm gesuchte Pelzhändler und Familienvater Hiller, den er eigentlich aus der Gefangenschaft bei den Upsarokahs hatte befreien wollen, und der andere ist Sannel, ein befreundeter Westmann, dessen gestohlenes Gewehr er noch vor wenigen Wochen in der Hand gehalten hatte und den er für tot gehalten hatte, dem er aber just in dem Moment begegnet, wo er sich gerade auf der Spur des Diebes befindet.

Es falle ihm gar nicht ein, schreibt May-Shatterhand, diese „Begegnung mit Hiller und dem alten Amos Sannel für Zufall zu halten“:
„Gott hatte es gewollt, daß wir uns treffen sollten. Der Weg, welchen sie zurückgelegt hatten, wäre von keinem nur einigermaßen erfahrenen Westmanne eingeschlagen worden; er war so außerordentlich beschwerlich, daß es ein außer ihnen liegender Wille gewesen sein mußte, der sie veranlaßt hatte, vom Poison- und Agir-Creek so schnurgerade über das vollständig pfadlose Gebirge herüberzukommen. Die Verhältnisse lagen so, daß sie grad in diesem Augenblicke und grad auf diesem Wege hatten kommen müssen, um da zu sein, wo sie gebraucht wurden.“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.446 (Greno Verlag))
Immer wieder meditieren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi auf diese Weise über ‚Fügung‘ und ‚Zufall‘ und sichern so gleichermaßen die Glaubwürdigkeit des Erzählten, wie das Erzählte Gottes Handeln bezeugt. Letztlich funktioniert nämlich Gottes Handeln nach demselben Prinzip wie Mays Erzählungen: „Der Mensch glaubt, zu schieben, und er wird geschoben“ (vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.144 (Greno Verlag)), – als wäre er eine Figur in einem Karl-May-Buch.

Maskeraden

Als symbolisch könnte man auch die Maskeraden nehmen, die May-Shatterhand so gerne spielt. Old Shatterhand gibt sich als jemand anderes aus, z.B. als ein gewisser „Meier“, der Bücher schreibt, und man hält ihn dann für einen Simpel bzw. für ein Greenhorn, den keiner ernstzunehmen braucht. So wie Mr. Watter in „Weihnacht“, der sich seiner angeblichen Bekanntschaft mit Old Shatterhand brüstet, ohne zu ahnen, daß dieser ihm gegenüber sitzt:
„Ihr seid nicht einmal ein Greenhorn; Ihr wißt weder Gix noch Gax von dem Wildwest und seinem Leben; ich aber bin ein Westmann, welcher sich in jeder Lage auskennt; ja, ich kann dreist behaupten, daß ich mich selbst vor Leuten wie Winnetou, Old Shatterhand, Old Firehand und anderen nicht zu verstecken brauche; und da setzt Ihr Euch her zu mir und sprecht von Fehlern, die ich gemacht haben soll, und macht mir Vorschläge, über die ich eigentlich mich gar nicht ärgern, sondern lieber grad hinaus lachen sollte! Ihr habt doch wohl auch einmal sagen hören, daß der Mops den Mond anbellt? Nun, der Mond bin ich, und das weitere wollt Ihr Euch gefälligst selbst denken!“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.164 (Greno Verlag))
Symbolisch könnte man solche Szenen nehmen, weil May hier einen Hinweis darauf gibt, daß sich hinter „Old Shatterhand“ noch etwas anderes verbirgt als Karl May selbst, der seine Identität mit dem Protagonisten leugnet: nämlich ein ‚Geist‘ auf der Suche nach seiner ‚Seele‘; oder besser: eine ‚Seele‘ auf der Suche nach ihrem ‚Geist‘, also ein Mensch auf dem Weg zum Edelmenschen. Wir haben es zwar tatsächlich mit einer Maskerade zu tun, aber eben anders, als es sich der auf die erzählte Handlung fixierte Leser denkt.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß sich Mays Symbolismus vor allem dort ausprägt, wo May als Ich-Erzähler auftritt. In „Der Schatz im Silbersee“ (1890/1891), wo Old Shatterhand nicht mit dem auktorialen Erzähler ‚identisch‘ ist, fehlt diese symbolisch überhöhte Betrachtungsweise von Landschaften, Menschen und Ereignissen. Hier darf dann auch der meines Wissens einzige Afroamerikaner in Mays Büchern auftreten, der keine alberne Babysprache sprechen muß. Was schon dem Karl-May-erfahrenen Leser auffällt, wird von dem Autor selbst übrigens als ein besonders bemerkenswerter Umstand eigens erwähnt: „Er sprach sein Englisch wie ein Weißer.“ (Karl Mays Werke: Der Schatz im Silbersee; KMW-III.4, S.53 (Greno Verlag))

Weiterhin ist erwähnenswert, daß der Superbösewicht Cornel Brinkley, dem gleich mehrere Parteien wegen seiner Übeltaten hinterher sind und der immer wieder entkommen kann, am Ende von den Utah-Indianern zu Tode gemartert wird, ohne daß dieses sonst so symbolträchtige ‚Gottesurteil‘ Teil der Handlung wäre. Es wird lediglich am Rande vermerkt, wie etwas, daß es auch noch zu berichten gibt. Angesichts Brinkleys gewaltsamen Todes werden keine der sonst üblichen erbaulichen Gespräche geführt – weder mit dem Gemarterten (er ist ja schon tot) noch unter den Gefährten, die fassungslos vor den Marterpfählen stehen –, abgesehen von einer lakonischen, summarisch gehaltenen Bemerkung des auktorialen Erzählers über die ebenfalls zu Tode gemarterten Tramps, zu denen auch Brinkley gehörte: „Die Tramps hatten geerntet, was und wie von ihnen gesäet worden war.“ (Karl Mays Werke: Der Schatz im Silbersee; KMW-III.4, S.573 (Greno Verlag))

Erbauungsliteratur

Der von May behauptete Symbolismus war also schon in den klassischen, von einem Ich-Erzähler getragenen Reiseromanen durchaus vorhanden, nur eben noch nicht so ausgefeilt und durchdacht wie in seinem Spätwerk, sondern als plumpe Erbauungslektüre. Ironischerweise zeigt sich Karl May gegenüber der allzu aufdringlichen Frömmigkeit dieser Art ‚Literatur‘ als äußerst empfindlich, was vielleicht gerade der Nähe seiner eigenen Schriften zu ihr geschuldet ist, wie ganz besonders in folgenden erstaunlich hellsichtigen Textstellen deutlich wird. In „Weihnacht“ versucht ein „Prayer-man“ dem Ich-Erzähler ausgerechnet ein von ihm, nämlich dem Ich-Erzähler selbst verfaßtes Weihnachtsgedicht anzudrehen, das übrigens leitmotivisch „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) vorwegnimmt. Es wäre auch interessant, einmal genauer die Funktion des Weihnachtsgedichts mit dem Gedicht, das in „Und Friede auf Erden“ eine zentrale Rolle bei der Heilung des Missionars Waller spielt, zu vergleichen.

Jetzt aber zu den erwähnten Textstellen. Über den „Prayer-man“ heißt es:
„... das zudringliche Zurschautragen der Frömmigkeit ist mir verhaßt, und wenn jemand vor Salbung förmlich überfließt wie dieser Mann, so zuckt es mir in der Hand, und ich möchte ihm am liebsten mit einer Salbung anderer Art antworten. Ich kann mir da nicht helfen: ich muß dabei stets an die Fabel vom Wolf im Schafsfell denken.“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.125 (Greno Verlag))
Diese Szene ist geradezu paradigmatisch für den Konflikt zwischen Literatur und Erbauung, der in Mays Empörung zum Ausdruck kommt:
„Die Sprache soll für das Höchste, was der Mensch besitzt, die edelsten ihrer Worte haben; hier aber war es trivialisiert. Ein einziges kleines Heftchen hatte einen Titel, der mir wenigstens nicht widerwärtig war; er lautete: ‚Sechs ergreifende Festgedichte für Weihnachten, Ostern und Pfingsten.‘“ (Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.126 (Greno Verlag))
Und genau in diesem Heftchen stößt der fassungslose Ich-Erzähler auf sein eigenes Weihnachtsgedicht!

Es ist vor allem der Titel des Weihnachtgedichts, der in Mays Augen sein tiefempfundenes religiöses Anliegen pervertiert: „Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem!“ (Vgl. Karl Mays Werke: Weihnacht!; KMW-IV.21, S.127 (Greno Verlag)) – Diese Entstellung eines literarischen Werks durch ein verunstaltendes Etikett erinnert an „Kiss-y-Darr“ (persisch für Schundroman) in „Im Reiche des silbernen Löwen IV“ (1903), einem eigentlich edlen Pferd, aber mißhandelt und verunstaltet, das an einem Wettrennen teilnimmt und schließlich, seiner wahren Natur entsprechend, die ‚literarische‘ Konkurrenz in diesem Wettrennen aussticht. (Vgl. Karl Mays Werke: Im Reiche des silbernen Löwen IV; KMW-V.4, S.463 (Greno Verlag)) Wir haben es in beiden Fällen mit dem Versuch einer Ehrenrettung von Mays früheren Kolportageromanen zu tun, die von seinen Verlegern so umfangreich ‚redigiert‘ worden waren, daß er seine eigene Autorenschaft in ihnen nicht mehr wiedererkennen konnte. Die Szene mit dem Prayer-man zeigt also eine weitere thematische Nähe von „Weihnacht“ mit Mays Spätwerk.

Interpretationsspielräume

Das Problem bei dem ganzen Symbolismus ist, daß es zu seinem Verständnis eines Schlüssels bedarf, z.B. der intimen Kenntnis von Gottes Heilsplan, um die in seinen Reiseromanen beschriebenen Ereignisse zu deuten. Was aber, wenn man sich einfach eines anderen Schlüssels bedient und so Mays christlich-humanen Symbolismus ad absurdum führt? Das hat Arno Schmidt in seinem Buch „Sitara oder der Weg dorthin“ (1963) getan. Er deutete einfach alle Ereignisse in den Reiseromanen psychoanalytisch. Anstatt die vielen Landschaftsbeschreibungen als Entwicklungsweg von den Sumpfniederungen oder der Wüste hin zu hochaufragenden Gebirgen spirituell-moralisch zu deuten, nimmt Arno Schmidt sie einfach als Sexsymbole. Wenn Mays Protagonisten in Schluchten eindringen, aus denen zudem noch kleine feuchte Rinnsale herausrieseln, dann haben wir es Schmidt zufolge mit purer Pornographie zu tun. Ebenso wenn wilde Pferde zugeritten werden, daß der Schweiß in Flocken nach allen Seiten spritzt, während es aus zusammengepreßter Pferdelunge ächzt, seufzt und stöhnt.

Weitere Details erspare ich mir. Dennoch: gegen Arno Schmidts Deutungen läßt sich nichts einwenden. Wenn Mays Werk nach eigenem Wunsch allererst symbolisch zu verstehen ist, ist jede Deutung möglich. Alle Schlüssel, die passen, sind einander gleichwertig.

Evolutionsbiologischer Symbolismus

Was mich an Mays Spätwerk tatsächlich interessiert, ist aber etwas anderes. May hat hier den Versuch unternommen, die Entwicklung des Menschen auf drei bis vier verschiedenen Entwicklungsebenen zu beschreiben: biologisch-animalisch in Form von Tier-Mensch-Vergleichen und von Tier-Mensch-Beziehungen, kulturell in Form von Begegnungen mit anderen Kulturen und individuell in Form von symbolisch zu deutenden Biographien (Gewaltmensch/Edelmensch). Hinzu kommen ebenfalls symbolisch aufgeladene geographische Fiktionen wie z.B. der „Mount Winnetou“ oder „Sitara“ oder „Ardistan“ und „Dschinnistan“. Diese drei- bis vierfach ausdifferenzierte Entwicklungssymbolik ähnelt meinem eigenen anthropologischen Ansatz. Darauf möchte ich im Folgenden differenzierter eingehen.

Was das Verhältnis von Mensch und Tier betrifft, ist Karl May Darwinist und Nietzscheaner. Der Mensch ist nicht nur aus dem Tierreich hervorgegangen, sondern selbst noch ein Tier, und er muß sich erst zum Menschen entwickeln. In seinen Büchern stehen Menschen und Tiere immer wieder auf Augenhöhe zueinander und sind in Freundschaft und Liebe herzlich einander zugetan. Unvergessen die Tierfreundschaften zwischen Old Shatterhand und Hatahtitla, zwischen Kara Ben Nemsi und Rih und zwischen Kara Ben Nemsi und Dojan!

Das hat aber seine Tücken. Tier-Mensch-Vergleiche sind immer heikel. In einem Germanistikseminar zur „Unendlichen Geschichte“ tadelte unser Dozent einmal Michael Endes Tiervergleiche, mit denen er die Menschen abwerte oder beleidige. So hat z.B. der Antiquar Karl Konrad Koreander ein Bulldoggengesicht. Ich habe nie so recht verstanden, was an solchen Vergleichen nicht in Ordnung ist. Was hätte unser damaliger Dozent wohl zu Walter Moersens „Rumo“ gesagt, in dem es um das Schicksal eines menschenähnlichen, auf zwei Beinen laufenden Hundevolks geht? In diesem Roman wimmelt es von menschlichen Hundegesichtern, nicht nur in Worten, sondern sogar gezeichnet!

Auch Karl May geht nicht nur unbekümmert mit solchen Vergleichen um, sondern bedient sich ihrer sogar systematisch:
„Das Thierreich ist höchst wohlhabend an psychologischen Characteren, und viele von ihnen sind so scharf gezeichnet, daß sie als Typen Eingang in die vergleichende Redeweise des alltäglichen Lebens gefunden haben. ... Es giebt oft menschliche Physiognomieen, welche mit denen gewisser Thiere eine auffallende Aehnlichkeit haben, und eine genaue Beobachtung ergiebt dann stets, daß diese Aehnlichkeit sich nicht blos auf das Aeußere, sondern auch auf den Character erstreckt.“ (Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel; KMW-I.1.A-29:31, S.247 (Greno Verlag))
Auch hier haben wir natürlich wieder die Reduktion des Individuellen auf eine Gattungseigenschaft, nämlich der bestimmter Tierarten. Aber abgesehen davon dienen die Tiere May hier als Stilmittel, um die Entwicklungsdimension hervorzuheben: das Animalische, das von May mit der ‚Seele‘ gleichgesetzt wird, soll sich zum ‚Geist‘ emporentwickeln. Die Biologie bildet also die materielle Grundlage des Geistigen. Deshalb vergleicht May auch immer wieder ‚niedrig‘ stehende Menschen, also Bösewichter, mit Tieren, und zwar derart, daß sie noch ‚tiefer‘ stehen als Tiere, etwa Hunde oder Pferde: ein Mensch, der seinen Hund oder sein Pferd quält, steht tiefer als sie. Man denke z.B. an Nietzsche, der der Legende nach einen Kutscher daran zu hindern versuchte, sein Pferd zu peitschen.

Gerade diese Entwicklungsdimension kann aber auch ganz andere ‚moralische‘ Inhalte bekommen. So heißt es z.B. in dem „Buch der Liebe“ (1876?), das May redaktionell betreut hatte, mit Bezug auf schwarze Afrikaner und Papua:
„Aus tausend zuverlässigen Zeugnissen geht hervor, daß die geistigen Unterschiede zwischen den höchsten Thieren und den niedersten Menschen geringer sind, als diejenigen zwischen den höchsten und niedersten Menschen.“ (Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel; KMW-I.1.A-32, S.407 (Greno Verlag))
Diese Textstelle stammt wahrscheinlich nicht aus Mays eigener Feder, der im Gegenteil immer die Gleichheit aller Menschen vor Gott hervorgehoben hat. Tatsächlich soll er viele üble Stellen dieses Machwerks gestrichen haben. Man mag sich angesichts des eben Zitierten nicht vorstellen, wie übel diese Stellen gewesen sein müssen. Solche verfänglichen Tier-Mensch-Vergleiche liegen aber natürlich nahe, wenn es darum geht, die Menschen biologisch und kulturell nach ihrer Entwicklungsstufe zu klassifizieren. Und May ist solchen Fallstricken nicht immer entgangen.

Dies um so weniger als zum von May vertretenen evolutionsbiologischen Symbolismus auch die Abwertung des Materiellen und Körperlichen gehört. Dieses bildet nämlich nicht einfach die materielle Grundlage der Entwicklung zum Edelmenschen, sondern es soll ausdrücklich überwunden und als bloße Hülle abgelegt und zurückgelassen werden:
„Die Heimat des Körpers ist das Grab; der andere, edlere Teil des Menschen aber ist im Jenseits daheim, aus welchem er stammt.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; KMW-V.2, S.402 (Greno Verlag)
May löst die Doppelaspektivität von Körper und Leib, von Außen und Innen zugunsten des Inneren auf. Alles Wesentliche ist Innen, das, was man mit den Augen sehen kann, ist bloß äußerlich:
„Das innerliche ist die Hauptsache, denn es gehört der Ewigkeit an. Das äußerliche ist Nebensache, weil es sich aus Vergänglichem zusammensetzt.“ (Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; KMW-V.5, S.335 (Greno Verlag))
Die Materie ist also zwar überall symbolisch aufgeladen und ein Zeichen für Gottes Handeln: Naturereignisse, Geographie und Biologie ‚predigen‘ von seiner Güte und seiner Allmacht. Aber für sich selbst hat sie keinen Wert, so wenig wie die Menschen in Dschinnistan, die ja auch ‚nur‘ Engel sind, also Funktionen in Gottes Heilsplan. Karl May hat demnach keine Vorstellung vom Körperleib.

Und damit unterscheidet sich Mays Entwicklungssymbolik von der Entwicklungslogik, wie ich sie hier in meinem Blog vertrete. Die Perspektive dieser Entwicklungslogik liegt nicht in der Überwindung des Individuellen und Materiellen, wie bei Karl May, sondern in der Individualität und damit im versuchten Ausgleich und nicht in der Überwindung der verschiedenen Entwicklungsprozesse, die einen Menschen ausmachen. Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Verstand wird von May grundlegend anders beantwortet als von mir. Insofern ähnelt Mays Ansatz doch nicht meinem eigenen. Die planetarisch-kosmische Entwicklungsperspektive ist dieselbe. Nicht aber die Perspektive auf das, was das Menschliche darin ausmacht.

May sucht in allem das Große Ganze, wie er es in dem Bild von den Niagarafällen beschreibt, als den Erie-See, von dem aus der Niagara River in den Abgrund stürzt und „in der Tiefe in hundert und aberhundert Völker, Stämme, Herden, Rotten und Banden zerfällt“. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S.66ff. (Greno Verlag)) Das Individuum gilt ihm nichts außerhalb dieser Funktion für „das noch mächtigere, das noch herrlichere Volk“, dort, wo sich die Myriaden zerstäubter Wassertropfen wieder zum Ontario-See vereinen. Mir aber geht es um das fallende Individuum selbst, um „die Stäubchen, Tropfen, Wellen und Wasser“ (Winnetou IV; KMW-V.7, S.279 (Greno Verlag)), und um die Beziehung zwischen den Individuen, die nicht stellvertretend über ein ‚Volk‘ verwirklicht werden kann.

Trotz dieser schwerwiegenden Differenz zwischen Mays evolutionsbiologischem Symbolismus und meinen drei Ebenen der Entwicklung des Menschen gehört Mays Konzept in die Ahnenreihe, die zu meinem eigenen anthropologischen Ansatz führt. Alle ‚Weltanschauungen‘, die das Mensch-Weltverhältnis als ein Ganzes konzipieren, aus dem man nicht einzelne Momente analytisch wegdenken kann, ohne die Menschlichkeit des Menschen zu beschädigen, gehören in diese Ahnenreihe. Zu dieser Ahnenreihe zähle ich Alexander von Humboldts „Kosmos“ mit seiner „physischen Weltanschauung“ und Helmuth Plessners Ästhesiologie. Es läßt sich in Mays „Geographischen Predigten“ das gleiche Anliegen wiedererkennen, das auch Alexander von Humboldts Kosmogonie zugrundeliegt. Allerdings bleibt festzuhalten, daß Alexander von Humboldt den christlichen Rassismus von Karl May längst weit hinter sich gelassen hatte, so daß Mays evolutionsbiologischer Symbolismus als ein Rückfall hinter Humboldts „Kosmos“ gewertet werden muß. Tatsächlich hatte Humboldt nichts mit dem Rassebegriff anfangen können, ein Begriff, den er in seiner Unbestimmtheit und Vagheit für ungeeignet hielt, der Individualität der Menschen bzw. der Vielfalt in der „Einheit des Menschengeschlechts“ gerecht zu werden. (Vgl. „Kosmos“, Teilband 1, 1993, S.323)

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