„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 23. Februar 2019

Mein persönlicher Karl May II

Ich weiß noch, wie mir die Mutter eines Spielkameraden stolz eine Reihe von Karl-May-Büchern auf dem Bücherbrett ihres Sohnes zeigte. Ich stand starr vor Staunen vor diesen Wälzern, deren Seiten voller gedruckter Buchstaben waren, ohne einem einzigen Bild dazwischen, und ich konnte es nicht fassen, daß jemand fähig war, das alles zu lesen, sprich: mühsam Buchstabe für Buchstabe zu entziffern. Meine damalige Lektüre war geprägt von Enid Blytons „Fünf Freunde“ und Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“.

Erst als ich nach einer Blinddarmoperation eine Woche im Krankenhaus verbringen mußte und meine Eltern mir ein Karl-May-Buch, „In den Kordilleren“, schenkten, zwang mich die Langeweile, dieses Buch zu lesen, und es dauerte nicht lange, und ich war ‚angefixt‘. Es brauchte noch ein Weilchen, bis ich dahinterkam, daß der „El Sendador“ in dem Buch Old Shatterhand war, und auch Kara Ben Nemsi, und alle waren Karl May. Ich war begeistert! – Als ich ältere Karl-May-Bücher in die Hände bekam, von vor dem Krieg, hielt mich sogar die Frakturschrift mit ihren unleserlichen großen Ks, Gs und Rs und den verschiedenen Varianten von ‚s‘ nicht davon ab, diese Bücher zu verschlingen. Die richtigen Buchstaben erriet ich einfach aus dem jeweiligen Satzkontext.

So lernte ich lesen, also nicht Buchstabe für Buchstabe entziffernd, sondern so, daß sich in meinem Kopf ein innerer Film abspulte. Das war übrigens Friedrich Kittler zufolge die kulturelle Voraussetzung dafür, daß so etwas wie ein Kino entstehen konnte. Die Menschen waren darauf vorbereitet gewesen, weil sie Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, also in der Romantik, damit begonnen hatten, Bücher so zu lesen, als würden sich nicht Worte, sondern Bilder vor ihren geistigen Augen abspulen wie ein Film.

Ich habe jedes von über 70 Karl-May-Büchern gelesen. Wirklich jedes! Der Mix aus Abenteuer und christlicher Frömmigkeit prägte mich zutiefst. Es brauchte lange, bis ich aus dieser kindlichen May-Seligkeit herauswuchs. Als Mays alter ego Kara ben Nemsi in den letzten beiden Bänden des „Silberlöwen“ den Henrystutzen aus der Hand legte, um sich fortan ausschließlich den tiefsten Menschheitsfragen zu widmen, bedauerte ich das sehr, versuchte aber, mir diesen neuen Ton in Mays Werk zueigen zu machen.

Der nächste Schritt, zu Büchern, die keine Abenteuer mehr erzählten, sondern den Lesern nur staubtrockenes abstraktes ‚Wissen‘ boten, fiel mir ähnlich schwer wie einst der von den bebilderten Kinderbüchern hin zu Mays textlastigen Romanen. Während meines Studiums umkreiste ich teils eingeschüchtert, teils neugierig die dicken, so eng be- wie klein gedruckten Wälzer der Germanistik, der Theologie und der Erziehungswissenschaft, und ich fragte mich, ob es mir jemals gelingen würde, diese Expertenphrasiologie zu durchdringen und sie mir sogar so weit anzueignen, um irgendwelche Examina zu bestehen. Es ist mir tatsächlich gelungen. Und es waren nicht zuletzt Mays Reiseromane, mit denen ich die erste Stufe in diese Richtung genommen hatte.

Diesen Dank schulde ich ihm. Das Beste, was ich von ihm an dieser Stelle sagen kann: Er war ein Anachronist; wie ich.

PS (04.10.2023): Was den El Sendador betrifft, handelt es sich um eine falsche Erinnerung. Der El Sendandor ist nicht identisch mit dem Ich-Erzähler, sondern im Gegenteil der Hauptbösewicht.

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