„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 25. Februar 2023

Die letzte Zuflucht des Schurken

Der Rußlandkorrespondent der ZEIT, Michael Thuman, zitiert in seinem Buch „Revanche“ Putin: „Wenn jemand Russland zerstören will, haben wir das Recht zu antworten. Das wäre eine Katastrophe für die Menschheit und die Welt. Aber als Bürger Russlands und als russischer Präsident frage ich: Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?“ (Thumann 2023, S.93)

Thumann beklagt die Wiederkehr des Nationalismus: „Nach den Verheerungen und Völkermorden des vergangenen Jahrhunderts hätte diese Ideologie für alle Zeiten diskreditiert sein müssen. Aber sie ist wirkmächtiger denn je.“ (Thumann 2023, S.93f.)

In meinem letzten Post zu Putins Krieg schrieb ich von Putins völkisch motiviertem Angriffskrieg auf die Ukraine. Ich möchte an dieser Stelle nochmal kurz auf mein Problem mit Berufungen auf Patriotismus und Nationalismus eingehen. Vor Putins Angriffskrieg war hierzulande in der Politik und im Feuilleton immer mal wieder feinsinnig zwischen ‚Nationalismus‘ und ‚Patriotismus‘ unterschieden worden. Dabei sollte der Nationalismus meist verdammenswert, der Patriotismus aber im Kern etwas Gutes sein. Warum? Was ist am Nationalismus schlecht, am Patriotismus aber gut?

Auch Thumann unterscheidet zwischen einem „klassischen einigenden US-Patriotismus“ und einem „spaltenden, ja rassistischen amerikanischen Nationalismus“ (vgl. Thumann 2023, S.107), wobei er den spaltenden Nationalismus Donald Trump anlastet und mit dem klassischen US-Patriotismus vor allem das 20. Jhdt. im Blick zu haben scheint. Dem wäre zu entgegnen, daß Putin als Vertreter des ‚neuen‘ Nationalismus die russische Bevölkerung nicht etwa spaltet, sondern vereint. Und der klassische US-Patriotismus ist weder für Vietnam noch für den us-amerikanischen ‚Hinterhof‘, also für Lateinamerika, besonders erfreulich gewesen.

„Dulce et decorum est pro patria mori“, hat Horaz (65-8 v.u.Z.) geschrieben. Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben. – Von dem Gelehrten Samuel Johnson (1709-1784) stammt die Sentenz, daß der Patriotismus die letzte Zuflucht des Schurken sei.

Um Johnsons Position zu begründen, reicht es eigentlich, auf den Satz von Horaz zu verweisen. Patriotismus war schon immer ein Argument für den Krieg, und ich unterscheide hier nicht zwischen einem Angriffs-­ und einem Verteidigungskrieg. Auch ein Verteidigungskrieg macht das Sterben im Krieg in keiner Weise erfreulicher. Es gibt keinen Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus, und nicht zuletzt bei Putin bewahrheitet sich Johnsons Spruch.

Es bedarf dringend einer Entkopplung von Geographie und Politik. Geopolitik ist eine modernisierte Fassung der nationalsozialistischen Verknüpfung von „Blut und Boden“, vom selben menschenverachtenden Geist, aber ohne die Blut-Komponente. Putins Erfindung eines einer heiligen Mission verpflichteten russischen Volkes geht auf die Vereinnahmung aller ethnischen Gruppen im ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereich für diese Mission. Nur wer sich ihr nicht anschließen will, wird der Vernichtung preisgegeben. Deshalb darf die Ukraine nicht mehr sein. Das ist der Kern seiner Geopolitik.

Wer bereit ist, in den Krieg zu ziehen, sollte Gründe haben, die seinen Verstand nicht beleidigen. Denn es ist sein Leben, das er riskiert. Nichts anderes. Geopolitik ist es nicht wert, für sie das Leben zu opfern.

Darüber hinaus kenne ich die Gründe nicht, die jemand veranlassen könnten, in den Krieg zu ziehen. Ich bin mir meiner eigenen Gründe und Motive nicht sicher. Was uns verbindet, schrieb Max Frisch mit Bezug auf den Nationalismus, „ist die geistige Not des einzelnen angesichts solcher Fronten, das Gefühl unserer Ohnmacht und die Frage, was tun“.

Freitag, 24. Februar 2023

24. Februar 2022 – Ein Jahr Krieg in Europa

Das vergangene Jahr hat bisherige Gesinnungen und Haltungen durcheinandergewürfelt. Putins Krieg stellt uns alle vor die Aufgabe, unsere globale Verantwortung, die die regionale Katastrophe übersteigt, zu hinterfragen. Ein grundlegender Disput wird darüber geführt, ob mehr Waffenlieferungen an die Ukraine oder ein Stopp von Waffenlieferungen und der Beginn von Verhandlungen ein Ende des Krieges herbeiführen können.

Ich beschränke mich auf die deutsche Diskussion und auf die Frage ‚Waffenlieferungen versus Verhandlungen‘, die die deutsche Diskussion das Jahr über geprägt hat.

Einig sind sich Befürworter und Gegner von Waffenlieferungen – ich lasse jetzt mal die AfD außer acht –, daß Putin verantwortlich ist für den Angriffskrieg. Was ihn zu einem Kriegsverbrecher macht. Ebenfalls einig sind sich Befürworter und Gegner auch darin, daß mit diesem Angriffskrieg weitere zahlreiche Kriegsverbrechen einhergegangen sind und weiterhin einhergehen, für die ebenfalls Putin verantwortlich ist.

Wovor sich die Gegner von Waffenlieferungen vor allem fürchten, sind Putins Drohungen mit einem Atomschlag. Worüber sie sich am meisten sorgen, ist der fortdauernde Verlust von Menschenleben, dem ein Ende gesetzt werden muß. Dazu müsse Putin die Gelegenheit gegeben werden, gesichtswahrend aus der ausweglosen Lage, in die er sich selbst hineinmanövriert habe, herauszukommen. Es gab und gibt sogar Stimmen, die auf legitime Interessen Putins verweisen, da er glaube, sich vor der näherrückenden NATO und anderen Provokationen des Westen schützen zu müssen.

Die Befürworter von Waffenlieferungen verweisen auf Putins bisheriges Verhalten, sowohl seit dem Tschetschenienkrieg, seiner Intervention in Syrien und seit der Besetzung der Krim und der Ost-Ukraine, als auch im aktuellen Angriffskrieg. Nichts deutet daraufhin, daß Putin bereit ist, irgendeines seiner Kriegsziele von 24.02.2022 aufzugeben. Im Gegenteil läßt Putin keinen Zweifel daran, daß es ihm um die völlige Vernichtung der Ukraine und um eine nachhaltige Schwächung der liberalen Demokratien in der EU und ihrer Werte geht. Wir haben es also auch mit einem Kulturkampf zu tun.

Für mich ist zweifelsfrei, daß Putins sogenannte Interessen keinerlei Legitimität besitzen und deshalb ein Waffenstillstand oder ein Verhandlungsfrieden, der auf Kosten der Interessen der Ukrainer geht, die ihr Territorium verteidigen, nicht in Frage kommt. Abgesehen von der fehlenden Legitimität ist davon auszugehen, daß kein Waffenstillstand Putin daran hindern wird, seine territorialen Ziele weiter zu vefolgen. Und kein Waffenstillstand wird Putin davon abhalten, die Menschen in den von ihm besetzten Gebieten zu mißbrauchen, zu demütigen und zu terrorisieren.

Mit einem Kriegsverbrecher darf es keine Verhandlungen geben. Es gibt nur eine Lösung des Problems Putin: seine vollständige Entmachtung und irgendwann ein Prozeß als Kriegsverbrecher.

Ich teile weder die Ängste noch die Hoffnungen der Gegner von Waffenlieferungen. Sie fürchten sich vor einer nuklearen Eskalation und hoffen auf einen Verhandlungsfrieden mit Putin. Ich fürchte mich mehr vor Putin als vor einer nuklearen Eskalation, und ich erhoffe mir für die Ukraine einen echten Frieden, der die Würde der Menschen wahrt, statt eines Scheinfriedens, der Putins Angstregime kein Ende setzt. Ich erhoffe mir für die Ukraine eine Staatlichkeit, die vor Putins Zugriff geschützt ist.

Überleben ist zu wenig.

Die Gefahr einer nuklearen Eskalation übersteigt mein Angspotenzial, zerprengt sie in viele kleine Stücke. Meine Furcht ist geringer, bescheidener: ich fürchte mich davor, daß wir unter dem Schatten der atomaren Bedrohung verstummen; daß wir uns entmutigen lassen und uns Putins Angstregime unterwerfen. Außerdem fürchte ich eine dauerhafte Beschädigung des Völkerrechts, die es unmöglich machen würde, uns der eigentlichen Menschheitsaufgabe zu stellen, die in der Bewahrung der planetaren Lebensgrundlagen besteht. Eine Beschädigung oder gar Zerstörung der globalen Rechtsordnung würde dazu beitragen, daß die Zerstörung des Planeten ungehindert ihren Fortgang nehmen kann.

Eines der kleineren Übel scheint es zu sein, daß wir wieder in Gruppen denken, seit Putin sich ein russisches ‚Volk‘ zusammenphantasiert hat, das einer heiligen Mission verpflichtet ist. Ich halte es aber für ein großes Übel, das zu den Ursachen unseres globalen Desasters zählt. Wieder wird von den Russen, den Ukrainern, dem Westen, China etc. gesprochen, eine abkürzende Redeweise, die zu einem verkürzten Denken führt. Das ‚Volk‘ ist die Droge, mit der Putin seinen Krieg legitimiert.

Wenn vom Völkerrecht die Rede ist, sollten deshalb die damit verbundenen Völkerrechtssubjekte nicht mehr ‚Völker‘, sondern Staatsbürger sein. Geographie, Staatsbürgerschaft und Kultur formen keinen metaphysischen Volkskörper.

Das russische ‚Volk‘ ist mir gleichgültig. Es gibt kein russisches Volk, nur eine Bevölkerungsmehrheit, die ihrer eigenen Unterdrückung durch Putin zustimmt. Jenseits solcher demoskopischen Daten erhoffe ich mir aber für die Menschen in Rußland, daß dort irgendwann wieder Platz fürs Denken sein wird. Daß sich denkende Menschen nicht mehr schweigend wegducken oder auswandern müssen; daß sie nicht mehr eingesperrt werden oder schlimmeres.

Das sind meine Ängste und meine Hoffnungen, die mich Putins Angriffskrieg in diesem Jahr gelehrt hat. Wenn andere anders empfinden, anders denken, ist das in Ordnung. So soll es sein. Ich kann auch nicht für die Menschen in der Ukraine reden. Ich wollte nur an dieser Stelle meinen Empfindungen, nach einem Jahr Krieg in Europa, Ausdruck geben.

Sonntag, 19. Februar 2023

Hallo Everybody! Hallo Puneh!

Ich bin jetzt mit „Hallo Everybody“ (2023) durch. Es liest sich gut und ist witzig. Es handelt sich um kurze, skurrile Texte aus Puneh Ansaris Facebookaccount, also digital produziert und dann analogisiert. Meistens ists ja andersrum.

Mit dem Klappentext habe ich Probleme. Da steht was von Ansaris „lebens- und wesensfreundlichem Denken“. Was ist wesensfreundlich? – Das Gegenteil von wesensfeindlich vielleicht. Das macht mir Angst, weil, ich denk dabei an Heidegger. Und ich denk, wenn jemand andren wesensfeindliches Denken vorwirft, bedeutet das für die anderen meist nichts Gutes. Und wenn jemand andre für wesensfreundliches Denken lobt, bin ich mir auch nicht sicher, ob das was Gutes ist. Jedenfalls bestimmt nicht für die, die ja wesensfeindlich sein könnten, vielleicht. Die könnten mit den Wesensfreundlichen Ärger bekommen. Aber dann wären ja die Wesensfreundlichen auch feindlich. Und am Ende sind dann alle wesensfeindlich.

Aber vielleicht hat das ja auch gar nichts mit Heidegger zu tun und „wesensfreundlich“ ist wohl nur eine österreichische Redewendung. Paßt als Prädikat bloß irgendwie nicht zum Denken, finde ich.

Aber das Buch hat mir wirklich gut gefallen. Trotz vieler Wörter, die ich nicht verstehe. Viele österreichische Wörter, die ich als Norddeutscher nicht kenne. Auch die vielen englischen Wörter, vor allem die mit Internetbezug, verstehe ich nicht. Ich bin nämlich ein depperter Offliner. „Deppert“ ist, glaube ich, österreichisch. Ich dachte, ich bau das mal in diesen Text ein, wenn ich darf. Aber vielleicht darf ich ja keine österreichischen Wörter verwenden. Weil das kulturell übergriffig ist, möglicherweise.

Jedenfalls finde ich das Buch total witzig. Und ich empfehle es hiermit jedem weiter. Auch jeder. Ja.

Donnerstag, 9. Februar 2023

Erinnerungen: das Intimste und das Fremdeste

Ich habe vergangenen Sonntag einen DLF-Wissenschaftspodcast gehört: über manipulierte Erinnerungen. Er hat mich erschüttert. Daß unser Gedächtnis manipulierbar ist, war mir nichts Neues. Aber das Ausmaß der grenzenlosen Formbarkeit unseres Bewußtseins durch Autoritäten, durch eine Gruppe, machte mir Angst. Was in diesem Podcast berichtet wurde, läuft darauf hinaus, daß es überhaupt keine verläßliche Realität gibt; daß das, was zwischen Menschen geschieht, jederzeit anders erinnert werden kann, als es in der Situation selbst erlebt wurde. Das Intimste zwischen zwei Menschen kann jederzeit und unerwartet zum Fremdesten werden, so daß vertraute Lebenswege in Sackgassen enden.

Das Intimste zwischen zwei Menschen sind ihre gemeinsamen Erinnerungen an etwas gemeinsam Erlebtes. Denn auch wenn sich diese Erinnerungen bei der einen und dem anderen im Detail unterscheiden mögen – und das tun sie eigentlich immer –, stiften sie doch eine Bindung. Sollten gemeinsame Erinnerungen – oder anders: Erinnerungen an einstmals Gemeinsames – zwei Menschen nicht mehr aneinander binden, sondern entzweien, so liegt die Ursache meistens in einem Mißbrauch, entweder im Erleben der beiden selbst oder in ihre Zweiheit hineingetragen durch die Gruppe, wie es eine Betroffene in dem Podcast berichtet.

Sie hatte sich einem Institut anvertraut, um sich dort zur Heilpraktikerin ausbilden zu lassen. Zur Ausbildung gehörte eine Therapie, und die Therapeuten, eine Gruppe aus Institutsmitarbeitern und dazu die Auszubildenden, fokussierten, wie sich hinterher herausstellte gewohnheitsmäßig, diese Therapie auf die Kindheit der Probandin. Dabei wurde vor allem nach ‚verdrängten‘ Erfahrungen gesucht; also nach Mißbrauchserfahrungen. Die Suggestionswirkung der Therapien war so enorm, daß alle Auszubildenden Mißbrauchserfahrungen ‚erinnerten‘. Die Folge war stets ein unheilbarer Bruch mit der Familie oder dem ehemaligen Partner.

Noch einmal: was einst das Intimste gewesen war, wird so zum Fremdesten.

Inzwischen breitet sich übrigens in der Psychologenzunft die Einsicht aus, daß es so etwas wie verdrängte Erinnerungen nicht gibt. Gerade traumatische Mißbraucherfahrungen haben die Eigenschaft, aufdringlich präsent zu sein und eben nicht vergessen werden zu können.

Das Problem mit Erinnerungen ist ihre narrative Struktur. Sie sind nicht durch Fakten falsifizierbar, denn um etwas mit ihnen anfangen zu können, müssen Fakten interpretiert werden. Diese Interpretationen (Narrationen) wiederum sind durch unsere bisherigen Erinnerungen gefärbt, und auch diese Erinnerungen sind, leider oder glücklicherweise?, jederzeit durch andere Menschen oder neu Erlebtes neu einfärbbar. Das macht unsere Erinnerungen so widerständig: sie kehren, wenn auch modifiziert, immer wieder und lassen sich nicht verdrängen. Wir haben keine Macht darüber, wie sie kommen und gehen. Die Eigenständigkeit dieser plastischen Narrationen ist das, was Husserl und Blumenberg ‚Lebenswelt‘ nennen.

Zugleich aber ist gerade diese lebensweltliche Permanenz der Grund für die Manipulierbarkeit unserer Erinnerungen. Nichts ist leichter, als Erinnerungen durch konträre Erinnerungen zu ersetzen, wenn die Manipulatoren als Gruppe auftreten; denn die Gruppe tritt immer mit der Autorität einer Lebenswelt in Erscheinung. Das Erleben von Zweien jenseits der Gruppe kann sich nicht zu einer dauerhaften Erinnerung verfestigen, wenn die Gruppe es nicht zuläßt, und bestehende Erinnerungen wie die von der Mutter und der Tochter, von derem Schicksal der Podcast erzählt, verlieren ihre Gültigkeit, wenn die Kinder ihre Familie verlassen und andere Milieus kennenlernen.

Die erwähnte betroffene Frau hatte nach ihrer Therapie einige irritierende Erlebnisse, aufgrund deren sie ihre neuen, durch die Therapie induzierten Erinnerungen anzuzweifeln begann. Sie befreite sich aus ihrem Bann, stand aber nun vor einem Trümmerhaufen. Was früher wahr gewesen war, ließ sich nicht mehr reparieren. Und dann entscheidet sich ihre eigene Tochter für eine Ausbildung als Heilpraktikerin in demselben Institut, das einen guten Ruf hat, und hört nicht auf die Warnungen ihrer Mutter. Und wieder geschieht es, daß aufgrund der zur Ausbildung gehörenden Therapie in ihr ‚verdrängte‘ Erinnerungen gefunden werden. Und es wiederholt sich der Bruch zwischen dieser Tochter und ihrer Mutter, den diese schon zuvor mit ihren eigenen Eltern und Großeltern erlebt hatte.

Der Mißbrauch lauert überall, und er hat vielerlei Gestalt. Da ist die Familie selbst, die immer schon mißbrauchsaffin ist, weil es für die intimen Erfahrungen innerhalb einer Familie, die ein Schutzraum für Kinder ist oder sein sollte, keinen Schutzraum gegen die Familie selbst gibt, es sei denn er läge in der Verantwortung der erwachsenen Bezugspersonen.

Aber dann gibt es eben auch die außerfamiliären Gruppen, und ich vermeide es bewußt, hier von Gemeinschaften oder von Gesellschaft zu sprechen. Begriffe wie Gemeinschaft und Gesellschaft sind mir zu anspruchsvoll. Ich bevorzuge die nüchterne Bezeichnung ‚Gruppeninteresse‘. Die Gruppen verfolgen immer nur ihre eigenen Interessen, und es ist der Gruppe gleichgültig, ob ihre Interessen mit den Interessen einzelner Menschen übereinstimmen. Wenn sie das nicht tun, wirst du vernichtet.

In früheren Zeiten sorgten Initiationsriten dafür, daß das neu aufzunehmende Gruppenmitglied immer nur die Gruppeninteressen verfolgt. Die Therapie, von der der Podcast berichtet, gleicht so einem Initiationsritus.

Es kam zu einer letzten Begegnung zwischen der Mutter und der Tochter, um dieser einige Gegenstände, um die sie gebeten hatte, zu übergeben. Die Mutter hatte sich ein paar Worte zurechtgelegt, die sie sagen wollte, aber die Tochter kam in Begleitung von Mitarbeitern des Instituts; zu ihrem ,Schutz‘. So war die Chance eines letzten klärenden Gesprächs dahin.

Unsere Erinnerungen sind unsere Wahrnehmungen bzw. sie waren einmal unsere Wahrnehmungen, und deshalb steht in ihnen unsere Wahrnehmung überhaupt auf dem Spiel. Welche Chance haben wir, wenn sich ein Satz Erinnerungen so einfach durch einen Satz von anderen Erinnerungen austauschen läßt? – Die einzige Chance besteht darin, zu wissen, daß Gruppen nur so lange Macht über uns haben, wie wir nicht merken, daß sie ihre eigenen Interessen verfolgen. In dem Moment, wo Du das erkennst, haben sie ihre Macht verloren.

Die beste, weil einzige Antwort auf das Problem der falschen Erinnerungen besteht in der exzentrischen Position zur Welt und zu uns selbst, wie sie Plessner beschrieben hat. Diese Position ermöglicht ein reflexives Verhältnis zu unserem naiven Vertrauen in die reale Substanz unserer Erinnerungen. Falsche Erinnerungen sind genauso real wie richtige Erinnerungen. Denn was sind Erinnerungen anderes als Wege, die wir gegangen sind? Und was sind Erfahrungen anderes, als auf dem Weg zu sein, wer weiß wohin? Wenn unsere Erinnerungen zu Sackgassen werden, wozu sind diese Erinnerungen dann noch gut?

Nicht die Falschheit oder Echtheit macht die Qualität unserer Erinnerungen aus, sondern ihr Potenzial, uns auf unserem Weg zu stärken. Offene Weite nannte das Buddha.

Mittwoch, 1. Februar 2023

Juli Zeh/Simon Urban, Zwischen Welten, München 2023

Zwischen Welten. Also nicht Zwischenwelten, sondern zwischen allen Stühlen; also: zwischen Stühlen. Zwei Menschen, ein Mann, eine Frau, die zusammen Germanistik in Münster studiert haben, und zwei, drei Jahre in einer WG zusammenlebten, treffen sich zwanzig Jahre später zufällig in Hamburg wieder, freuen sich, geraten in Streit, gehen im Zorn wieder auseinander und führen anschließend eine Brieffreundschaft; also e-mail und WhatsApp.

Sie fühlen sich zueinander hingezogen, leben aber zwei völlig konträre Leben. Als Leser (oder Leserin) bleibt es nicht aus, daß man sich im einen oder in der anderen wiedererkennt; in Stefan oder in Teresa. Der Streithandel, den sie leidenschaftlich gegeneinander austragen, ist auch der eigene Streithandel. Ich ergreife Partei: für Teresa gegen Stefan.

Stefan ist ein arrogantes Arschloch, das gerne anderer Leute Bewußtsein korrigiert, im Namen einer besseren Welt. Auch Teresa, die er liebt und die ihn nur mag, bleibt davon nicht verschont. Immer wieder läßt er sie spüren, daß er sie für geistig unterlegen hält, so z.B., als sie ihm vorwirft keinen Humor zu haben: „Ich diskutiere mit einer Landwirtin aus Brandenburg über Politik – welchen Beweis, dass ich Humor habe, brauchst Du noch?“ (Zeh/Urban 2023, S.113) – Oder: „Ich beschäftige mich beruflich mit diesen Themen. Du nicht. Wie soll da ein Gespräch auf Augenhöhe gelingen?“ (Zeh/Urban 2023, S.174) – Oder: „Mit Verlaub, Tessa, aber das verstehst du nicht. Wirklich nicht.“ (Zeh/Urban 2023, S.265)

Die Quelle von Stefans ‚white supremacy‘, vielleicht ‚male supremacy‘, wie er es nennen würde, wenn er zu so was wie Selbstreflexion in der Lage wäre, ist seine Position als stellvertretender Chefredakteur des Boten in Hamburg, einer Wochenzeitschrift, in der man unschwer DIE ZEIT wiedererkennt, während Teresa nur eine Kuhbäuerin in Brandenburg ist. Stefans e-mail-Texte sind komplett durchgegendert. Mein Lieblingssternchenwort ist „Künstler*innenfreund*innen“ (vgl. Zeh/Urban, S.121): zwei Sternchen in einem Wort!

Seine Texte erinnern mich an Formulare zur Erfassung der Identität von Leserinnen und Lesern: bitte ankreuzen, was zutrifft. Erst danach ist man befugt, sich dem Inhalt zuzuwenden.

Natürlich fühlt sich Stefan verpflichtet, Teresa über den Feminismus zu belehren. Welche Überheblichkeit!

Und Teresa? – Nach ihrem Studium hat sie den Hof ihres Vaters übernommen, und zweihundert Milchkühe. Sie liebt ihre Kühe, will ihnen ein würdiges Leben ermöglichen, weigert sich, den Mutterkühen ihre neugeborenen Kälbchen wegzunehmen, um den Milchertrag zu erhöhen. Und sie fühlt sich für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Sie ist die größte bzw. einzige Arbeitgeberin des Dorfes, kann sich aber ihre Belegschaft eigentlich gar nicht leisten. Trotzdem entläßt sie einen ihrer Mitarbeiter erst, als er versucht sie zu vergewaltigen, und nicht schon vorher wegen seiner Trunkenheit und Fahrlässigkeit als Fahrer ihrer Landwirtschaftsmaschinen. Und sie hat trotzdem noch Gewissensbisse.

Ihren Hof kann sie gerade so halten, an der Schwelle zur Insolvenz, in ständigem Kleinkrieg mit Agrarverordnungen und Anträgen, die am Ende dann doch wieder abgelehnt werden aus Gründen, deren Willkür die Antragsstellerin an ihrem Verstand zweifeln läßt. Wenn sie sich bei Stefan beklagt, muß sie sich Belehrungen über die Schuld der Landwirtschaft am Klimawandel anhören und setzt sich sogar seinem Verdacht aus, Querdenkerin zu sein und der AFD nahezustehen.

Wenn ich Teresas e-mails lese, lese ich von einem offline-Leben, das Leben einer Frau, die mit beiden Beinen in der analogen Realität steht. So z.B. wenn sie schreibt: „Für mich sind deine Schilderungen Nachrichten aus einer fremden Welt. Dispatches from elsewhere. Ob du es glaubst oder nicht – ich musste nicht nur ‚White Supremacy‘ googeln, sondern auch ‚Thermomix‘.“ (Zeh/Urban 2023, S.30)

Geht mir genauso beim Lesen von Stefans Texten. Aber ich googel sein Newspeak nicht. Ich habe nicht den Ehrgeiz, meine offline-Blase damit zu bereichern. Das Hauptkennzeichen einer solchen Blase ist es nämlich, zu keiner Blase zu gehören, sondern sich selbst zu genügen. Gehören Blogs eigentlich zur social media? Meiner jedenfalls nicht. Likes sind bei mir nicht zugelassen und Kommentare sind rar gesät. Mein Blog ist meine Nische. Jenseits von Shitstorm und Medienhype. Meine perönliche online gestellte offline-Blase.

Dann aber gerät einiges durcheinander bei Stefan und Teresa. Er erlebt, wie sein väterlicher Freund Flori Sota, Chefredakteur des Boten, der mit seiner ironischen Art (und auch seine Talkshows werden erwähnt) an Giovanni di Lorenzo erinnert, durch einen Shitstorm – der Mob versteht keine Ironie – vernichtet wird. Gleichzeitig erlebt er, wie sich Teresa, die mit ihrem Hof in eine immer ausweglosere Situation gerät, radikalisiert und sich in eine Aktivistin für die Interessen der Landwirte verwandelt. Beide kommen einander immer näher, und an einem Punkt, an dem sie kurz davor sind, zu einem Liebespaar zu werden, gelangt Stefan zu Einsichten, die ihn dazu veranlassen, sich von seiner früheren PC-Korrektheit (ich weiß, das ist ein Pleonasmus) zu distanzieren:
„Wir alle sind Zufällen und Schicksalsschlägen unterworfen, niemand von uns kann die Außenwelt, die Mitmenschen wirklich beeinflussen. (Wenn ich in meinem Leben gerade etwas lerne, dann das!) Es gibt im Grunde nur eine einzige Sache, über die wir wirklich Gewalt haben – unseren eigenen Kopf, unser Denken und Handeln.“ (Zeh/Urban 2023, S.350)
Und Stefan beginnt sich Fragen zu stellen, die die Grundfesten seiner bisherigen so sorgfältig wie selbstgerecht eingerichteten Welt ins Wanken bringen:
„Ist Kommunikation zu einem kollektiven Verbrechen geworden, das jeden zum Täter macht, der sich daran beteiligt? Ist Unschuld heutzutage nur noch im Funkloch möglich – oder nachdem man alle Smartphones, Tablets und Notebooks in den Müll geworfen hat?“ (Zeh/Urban 2023, S.369)
Das Textbild seiner e-mails hat sich geändert. Sie sind zum Fließtext geworden; nicht mehr unterbrochen von Gendersternchen.

Aber während Teresa untertaucht und allmählich verschwindet – ‚ghosting‘ nennt man das wohl auch –, währt dieser Moment der Klarsicht nicht lange. Nachdem der Shitstorm Flori Sotas Familie in die Emigration getrieben und ihn selbst zerbrochen hat, ist der Chefredakteursposten freigeworden, und der wird ihm nun angeboten, im Doppel mit der PoC Carla vom online-Ressort. Stefan kann nicht widerstehen und träumt wieder davon, Teil einer besseren Welt sein zu dürfen, als Kapitän des zur „Bot*in“ umgetauften Flaggschiffs einer auf politischkorrekte Haltung verpflichteten Presse. – Und er beginnt wieder zu gendern.

* * *

Das ist meine Zusammenfassung dieses Buches; des Romans, denn so wollen Autorin und Autor ihr Buch verstanden wissen. Wir haben es also mit einer Fiktionalisierung zu tun, die nicht mit der Realität gleichgesetzt werden will. Jede und jeder kann sich einen eigenen Reim darauf machen. Und seine Position festlegen. Mein Vorschlag: zwischen den Stühlen.