„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 24. Februar 2023

24. Februar 2022 – Ein Jahr Krieg in Europa

Das vergangene Jahr hat bisherige Gesinnungen und Haltungen durcheinandergewürfelt. Putins Krieg stellt uns alle vor die Aufgabe, unsere globale Verantwortung, die die regionale Katastrophe übersteigt, zu hinterfragen. Ein grundlegender Disput wird darüber geführt, ob mehr Waffenlieferungen an die Ukraine oder ein Stopp von Waffenlieferungen und der Beginn von Verhandlungen ein Ende des Krieges herbeiführen können.

Ich beschränke mich auf die deutsche Diskussion und auf die Frage ‚Waffenlieferungen versus Verhandlungen‘, die die deutsche Diskussion das Jahr über geprägt hat.

Einig sind sich Befürworter und Gegner von Waffenlieferungen – ich lasse jetzt mal die AfD außer acht –, daß Putin verantwortlich ist für den Angriffskrieg. Was ihn zu einem Kriegsverbrecher macht. Ebenfalls einig sind sich Befürworter und Gegner auch darin, daß mit diesem Angriffskrieg weitere zahlreiche Kriegsverbrechen einhergegangen sind und weiterhin einhergehen, für die ebenfalls Putin verantwortlich ist.

Wovor sich die Gegner von Waffenlieferungen vor allem fürchten, sind Putins Drohungen mit einem Atomschlag. Worüber sie sich am meisten sorgen, ist der fortdauernde Verlust von Menschenleben, dem ein Ende gesetzt werden muß. Dazu müsse Putin die Gelegenheit gegeben werden, gesichtswahrend aus der ausweglosen Lage, in die er sich selbst hineinmanövriert habe, herauszukommen. Es gab und gibt sogar Stimmen, die auf legitime Interessen Putins verweisen, da er glaube, sich vor der näherrückenden NATO und anderen Provokationen des Westen schützen zu müssen.

Die Befürworter von Waffenlieferungen verweisen auf Putins bisheriges Verhalten, sowohl seit dem Tschetschenienkrieg, seiner Intervention in Syrien und seit der Besetzung der Krim und der Ost-Ukraine, als auch im aktuellen Angriffskrieg. Nichts deutet daraufhin, daß Putin bereit ist, irgendeines seiner Kriegsziele von 24.02.2022 aufzugeben. Im Gegenteil läßt Putin keinen Zweifel daran, daß es ihm um die völlige Vernichtung der Ukraine und um eine nachhaltige Schwächung der liberalen Demokratien in der EU und ihrer Werte geht. Wir haben es also auch mit einem Kulturkampf zu tun.

Für mich ist zweifelsfrei, daß Putins sogenannte Interessen keinerlei Legitimität besitzen und deshalb ein Waffenstillstand oder ein Verhandlungsfrieden, der auf Kosten der Interessen der Ukrainer geht, die ihr Territorium verteidigen, nicht in Frage kommt. Abgesehen von der fehlenden Legitimität ist davon auszugehen, daß kein Waffenstillstand Putin daran hindern wird, seine territorialen Ziele weiter zu vefolgen. Und kein Waffenstillstand wird Putin davon abhalten, die Menschen in den von ihm besetzten Gebieten zu mißbrauchen, zu demütigen und zu terrorisieren.

Mit einem Kriegsverbrecher darf es keine Verhandlungen geben. Es gibt nur eine Lösung des Problems Putin: seine vollständige Entmachtung und irgendwann ein Prozeß als Kriegsverbrecher.

Ich teile weder die Ängste noch die Hoffnungen der Gegner von Waffenlieferungen. Sie fürchten sich vor einer nuklearen Eskalation und hoffen auf einen Verhandlungsfrieden mit Putin. Ich fürchte mich mehr vor Putin als vor einer nuklearen Eskalation, und ich erhoffe mir für die Ukraine einen echten Frieden, der die Würde der Menschen wahrt, statt eines Scheinfriedens, der Putins Angstregime kein Ende setzt. Ich erhoffe mir für die Ukraine eine Staatlichkeit, die vor Putins Zugriff geschützt ist.

Überleben ist zu wenig.

Die Gefahr einer nuklearen Eskalation übersteigt mein Angspotenzial, zerprengt sie in viele kleine Stücke. Meine Furcht ist geringer, bescheidener: ich fürchte mich davor, daß wir unter dem Schatten der atomaren Bedrohung verstummen; daß wir uns entmutigen lassen und uns Putins Angstregime unterwerfen. Außerdem fürchte ich eine dauerhafte Beschädigung des Völkerrechts, die es unmöglich machen würde, uns der eigentlichen Menschheitsaufgabe zu stellen, die in der Bewahrung der planetaren Lebensgrundlagen besteht. Eine Beschädigung oder gar Zerstörung der globalen Rechtsordnung würde dazu beitragen, daß die Zerstörung des Planeten ungehindert ihren Fortgang nehmen kann.

Eines der kleineren Übel scheint es zu sein, daß wir wieder in Gruppen denken, seit Putin sich ein russisches ‚Volk‘ zusammenphantasiert hat, das einer heiligen Mission verpflichtet ist. Ich halte es aber für ein großes Übel, das zu den Ursachen unseres globalen Desasters zählt. Wieder wird von den Russen, den Ukrainern, dem Westen, China etc. gesprochen, eine abkürzende Redeweise, die zu einem verkürzten Denken führt. Das ‚Volk‘ ist die Droge, mit der Putin seinen Krieg legitimiert.

Wenn vom Völkerrecht die Rede ist, sollten deshalb die damit verbundenen Völkerrechtssubjekte nicht mehr ‚Völker‘, sondern Staatsbürger sein. Geographie, Staatsbürgerschaft und Kultur formen keinen metaphysischen Volkskörper.

Das russische ‚Volk‘ ist mir gleichgültig. Es gibt kein russisches Volk, nur eine Bevölkerungsmehrheit, die ihrer eigenen Unterdrückung durch Putin zustimmt. Jenseits solcher demoskopischen Daten erhoffe ich mir aber für die Menschen in Rußland, daß dort irgendwann wieder Platz fürs Denken sein wird. Daß sich denkende Menschen nicht mehr schweigend wegducken oder auswandern müssen; daß sie nicht mehr eingesperrt werden oder schlimmeres.

Das sind meine Ängste und meine Hoffnungen, die mich Putins Angriffskrieg in diesem Jahr gelehrt hat. Wenn andere anders empfinden, anders denken, ist das in Ordnung. So soll es sein. Ich kann auch nicht für die Menschen in der Ukraine reden. Ich wollte nur an dieser Stelle meinen Empfindungen, nach einem Jahr Krieg in Europa, Ausdruck geben.

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