„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 9. Februar 2023

Erinnerungen: das Intimste und das Fremdeste

Ich habe vergangenen Sonntag einen DLF-Wissenschaftspodcast gehört: über manipulierte Erinnerungen. Er hat mich erschüttert. Daß unser Gedächtnis manipulierbar ist, war mir nichts Neues. Aber das Ausmaß der grenzenlosen Formbarkeit unseres Bewußtseins durch Autoritäten, durch eine Gruppe, machte mir Angst. Was in diesem Podcast berichtet wurde, läuft darauf hinaus, daß es überhaupt keine verläßliche Realität gibt; daß das, was zwischen Menschen geschieht, jederzeit anders erinnert werden kann, als es in der Situation selbst erlebt wurde. Das Intimste zwischen zwei Menschen kann jederzeit und unerwartet zum Fremdesten werden, so daß vertraute Lebenswege in Sackgassen enden.

Das Intimste zwischen zwei Menschen sind ihre gemeinsamen Erinnerungen an etwas gemeinsam Erlebtes. Denn auch wenn sich diese Erinnerungen bei der einen und dem anderen im Detail unterscheiden mögen – und das tun sie eigentlich immer –, stiften sie doch eine Bindung. Sollten gemeinsame Erinnerungen – oder anders: Erinnerungen an einstmals Gemeinsames – zwei Menschen nicht mehr aneinander binden, sondern entzweien, so liegt die Ursache meistens in einem Mißbrauch, entweder im Erleben der beiden selbst oder in ihre Zweiheit hineingetragen durch die Gruppe, wie es eine Betroffene in dem Podcast berichtet.

Sie hatte sich einem Institut anvertraut, um sich dort zur Heilpraktikerin ausbilden zu lassen. Zur Ausbildung gehörte eine Therapie, und die Therapeuten, eine Gruppe aus Institutsmitarbeitern und dazu die Auszubildenden, fokussierten, wie sich hinterher herausstellte gewohnheitsmäßig, diese Therapie auf die Kindheit der Probandin. Dabei wurde vor allem nach ‚verdrängten‘ Erfahrungen gesucht; also nach Mißbrauchserfahrungen. Die Suggestionswirkung der Therapien war so enorm, daß alle Auszubildenden Mißbrauchserfahrungen ‚erinnerten‘. Die Folge war stets ein unheilbarer Bruch mit der Familie oder dem ehemaligen Partner.

Noch einmal: was einst das Intimste gewesen war, wird so zum Fremdesten.

Inzwischen breitet sich übrigens in der Psychologenzunft die Einsicht aus, daß es so etwas wie verdrängte Erinnerungen nicht gibt. Gerade traumatische Mißbraucherfahrungen haben die Eigenschaft, aufdringlich präsent zu sein und eben nicht vergessen werden zu können.

Das Problem mit Erinnerungen ist ihre narrative Struktur. Sie sind nicht durch Fakten falsifizierbar, denn um etwas mit ihnen anfangen zu können, müssen Fakten interpretiert werden. Diese Interpretationen (Narrationen) wiederum sind durch unsere bisherigen Erinnerungen gefärbt, und auch diese Erinnerungen sind, leider oder glücklicherweise?, jederzeit durch andere Menschen oder neu Erlebtes neu einfärbbar. Das macht unsere Erinnerungen so widerständig: sie kehren, wenn auch modifiziert, immer wieder und lassen sich nicht verdrängen. Wir haben keine Macht darüber, wie sie kommen und gehen. Die Eigenständigkeit dieser plastischen Narrationen ist das, was Husserl und Blumenberg ‚Lebenswelt‘ nennen.

Zugleich aber ist gerade diese lebensweltliche Permanenz der Grund für die Manipulierbarkeit unserer Erinnerungen. Nichts ist leichter, als Erinnerungen durch konträre Erinnerungen zu ersetzen, wenn die Manipulatoren als Gruppe auftreten; denn die Gruppe tritt immer mit der Autorität einer Lebenswelt in Erscheinung. Das Erleben von Zweien jenseits der Gruppe kann sich nicht zu einer dauerhaften Erinnerung verfestigen, wenn die Gruppe es nicht zuläßt, und bestehende Erinnerungen wie die von der Mutter und der Tochter, von derem Schicksal der Podcast erzählt, verlieren ihre Gültigkeit, wenn die Kinder ihre Familie verlassen und andere Milieus kennenlernen.

Die erwähnte betroffene Frau hatte nach ihrer Therapie einige irritierende Erlebnisse, aufgrund deren sie ihre neuen, durch die Therapie induzierten Erinnerungen anzuzweifeln begann. Sie befreite sich aus ihrem Bann, stand aber nun vor einem Trümmerhaufen. Was früher wahr gewesen war, ließ sich nicht mehr reparieren. Und dann entscheidet sich ihre eigene Tochter für eine Ausbildung als Heilpraktikerin in demselben Institut, das einen guten Ruf hat, und hört nicht auf die Warnungen ihrer Mutter. Und wieder geschieht es, daß aufgrund der zur Ausbildung gehörenden Therapie in ihr ‚verdrängte‘ Erinnerungen gefunden werden. Und es wiederholt sich der Bruch zwischen dieser Tochter und ihrer Mutter, den diese schon zuvor mit ihren eigenen Eltern und Großeltern erlebt hatte.

Der Mißbrauch lauert überall, und er hat vielerlei Gestalt. Da ist die Familie selbst, die immer schon mißbrauchsaffin ist, weil es für die intimen Erfahrungen innerhalb einer Familie, die ein Schutzraum für Kinder ist oder sein sollte, keinen Schutzraum gegen die Familie selbst gibt, es sei denn er läge in der Verantwortung der erwachsenen Bezugspersonen.

Aber dann gibt es eben auch die außerfamiliären Gruppen, und ich vermeide es bewußt, hier von Gemeinschaften oder von Gesellschaft zu sprechen. Begriffe wie Gemeinschaft und Gesellschaft sind mir zu anspruchsvoll. Ich bevorzuge die nüchterne Bezeichnung ‚Gruppeninteresse‘. Die Gruppen verfolgen immer nur ihre eigenen Interessen, und es ist der Gruppe gleichgültig, ob ihre Interessen mit den Interessen einzelner Menschen übereinstimmen. Wenn sie das nicht tun, wirst du vernichtet.

In früheren Zeiten sorgten Initiationsriten dafür, daß das neu aufzunehmende Gruppenmitglied immer nur die Gruppeninteressen verfolgt. Die Therapie, von der der Podcast berichtet, gleicht so einem Initiationsritus.

Es kam zu einer letzten Begegnung zwischen der Mutter und der Tochter, um dieser einige Gegenstände, um die sie gebeten hatte, zu übergeben. Die Mutter hatte sich ein paar Worte zurechtgelegt, die sie sagen wollte, aber die Tochter kam in Begleitung von Mitarbeitern des Instituts; zu ihrem ,Schutz‘. So war die Chance eines letzten klärenden Gesprächs dahin.

Unsere Erinnerungen sind unsere Wahrnehmungen bzw. sie waren einmal unsere Wahrnehmungen, und deshalb steht in ihnen unsere Wahrnehmung überhaupt auf dem Spiel. Welche Chance haben wir, wenn sich ein Satz Erinnerungen so einfach durch einen Satz von anderen Erinnerungen austauschen läßt? – Die einzige Chance besteht darin, zu wissen, daß Gruppen nur so lange Macht über uns haben, wie wir nicht merken, daß sie ihre eigenen Interessen verfolgen. In dem Moment, wo Du das erkennst, haben sie ihre Macht verloren.

Die beste, weil einzige Antwort auf das Problem der falschen Erinnerungen besteht in der exzentrischen Position zur Welt und zu uns selbst, wie sie Plessner beschrieben hat. Diese Position ermöglicht ein reflexives Verhältnis zu unserem naiven Vertrauen in die reale Substanz unserer Erinnerungen. Falsche Erinnerungen sind genauso real wie richtige Erinnerungen. Denn was sind Erinnerungen anderes als Wege, die wir gegangen sind? Und was sind Erfahrungen anderes, als auf dem Weg zu sein, wer weiß wohin? Wenn unsere Erinnerungen zu Sackgassen werden, wozu sind diese Erinnerungen dann noch gut?

Nicht die Falschheit oder Echtheit macht die Qualität unserer Erinnerungen aus, sondern ihr Potenzial, uns auf unserem Weg zu stärken. Offene Weite nannte das Buddha.

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