„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. September 2019

Kinderwunsch

Svenja Flaßpöhlers und Florian Werners Buch „Zur Welt kommen. Elternschaft als philosophisches Abenteuer“ (2019) ist geistreich und amüsant. Es regt gleichermaßen zum Nachdenken und Schmunzeln an und widerlegt en passant am Beispiel der eigenen Kinder des Autorenpaares den Poststrukturalismus und den Genderfeminismus. In folgender Textstelle hebt Flaßpöhler die überragende Bedeutung der Mutterschaft im Vergleich zur Vaterschaft hervor:
„Denn ja, es gibt in sexueller Hinsicht eine Unwucht durch die kaum zu leugnende, ungleich größere und – schnallt euch an, liebe Postfeministinnen – biologisch begründete körperliche Nähe zwischen Kind und Mutter in den ersten Lebensjahren.“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.67)
Aufgrund dieser biologisch begründeten Unwucht zwischen Mutterschaft und Vaterschaft plädiert Flaßpöhler sogar für eine symbolische Aufwertung des Vaters, der den Kindern wenigstens seinen Namen überlassen können soll, um auch eine gewisse Rolle im Leben der Kinder zu spielen. Dieser Vater, Florian Werner, will diese Notwendigkeit allerdings nicht so recht einsehen, was Flaßpöhler zu dem Stoßseufzer veranlaßt: „Versteh einer die Männer.“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.87)

Was würde Judith Butler dazu sagen? In ihrem Essay „Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?“ in „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (Frankfurt a.M. 2009, S.167ff.) verweist sie auf die französische Philosophin Sylviane Agacinsky, die in einem Leitartikel im „Le Monde“ den Geschlechtsunterschied ganz ähnlich wie Flaßpöhler als „unwiderlegbar biologisch“ bezeichnet hatte. (Vgl. Butler 2009, S.194) Agacinsky wertet allerdings gleichzeitig nicht-heterosexuelle Verwandtschaftsstrukturen ab, indem sie Homosexuellen die Befürwortung „‚unnatürliche(r)‘ Praktiken“ vorwirft, insbesondere was die positive Bewertung biotechnologischer Reproduktionsmethoden betrifft. (Vgl. Butler 2009, S.205f.) Das macht es Butler wiederum leicht, Agacinsky vorzuwerfen, an der „Wiederkehr des Faschismus“ beteiligt zu sein. (Vgl. ebenda)

Geht’s auch eine Nummer kleiner? Dieser automatische Reflex, alle möglichen Formen der Technologieverweigerung dem Faschismusverdacht auszusetzen, ist weniger ideologiekritisch begründet, als vielmehr Symptom einer Diskussionsverweigerung. Mir geht es hier nicht darum, Agacinskys Position gegenüber der Homosexualität zu verteidigen. Aber nicht alles, was der Durchsetzung von wie auch immer begründeten ‚Rechten‘ zu dienen scheint – wie etwa die biotechnologisch ermöglichte Bereitstellung von Nachkommenschaft, damit auch Homosexuelle in den Genuß einer durch Blutsbande gestifteten Familie gelangen können –, ist politisch und moralisch tatsächlich auch begrüßenswert.

Judith Butler macht es sich allzu leicht, Agacinskys Position politisch zu verwerfen und einen Nexus zwischen der zwangsheterosexuellen Matrix, der Technologieskepsis und der Homosexuellenfeindlichkeit zu unterstellen. Wozu dann auch die skeptische Haltung von Flaßpöhler und Werner gegenüber reproduktionstechnologischen Eingriffen zu zählen wäre. Als die beiden sich ein zweites Kind wünschen und dieses Kind auf sich warten läßt, verweigern sie sich der technologischen Option:
„Ich wollte mich nicht auf einen Frauenarztstuhl setzen und von einer Spritze befruchten lassen. Allein die Vorstellung empfand ich als erniedrigend, demütigend, würdelos.“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.112)
Dieser für mich sehr nachvollziehbaren Einstellung zum Kinderwunsch als etwas, dessen Erfüllung letztlich dem Zufall überlassen bleiben sollte – als eine natürliche Grenze jeder Familienplanung –, entspricht Agacinskys Festellung, daß es „kein absolutes Recht auf ein Kind gibt“. (Vgl. Butler 2009, S.194) – Um dieser Meinung zu sein, muß man nicht homosexuellenfeindlich sein. So wenig wie Flaßpöhlers Ansicht, daß Mutterliebe das Normale sei und die Ablehnung des eigenen Kindes eine Abweichung von diesem Normalfall bilde, frauenfeindlich ist:
„Ist es wirklich überzeugend, im Zuge postmoderner Hegemoniekritik jede Abweichung nachgerade reflexhaft zu entpathologisieren?“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.50)
Ich denke schon, daß es Formen des Begehrens gibt, die als pathologisch begriffen werden sollten. Was ist z.B. von ‚Müttern‘ zu halten, die gemeinsam mit ihren Partnern die eigenen Kinder für Sex verkaufen? Oder man denke an die 1980er Jahre, als die Parteitage der Grünen von Vertretern der Pädophilenbewegung, die für ein Recht auf Sex mit Kindern eintrat, gekapert wurden? Von hier läßt sich die Linie weiterziehen zu den Mißbrauchsfällen in der Odenwaldschule: es waren maßgebliche Persönlichkeiten der sogenannten Landerziehungsheimbewegung, die Pädophilie als Qualifikationsmerkmal von Erziehern und Lehrern einstuften. – Zu den pathologischen sexuellen Orientierungen zählt auf jeden Fall der Mißbrauch von Kindern.

Für die meisten Formen des Begehrens jenseits der zwangsheterosexuellen Matrix gilt allerdings die Gleichwertigkeit. Davon bin ich überzeugt. Zu diesen einander gleichwertigen sexuellen Orientierungen gehört aber auch die Heterosexualität selbst, solange sie sich nicht als Teil der zwangsheterosexuellen Matrix zu erkennen gibt.

Ansonsten stimme ich Agacinsky ausdrücklich darin zu, daß es kein absolutes Recht auf Kinder gibt. Wenn Menschen, insbesondere Männer, unbedingt und um jeden Preis Kinder haben wollen, frage ich mich, welches Konzept von Selbsthabe dahintersteht; welches Verständnis von Eigentumsverhältnissen. Es gibt kein Recht auf Kinder, weder für homosexuelle noch für heterosexuelle Paare. Nicht in dem Sinne, daß sich daraus ein Recht auf die Bereitstellung und Bezahlung von Reproduktionstechnologien ableiten ließe. Allenfalls ließe sich für Frauen ein Recht auf Kinder begründen; aber auch hier kann es nur eingeschränkt gelten und nicht absolut. Es kann beim Kinderwunsch nicht um die Durchsetzung eines Willens um jeden Preis gehen! – Es gibt ‚Wunschkinder‘, die als Instrumente zur Kinderwunscherfüllung der Eltern dienen. Auch das ist Mißbrauch.

Es gibt so wenig ein Recht auf Kinder, wie es überhaupt ein Recht auf andere Menschen gibt. Wenn sich mir ein Mensch ‚gibt‘, so ist das eine Gabe. Aber es ist kein Recht! Dasselbe gilt für den Kinderwunsch.

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