„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 21. April 2020

Der sechste Gedanke




Heute vor zehn Jahren begann ich den Blog „Erkenntnisethik“. Als Datum wählte ich den Geburtstag meiner Mutter. Im September 2016 ist sie gestorben. Es war kein schöner Tod, morgens um 4:00 im Krankenhaus, allein, ungetröstet, in Unfrieden mit sich und ihrem Alter. Meine Mutter starb einen einsamen Tod nachts im Krankenhaus, ohne Abschied von denen, die sie liebte.

Ich beende diesen Blog, weil er mir zwar einiges gebracht hat, Erkenntnisgewinn, das Gefühl einer gewissen Selbstermächtigung im Dienste der Selbsterhaltung unter Lebensumständen, auf die ich hier nicht weiter eingehen will. Für dieses mit dem Blog verbundene Gefühl bin ich dankbar. Allerdings hat mir der Blog nicht gebracht, was ich mir darüber hinaus von ihm erhofft hatte, das Gespräch mit Mitdenkenden, eine Art Gemeinschaft des Geistes, wie sie Plessner in „Die Grenzen der Gemeinschaft“ beschreibt. Die Besucher meines Blogs blieben zumeist stumm. Ich las und schrieb einsam vor mich hin.

Letztlich muß ich bekennen: ich verstehe bis heute nicht, was ich getan habe, als ich diesen Blog betrieb. Ich habe nicht verstanden und verstehe auch heute nicht, was er bewirkt bzw. bewirkt hat, wenn überhaupt. Ich verstehe bis heute nicht, was ich tue, wenn ich durchs Internet surfe, und ich verstehe meine Mitmenschen nicht, was sie tun und warum sie es tun, wenn sie sich auf den verschiedenen Plattformen versammeln und ‚kommunizieren‘. Ich verstehe diese Welt nicht. Ich verstehe das Internet nicht.

Inzwischen habe ich die Inhalte meines Blogs aus ihm herausgezogen und auf Papier ausgedruckt. Eine weitere Erfahrung, für die ich dankbar bin. Denn beim Ausdrucken und flüchtigen zur Kenntnisnehmen dieser Inhalte kam mir mein sechster Gedanke, auf den ich schon vor einem Jahr an dieser Stelle hingewiesen hatte, daß es nämlich bei allem Denken und Schreiben nicht auf die Resultate ankommt, nicht auf die geistigen Höhenflüge und Abstraktionen. Intellektuelle Demut ist also angebracht.

Letztlich geht es vor allem darum, emotional anpassungsfähig und widerstandsfähig zu bleiben. Die Umstände unseres Lebens ändern sich auf gesellschaftlicher Ebene rapide, was zum einen mit der Globalisierung zu tun hat, zum anderen mit der Technologisierung der Lebenswelt, was beides dasselbe ist. Wer sich nicht anpaßt, geht unter; wer sich anpaßt auch, selbst dann, wenn er gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg hat. Es ist der Mensch, der untergeht. Und ich finde, es ist besser, sich nicht anzupassen und unterzugehen – denn am Ende geht es sowieso mit jedem von uns zu Ende –, anstatt sich anzupassen und trotzdem unterzugehen.

Während sich die Zahl der Ausdrucke und der Ordner mehrte, ging etwas in mir zuende. Was ich zum Ausdruck gebracht hatte, erstarrte zu Buchstaben auf 2000 Blatt beidseitig bedrucktem Din-A-4 Papier in 4 Leitzordnern, Times New Roman, 14-Punkt, Zeilenabstand 1,2. Totes Material. Tote Worte. Herausgewürgt aus einem lebendigen Empfinden und nun sauber abgeheftet zu Grabe getragen. Vielleicht wird ja so ein Stück des Weges frei, den ich noch zu gehen habe, eine Öffnung in eine nicht mehr so weite Zukunft mit einem absehbaren Ende, aber dennoch ein Weg, der mir noch zu gehen bleibt. Einen Weg, den ich nicht ändern kann, so wenig wie das Internet. Aber den ich im Unterschied zum Internet vielleicht verstehen kann. Und wenn ich ihn auch nicht verstehen sollte, so lohnt sich doch, wiederum im Unterschied zum Internet, zumindestens der Versuch.

Immerhin haben die vergangenen zehn Jahre „Erkenntnisethik“ den einen Zweck erfüllt, meiner wissenschaftlichen Ausbildung einen Sinn zu verleihen, nachdem ich die Universität hatte verlassen müssen. Statt eine berufliche Karriere einzuleiten, mündete meine Ausbildung in einen Bildungsweg, ‚Bildung‘ im humboldtschen Sinne gemeint. Sie ist also nicht verschwendet gewesen. Die vier Leitzordner beweisen es.

‚Bildung‘? – Im Deutschlandfunk hörte ich eine Sendung über Luxemburg. Das kleine Land investiert in eine Weltraumtechnologie, um Rohstoffe, die auf der Erde knapp geworden sind, auf dem Mond und auf Asteroiden abzubauen. Die Vernichtung der irdischen Ressourcen soll also für einen weiterhin ungebremst expandierenden Kapitalismus auf den Weltraum ausgedehnt werden. Bislang hatte ich davon nur in Büchern gelesen und in Filmen gesehen. Die Unternehmen – für Star-Trek-Fans: Enterprises – beginnen also allen Ernstes, gefördert von der Regierung von Luxemburg, die dafür nötigen Technologien zu entwickeln. Anstatt alle unsere intellektuellen und kreativen Potentiale auf die Einrichtung einer globalen und regionalen Kreislaufwirtschaft zu richten, geht es wiedermal nur darum, das ständige Wachstum von Profit und Konsum auch für die Zukunft sicherzustellen.

We go to outer space, to save the human race. Aber wie sich aktuell zeigt: ein Virus stellt alle Versprechen, die diese Zukunft betreffen, in Frage. Bevor die Flucht in den Weltraum beginnen kann, kollabiert die Globalisierung und alle mit ihr verbundenen Gewißheiten. Der Weltbürger wird in häusliche Quarantäne geschickt.

Was für ein Mensch wird aus dieser Quarantäne hervorgehen? – Wird er noch Bargeld in die Hand nehmen wollen? Wird home-schooling den Lehrer ersetzen? Wird der Einzelhandel durch die Krise endgültig marginalisiert und Amazon sich als großer Gewinner erweisen? Wird menschliche Nähe künftig durch anderthalb Meter Abstand und durch digitale Kommunikation definiert?

Die Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz, Stefanie Hubig, ist der Meinung, daß Corona Schulen im Bereich der Digitalisierung „einen Schub geben“ wird. Es ist seltsam, daß dieser Virus den technologischen Prozeß bestätigt, so als gäbe es zwischen beidem eine klammheimliche Sympathie.

Mein siebter Gedanke: Individualität ist ein Vorübergang; eine Brücke, die verrottet ist und nicht mehr trägt. Das ist meine Bildung. Sie wird zugrundegehen.

Aber auch das ist nur ein Gedanke. Und es kommt auf ihn nicht an.

Sonntag, 19. April 2020

Abschließendes zu Tomasello

Michael Tomasellos neues Buch „Mensch werden“ (2020) trägt den Untertitel „Eine Theorie der Ontogenese“. Dieser Fokus auf die Ontogenese liegt in der Konsequenz seiner bisherigen Bücher, die sich bislang mit dem Zusammenhang der biologischen und der kulturellen Entwicklungsprozesse an der Nahtstelle ontogenetischer Phänomene befaßt haben. Es ist gewissermaßen an der Zeit, daß sich Tomasello jetzt der individuellen Ontogenese selbst zuwendet.

Bei aller Anerkennung für die anthropologisch interessante Fülle von Details zur frühkindlichen Ontogenese des Menschen stören mich vor allem Begriffe wie „exekutive Selbstregulation“ und „kollektive Intentionalität“. Ich sehe hier im Unterschied zu früheren Büchern, insbesondere zu „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002), eine Verschiebung von Tomasellos Forschungsansatz weg von einer ausgewogenen, die Geisteswissenschaften einbeziehenden, hin zu einer primär naturwissenschaftlich ausgerichteten Methodik.

Kybernetik und Systemtheorie

Zunächst war ich versucht gewesen, Tomasellos Darstellung eines dreifach ausdifferenzierten Entwicklungsprozesses, in Tomasellos Worten die biologischen „Reifungsprozesse exprimierter Fähigkeiten“ (1), die „psychologische Entwicklung“ (2) und den „soziokulturellen Kontext“ (3) (vgl. Tomasello 2020, S.18), mit meinem eigenen Ansatz gleichzusetzen. Aber tatsächlich meint Tomasello mit der individuellen Ontogenese des Kindes in den ersten sieben Lebensjahren nicht den Menschen als individuelles Bewußtsein (2) auf der Grenze zwischen Biologie (1) und Kultur (3); stattdessen geht es Tomasello um die „Ontogenese der vernunftbasierten Rationalität und Moral von Kindern“ als Bestandteil einer „evolutionären Entwicklungsbiologie“. (Vgl. Tomasello 2020, S.66 und S.40)

Michael Tomasello beschreibt sein Konzept als einen „evolutionär fundierte(n) Ansatz mit Bezug auf die Ontogenese“, der „die ökologischen Herausforderungen und resultierenden Anpassungen für den Organismus in jeder Entwicklungsperiode aus sich selbst heraus deutlich macht“. (Vgl. Tomasello 2020, S.41) Wenn hier von „ökologischen Herausforderungen“ die Rede ist, wird deutlich, daß hermeneutische und phänomenologische Ansätze keine Rolle spielen. An deren Stelle treten kybernetische und systemtheoretische Begriffe wie „Äquilibration“, „kognitive Neuorganisation“, „Exekutivebene“, individuelle und soziale „Selbstregulation“ und „normative Selbststeuerung“. (Vgl. Tomasello 2020, S.60ff.)

Alle diese Begriffe sind Bewußtseinsersatzbegriffe, die dem Umstand geschuldet sind, daß sich Tomasello „auf das Handeln als primärer Analyseebene“ konzentrieren will. (Vgl. Tomasello 2020, S.64) Von dem Handeln der beobachteten Kinder her soll „indirekt“ auf „innere Prozesse“, also auf ihr Bewußtsein geschlossen werden. Zugleich hält Tomasello fest:
„Das bedeutet nicht, dass die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse irgendwie unwichtig oder problematisch sind; im Gegenteil, sie strukturieren alles.“ (Tomasello 2020, S.64)
Wir haben es also mit einer behavioristischen Methodik zu tun, die aber im Unterschied zum Behaviorismus das subjektive Bewußtsein nicht leugnet. Dennoch ist dieser Blick von außen auf das Verhalten von Kindern vergleichbar mit dem Konzept einer künstlichen Intelligenz, als hätten wir es mit von Algorithmen gesteuerten Maschinen zu tun. Tomasello läßt sich im Zusammenhang mit „Prozesse(n) exekutiver (normativer) Selbstregulation“, also schlicht mit Bezug auf das Selbstbewußtsein, dazu verleiten, von den „verschiedene(n) Perspektiven oder Auffassungen von etwas innerhalb ein und desselben kognitiven Arbeitsspeichers“ zu sprechen (vgl. Tomasello 2020, S.132; Hervorhebung – DZ), als handelte es sich bei der Rekursivität um ein Modul in einer Computerhardware. Das ist um so bemerkenswerter, als Tomasello sich an anderer Stelle ausdrücklich gegen „komputationsbasierte Theorien“ wendet. (Vgl. Tomasello 2020, S.265) Bewußtsein wird hier also als eine Form künstlicher Intelligenz konzeptioniert, so wie ja auch viele KI-Forscher immer mal wieder ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, daß im Zuge der Weiterentwicklung der KI zu einer allgemeinen KI so etwas wie Bewußtsein emergiert.

Mir geht es darum, daß es im Rahmen einer Ontogenese in Richtung auf eine vernünftige, moralbasierte Rationalität nicht angemessen ist, sich ausschließlich mit „ökologischen Herausforderungen und resultierenden Anpassungen“ zu befassen. Das war auch in Tomasellos früheren Büchern noch nicht so gewesen. In „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002) war Tomasello noch von einem Mix aus geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methodik ausgegangen. Dort ordnet er die Feldforschung den Geisteswissenschaften zu und die Laborexperimente den Naturwissenschaften. Die Feldforscher haben es mit reichhaltigen Kontexten zu tun, und die Laborexperimente sind kontextarm. Bei der Feldforschung gibt es also einen gesteigerten Interpretationsbedarf hinsichtlich der gesammelten Daten. Das geht wiederum mit der Notwendigkeit einer hohen phänomenologischen Sensibilität bei der Datenerhebung und eines hohen hermeneutischen Aufwands bei der Auswertung der gesammelten Daten einher.

In „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ hatte Tomasello noch ein Gespür dafür, daß ein methodischer Reduktionismus in der anthropologischen Forschung unangebracht ist. Das gilt um so mehr, wenn es um Fragen der (Onto-)Genese der menschlichen Moralität geht. Zwar gesteht Tomasello auch in seinem aktuellen Buch in seiner Methodendiskussion am Ende des Buches die Notwendigkeit einer „Verbindung von Labor- und Feldforschung“ ein (vgl. Tomasello 2020, S.478), bleibt dabei aber eine eingehendere bewußtseinstheoretische Erläuterung zum behavioristischen Aspekt seines ökologisch-systemtheoretischen Ansatzes, die auch geisteswissenschaftlichen Standards genügt, schuldig.

Was die menschliche Moralität betrifft, ist die Beschränkung auf die ersten sieben Lebensjahre zwar begründbar, aber zugleich auch begründungsbedürftig. Die ontogenetische Herausbildung einer universellen Vernunft reicht weit über die frühe Kindheit hinaus und umfaßt ein ganzes Menschenleben. Darauf wird noch einzugehen sein.

Ein auf Kybernetik und Systemtheorie beschränkter methodischer Reduktionismus scheitert daran, daß moralische Entscheidungen immer in reichhaltigen Kontexten gefällt werden müssen, die sich nicht einfach auf Fairneß hinsichtlich der Verteilung von Gütern reduzieren lassen. Selbst hier kann die an den Tag gelegte Fairneß vielfältige strategische Gründe haben, die sich wiederum nicht einfach auf Moral zurückführen lassen. Der moralische Akteur ist immer wieder gezwungen, die Situation zu interpretieren. Die unterschiedlichsten, ja sogar gegensätzlichen Entscheidungen lassen sich moralisch begründen, weil es dabei immer auf die individuelle Urteilskraft, also auf die Vorstellungen des moralischen Akteurs ankommt; und wie Tomasello in „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“ (2016) schreibt, lassen sich Vorstellungen nicht selektieren! (Vgl. Tomasello 2016, S.127) Auch im aktuellen Buch weist Tomasello auf diesen bemerkenswerten Umstand hin, ohne allerdings daraus irgendwelche Konsequenzen für seinen evolutionsbiologischen Ansatz zu ziehen:
„Ebenso wie Wissenschaftler an ihren zentralen theoretischen Überzeugungen festhalten, indem sie die empirischen Belege auf bestimmte Weisen interpretieren und konstruieren (), können Individuen auch ein Gefühl der zentralen moralischen Identität aufrechterhalten, obwohl sie Akte begehen, die andere für unmoralisch halten, indem sie die Situation auf kreative Weise interpretieren.“ (Tomasello 2020, S.413)
Kreative Interpreten ihres eigenen Handelns entziehen sich jedem notwendigerweise auf das Verhalten beschränkten evolutionären und kulturellen Selektionsmechanismus.

Die „Gesamtstruktur und Ontogenese der vernunftbasierten Rationalität und Moral von Kindern“ (Tomasello 2020, S.66) läßt sich also keinesfalls mit Hilfe einer kybernetisch-systemtheoretischen Begrifflichkeit erfassen. – Was aber soll die Begriffsbildung „vernunftbasierte Rationalität“ mit Bezug auf kleine Kinder bedeuten? Ohne weitere Differenzierung hinsichtlich einer Erwachsenenvernunft droht hier eine Rückprojektion von späteren Lebensphasen zuzuordnenden Kompetenzen auf kleine Kinder. Und schon was die Erwachsenen betrifft, bleibt der Vernunftbegriff klärungsbedürftig. Stattdessen setzt Tomasello aber unkritisch eine Jahrhunderttausende bis in die frühmenschlichen Ursprünge zurückreichende, sich in der frühkindlichen Ontogenese fortsetzende Entwicklungsgeschichte der Vernunftsrationalität voraus.

Um den Sachverhalt etwas zu vereinfachen will ich hier nicht bis zum Logos der griechischen Philosophie zurückgehen, sondern mich an die Aufklärung des 17. und 18. Jhdts. halten und mich dabei nur auf deren universellen Anspruch beziehen. Die von den Aufklärern behauptete Universalität der menschlichen Vernunft ist in der Praxis nie wirklich universell gewesen. Von Anfang an wurden in den letzten vierhundert Jahren stillschweigend, aber auch explizit bestimmte Gruppen von Menschen aus ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen. Die Vernunft ist immer schon, also im engeren Sinne auf ihre vierhundertjährige Geschichte bezogen, ein ambitioniertes Konzept gewesen, dessem universellen Anspruch bis heute nicht einmal die heutigen Erwachsenen dauerhaft gewachsen sind, dem sie sich aber gleichwohl stellen müssen.

Aber was die frühe Ontogenese betrifft, macht es keinen guten pädagogischen Sinn, schon Kleinkinder für vernunftsfähig zu erklären. Dabei geht es nicht darum, daß hier wiedermal eine Gruppe von Menschen von der Vernunft ausgeschlossen werden soll. Aber am Beispiel John Lockes können wir sehen, was es bedeutet, schon Dreijährige – John Locke: „Sobald sie sprechen können.“ – für vernunftsfähig zu erklären: das Ergebnis war eine schwarze Pädagogik, in der der eigene Wille des Kindes so lange brutal unterdrückt wurde, bis es nichts anderes mehr wollen konnte als die anderen. Ironischerweise belegt John Locke die Vernunftsfähigkeit kleiner Kinder mit einem Verweis auf ihre Empfindsamkeit für Stolz und Scham, wie sie auch Tomasello im Rahmen der kollektiven Intentionalität zur Grundlage für die Konstruktion einer moralischen Identität macht. Und zwar ebenfalls ab einem Alter von drei Jahren. (Vgl. Tomasello 2020, S.396ff. und S.416)

Letztlich geht es vor allem darum, daß Kinder ihre eigene Entwicklung durchlaufen können müssen, bevor sie für die Erwachsenenvernunft empfänglich sind. Das schreibt übrigens auch Tomasello. Die kooperativen Motive und Entwicklungen, so Tomasello, „sind nicht plötzlich in vollem Umfang vorhanden“:
„Sie entstehen durch einen zeitlich ausgedehnten Entwicklungsprozess, in dem Reifung, Erfahrung und exekutive Selbstregulation jeweils eine konstitutive Rolle spielen.“ (Tomasello 2020, S.274)
Allerdings umfaßt dieser „zeitlich ausgedehnte() Entwicklungsprozess“ mehr als nur die ersten sechs- bis sieben Lebensjahre.

Um den inneren Zuständen von kleinen Kindern gerecht zu werden, muß Rekursivität, ein zentrales Thema aller Bücher Tomasellos, auch des aktuellen Buches, im Zentrum des Forschungsansatzes stehen. Die Forscher müssen sich ständig in die Kinder hineinversetzen und die Welt aus ihrer Perspektive heraus sehen. Und sie müssen selbstverständlich auch rekursiv die rekursiven Grenzen frühkindlichen Denkens und Empfindens berücksichtigen. Was Tomasello übrigens auch ständig macht. Er beschränkt sich keineswegs nur auf die Beobachtung ihres Verhaltens. Dafür sind aber hermeneutische und phänomenologische Kompetenzen auf der Seite der Forscher unverzichtbar.

Zugleich aber bleibt der Schluß vom äußeren Verhalten auf die inneren Zustände eines Akteurs immer prekär. Die inneren Zustände sind rekursiv so mit den kommunikativen Kontexten verschränkt, daß jedes vermeintliche Motiv durch querliegende andere Motive beeinflußt wird und vielfach gebrochen ist und mit ein und demselben Verhalten die unterschiedlichsten Befindlichkeiten einhergehen können. Das tatsächliche Handeln ist letztlich nichts anderes als das Schwert, das den gordischen Knoten rekursiv verschränkter Motive durchhaut. Und das gilt insbesondere und vor allem für moralisches Handeln. Denn nur das Handeln, das einfach unserem Begehren folgt, ohne kontextuelle Rücksichten, ist vergleichsweise unkompliziert.

Tomasello selbst gesteht das Problem ein, wenn er schreibt, „dass die subjektive Perspektive eines einzelnen Individuums“ zu jedem „beliebigen Zeitpunkt übereinstimmen oder nicht übereinstimmen kann mit der objektiven Situation, wie sie unabhängig von dieser oder jeder beliebigen anderen besonderen Perspektive existiert“. (Vgl. Tomasello 2020, S.71) – Daß die „subjektive Perspektive eines einzelnen Individuums“ zu jedem „beliebigen Zeitpunkt“ übereinstimmen oder auch nicht übereinstimmen kann mit anderen Perspektiven, ist eine fundamentale hermeneutische Einsicht, die bei jeder anthropologischen Untersuchung der individuellen Ontogenese berücksichtigt werden muß. Das ist auch der Grund, warum moralische Zustände nicht selektiert werden können. Es gibt hier keine Kontinuität zwischen der individuellen Ontogenese und übergreifenden biologischen und kulturellen Entwicklungsprozessen, so daß es nichts gibt, was selektiert werden könnte. Die Selektion richtet sich nur auf das Verhalten; dieses ist aber nicht notwendig mit bestimmten inneren Zuständen verknüpft.

Was aber im letzten Zitat aus hermeneutischer und phänomenologischer Sicht in die falsche Richtung geht, ist der Hinweis auf unabhängig von beliebigen subjektiven Perspektiven bestehende objektive Situationen! Gemeint sind bestimmte Situationen bei Experimenten, die so arrangiert sind, daß ein Schimpanse bzw. ein Kind etwas sehen kann, was ein anderer Schimpanse oder ein Erwachsener aufgrund eines Hindernisses nicht sehen kann. Diese Situation ist natürlich gewollt kontextarm. Auch in vielen Alltagssituationen außerhalb solcher Laborexperimente verständigen wir uns relativ leicht auf solche objektiven Situationen. (Vgl. Tomasello 2020, S.104ff.)

Aber in vielen anderen Situationen ist diese Vorstellung von, von unserer subjektiven Perspektive unabhängigen, objektiven Situationen eher unterkomplex, und hier erweist sich die Unterscheidung zwischen subjektiver Einbildung und objektiver Situation für das menschliche Denken und Handeln als schlichtweg irrelevant. Wenn wir uns auf ein schwieriges Projekt, für das unsere Zusammenarbeit notwendig ist, verständigen wollen oder uns auf ein strittiges Thema einigen müssen, um unsere widersprüchlichen Perspektiven darauf zu klären, sind unsere Vorstellungen und Wertungen rekursiv so zwischen unserer eigenen subjektiven Perspektive und der subjektiven Perspektive der anderen, mit denen wir uns in dieser gemeinsamen (kommunikativen) Situation befinden, vermittelt, daß von einer „im Hintergrund“ ‚lauernden‘ „‚objektiven‘ Perspektive“ (vgl. Tomasello 2020, S.104) nicht mehr die Rede sein kann. Was hier im Hintergrund ‚lauert‘ ist unsere Lebenswelt; und sie bildet die kulturelle Basis unserer Sprachlichkeit.

Die in Tomasellos neuem Buch bevorzugte kybernetisch-systemtheoretische Methodik, die auf das methodische Potential der Geisteswissenschaften verzichtet, ist auch verantwortlich für die allzu schlicht geratene Narration des eingangs erwähnten dreifach ausdifferenzierten menschlichen Evolutionsprozesses. Mit der Beschränkung auf die ersten sieben Lebensjahre („Neunmonatsrevolution“ (vgl. Tomasello 2020, S.86ff.) und komplexe Empfindungen von Schuld und Scham ab drei Jahren (vgl. Tomasello 2020, S.397f. und S.416)) suggeriert Tomasello, daß die frühe Ontogenese des Menschen das Schimpansenerbe – wenn ich hier vom ‚Schimpansenerbe‘ spreche, meine ich damit den letzten gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen – hinter sich läßt und an die Stelle der Phylogenese die kulturelle Entwicklung tritt. Es stellt sich so der Eindruck von hintereinandergeschalteten Entwicklungsphasen ein. Ich gehe dagegen von Sedimentierungsprozessen aus, in denen verschiedene biologische und kulturelle Entwicklungsphasen im individuellen Unterbewußtsein virulent bleiben. Ich werde darauf zurückkommen.

Kollektive Intentionalität

Dabei berücksichtigt Tomasello nicht den merkwürdigen Umstand, daß sich im Jugend- und Erwachsenenalter, insbesondere bei Männern, die Rekursivität der geteilten Intentionalität zurückbildet. Bei Frauen ist das insofern anders, als sie aufgrund der Genderproblematik einem größeren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind und deshalb mehr darauf angewiesen sind, sich in ihre Mitmenschen hineinzuversetzen.

Aber ob es nun auf Männer mehr und auf Frauen weniger zutrifft oder nicht: diese Rückbildung geteilter Intentionalität bedroht uns alle. Ich erinnere mich, wie Ute Andresen, Schriftstellerin und Grundschulpädagogin, mir gegenüber mal vor vielen Jahren ihr Befremden über eine von ihr gemachte häufige Beobachtung zum Ausdruck brachte, nach der sich bei denselben Menschen, die als kleine Kinder mit offenen Augen vertrauensvoll in die Welt hinausschauen, dieser Blick, wenn sie älter werden, eintrübt, bis sie irgendwann nichts mehr sehen.

Ich sehe eine der Ursachen für dieses von Andresen angesprochene Erblinden in einem Phänomen, das man mit Tomasellos Begriffsbildung der „kollektiven Intentionalität“ bezeichnen könnte und das die individuelle Intentionalität mit der mit ihr verbundenen Rekursivität aus unserem Bewußtsein verdrängt. Bei Tomasellos „kollektiver Intentionalität“ handelt es sich um eine für mich nicht nachvollziehbare Begriffsbildung. Die „kollektive Intentionalität“ gehört zusammen mit der Exekutivfunktion zur problematischen Begrifflichkeit in Tomasellos neuem Buch. (Vgl. Tomasello 2020, S.35ff. u.ö.) ‚Kollektivität‘ meint bei Tomasello letztlich nichts anderes als Intersubjektivität. (Vgl. Tomasello 2020, S.179: hier führt Tomasello das Verstehen von Objektivität auf „Fertigkeiten kollektiver Intentionalität“ zurück.) Man könnte diesen Begriff auch auf die Lebenswelt beziehen, in die das einzelmenschliche Bewußtsein eingebettet ist. Tatsächlich aber ist die kollektive Intentionalität meiner Auffassung nach, anders als die gemeinsame Intentionalität, ein Gegenbegriff zur individuellen Intentionalität. Allenfalls die Sowjetpädagogik hatte keinen Widerspruch zwischen Individuum und Kollektiv gesehen.

Ich bin da jedenfalls anderer Auffassung und berufe mich dabei auf den Sprachgebrauch: ‚kollektiv‘ ist alles, was nicht individuell ist. Intersubjektivität ist schon deshalb nicht synonym zur Kollektivität, weil sie, anders als ein Kollektiv, Subjekte voraussetzt, die sich zu einander ins Verhältnis setzen. Tomasello bestätigt diesen Sprachgebrauch an verschiedenen Stellen, z.B. wo er die kollektive Intentionalität mit einem „Gruppengeist“ gleichsetzt. (Vgl. Tomasello 2020, S.117; zur „Konformität“ vgl. auch Tomasello 2020, S.196ff. und S.205ff.) An einer anderen Stelle beschreibt Tomasello die kollektive Intentionalität als eine „Hochskalierung (der Zweipersonalität – DZ) zur Selbstidentität der Gruppe“:
„Es ist die Einsicht, dass ‚wir‘ und jeder, der mutmaßlich einer von uns ist, uns die Dinge so (so und nicht anders! – DZ) vorstellen und handeln; das ist es, was wir sind.“ (Tomasello 2020, S.451)
Wenn ich also hier vom ‚Erblinden‘ spreche, so meine ich damit die Desensibilisierung des Menschen für individuelles Anderssein. Die unglückliche Begriffsprägung ‚Kollektive Intentionalität‘ steht für sich beschränkend auf unser rekursives Potential auswirkende und sich gegen Gruppenfremde richtende Gruppendynamiken („Gruppengeist“, „Konformität“). So kann Tomasello auch nicht mehr die mit der Zweitpersonalität verbundenen Möglichkeiten, solchen Gruppendynamiken entgegenzuwirken, erkennen. Er reduziert die Zweitpersonalität stattdessen auf eine Form von Drittpersonalität für Zweiergemeinschaften.

Sedimentierung

Zurück zur vermeintlichen Überwindung der konkurrenzorientierten Intentionalität des letzten gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen: immer wieder erweisen sich Erwachsene als weit weniger kooperativ als kleine Kinder. Im Alltag, das von einem auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystem geprägt ist, dem Kapitalismus, schlägt das vermeintlich überwundene Schimpansenerbe immer wieder durch. Aber auch Kinder sind nicht dauerhaft empathisch. In bestimmten Situationen können ältere Kinder, noch vor der Pubertät, grausam und rücksichtslos agieren. Selbst Kleinkinder im Alter von 14 bis 18 Monaten verlieren ihren ursprünglichen Altruismus, sobald sie für ihre uneigennützig angebotene Hilfe belohnt werden. (Vgl. Tomasello 2010/2008, S.22f.) Von nun an helfen sie nur noch gegen Belohnung; nicht anders als Schimpansen.

Gertrud Nunner-Winkler beschreibt, wie drei bis vierjährige Kinder ohne jedes Schuldgefühl einen Spielkameraden von der Schaukel stoßen, wenn ihnen gerade danach ist. Ihre Gefühle sind dabei völlig am Erfolg ihres Verhaltens orientiert. Die körperliche Unversehrtheit des Spielkameraden spielt dabei keine Rolle:
„Die Stabilität der amoralischen Emotionszuschreibung (sprich: die Erfolgsorientierung – DZ) zeigt, daß diese nicht ein bloßes Artefakt ist; jüngere Kinder erwarten in der Tat, daß ein Protagonist sich wohl fühlt, nachdem er eine moralische Regel, von der er sehr wohl weiß, daß sie gilt und warum sie gilt, übertreten hat, auch wenn er dadurch das Opfer gravierend schädigt und selbst keinen physisch greifbaren Nutzen daraus zieht. Diese Ergebnisse lassen das jüngere Kind fast als ‚amoralisch‘ erscheinen, als Wesen, das moralische Emotionen nicht kennt.“ (Gertrud Nunner-Winkler, Wissen und Wollen. Ein Beitrag zur frühkindlichen Moralentwicklung, in: Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung, hrsg.v. Axel Honneth, Thomas McCarthy, Claus Offe, Albrecht Wellmer, Frankfurt a.M. 1989, S.574-600: 590)
Ein krasses Beispiel für das virulent bleibende Schimpansenerbe ist der Drill auf einem Kasernenhof. Es gibt zwar erhebliche phänomenale Unterschiede zu einer Schimpansengruppe; aber das Aggressionspotential ist dasselbe, und die Rekursivität tendiert gegen Null. Mitdenken gilt nicht als eine soldatische Tugend.

Ein anderes Beispiel aus der aktuellen Corona-Krise bilden die völlig irrationalen und wenig kooperativen Hamsterkäufe beim Toilettenpapier. – Sicher gibt es in diesem Zusammenhang viele Gegenbeispiele von gegenseitiger Hilfe. So gibt es wissenschaftliche Studien zum Verhalten des Menschen in Naturkatastrophen: Überschwemmungen und Erdbeben, wo nicht etwa, wie man so meint, Gewalttaten und Plünderungen auf der Tagungsordnung stehen, sondern verblüffende Belege von gegenseitiger Hilfe bis hin zum selbstlosen Einsatz des eigenen Lebens alles andere dominieren. Vielleicht lassen solche akuten, plötzlich eintretenden Krisen Menschen, die sonst an Egoismus und Konkurrenz orientiert sind, in ihre ursprüngliche Natur zurückfallen.

Es geht hier nicht darum, das eine gegen das andere aufzurechnen, sondern es soll lediglich ein Hinweis darauf sein, daß wir es bei Kooperation und Rekursivität nicht einfach nur mit ontogenetisch verankerten „Reifungskomponenten“ zu tun haben. Was übrigens auch Tomasello schreibt. (Vgl. zum Perspektivenwechsel Tomasello 2020, S.99) Aber er berücksichtigt nur die, die Reifung kooperativer Fähigkeiten begleitenden, kulturellen Lernprozesse. Von einem möglicherweise über die frühe Ontogenese hinaus virulent bleibenden Schimpansenerbe ist bei ihm nirgendwo die Rede. Man täte an dieser Stelle allerdings auch wiederum den Schimpansen Unrecht, für die Frans de Waal Belege für empathisches Verhalten und Hilfsbereitschaft bringt, die so weit geht, daß dabei ebenfalls die eigene Unversehrtheit riskiert wird.

Tatsächlich ist dieses Schimpansenerbe keineswegs nur negativ. In „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002) führt Tomasello das individuelle Lernen darauf zurück. In Verbindung mit dem kulturellen Lernen ermöglicht es uns ab vier bis fünf Jahren kreative Sprünge, die die bloße Fixierung auf traditionelle Kontinuität überwinden und Innovationsschübe ermöglichen. (Vgl. Tomasello 2002, S.67) Allerdings taucht diese Erkenntnis aus „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ in seinem aktuellen Buch nicht mehr auf, was letztlich dazu führt, daß Tomasello mögliche Innovationsschübe nur noch behaupten, aber nicht mehr begründen kann. Stattdessen hebt Tomasello die durchgehende, ununterbrochene „Konformität“ in der frühen Ontogenese hervor. (Vgl. Tomasello 2020, S.196ff.) So muß man eigentlich sagen, daß Tomasello weniger von der Erwachsenenvernunft auf kleine Kinder zurückprojeziert als vielmehr von der frühen Ontogenese auf die Natur des Menschen.

Nirgendwo ein Schimpanse

Ich möchte hier nochmal kurz Tomasellos Entwicklungskonzept mit dem von Rousseau vergleichen. Jean-Jacques Rousseaus Entwicklungskonzept des Kindes beinhaltet zwei Phasen bis zur Pubertät, mit der die dritte Phase, das Jugendalter, beginnt. Die erste Phase ist die des Säuglings bzw. der Natur, in der die organischen Fähigkeiten des Saugens, des Weinens, des Sehens ausgebildet werden und in der sich allmählich Fähigkeiten des Greifens mit den Händen und die Beherrschung der übrigen Extremitäten entwickeln.

Die zweite Phase ist die des mobilen Kindes, das Alter, in dem das Kind vor allem von den Dingen lernt; den Dingen der natürlichen und der artifiziellen Umgebung. Im Alter der reifen Kindheit, zwei bis drei Jahre vor der Pubertät, ist dann das Kind so weit entwickelt, daß es seine Umgebung weitgehend beherrscht. Es ist in allen seinen Bedürfnissen autonom und bedarf keiner Hilfestellung durch die Erwachsenen mehr.

Erst mit dem Eintritt in die Pubertät entwickelt der jetzige Jugendliche Bedürfnisse, die ihn wieder von anderen Menschen abhängig machen. Es beginnt das Alter des kulturellen und sozialen Lernens, das „Alter der Vernunft“. Die ganze Kindheit über war das Kind ein asoziales Wesen, das ausschließlich an der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse ausgerichtet gewesen ist. Jede Einmischung des erwachsenen Menschen in die natürliche Entwicklung des Kindes bewertete Rousseau als Übel, weil sie das Kind daran hinderten, mit seinen Fähigkeiten bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu wachsen.

In Michael Tomasellos neuem Buch „Mensch werden“ wird ein zu Rousseau in allem gegenteiliges Konzept der frühen Ontogenese vertreten. Ab dem neunten Lebensmonat ist das kleine Kind völlig auf die Kommunikation mit erwachsenen Menschen angewiesen und ab dem dritten Lebensjahr geht der Erwerb von Fertigkeiten und Wissen zum überwiegenden Teil auf den ‚Unterricht‘, also auf die kulturelle Vermittlung der Erwachsenen zurück, und nur ein ganz geringer Teil ist auf die individuellen Erfahrungen des kleinen Kindes zurückzuführen. Das soziale und kulturelle Lernen ist für das kleine Kind nicht etwa schädlich, sondern überlebensnotwendig, und es hat sogar eine biologische Reifungskomponente. Das kleine Kind ist also nicht etwa asozial, wie Rousseau meinte, sondern von Natur aus sozial. Tomasello geht sogar so weit, Konformität mit der Gruppe zu einem herausragenden Merkmal dieses Lebensalters zu machen, ohne aber dabei zu klären, wo die altersgemäßen und sozialen Grenzen dieser Konformität liegen könnten.

Wenn ich weiter oben die Universalität des Vernunftanspruchs hervorgehoben habe, dann in dem Bewußtsein, daß Tomasello genau diese Vernunft nicht im Sinn hat, wenn er sechs- bis siebenjährige Kinder als ‚vernünftig‘ bezeichnet. Die ‚Vernunft‘, die er meint, verbleibt innerhalb der Grenzen einer Gruppe. (Vgl. Tomasello 2020, S.469f.) Vernünftig ist, wer mit seiner Gruppe ‚konform‘ ist. Sobald Kinder diese Konformität an den Tag legen, treten sie in das „Alter der Vernunft“ ein:
„In vielen (gewiss nicht in allen) Situationen denken die Kinder in diesem Alter nicht nur, sondern wissen auch, was sie denken, und sogar, was und wie man von ihnen erwartet, dass sie von einem normativ rationalen Standpunkt aus denken sollen. Das ermöglicht den Kindern dieses Alters zum ersten Mal, ihren Kopf mit einem Gleichaltrigen zusammenzustecken, um Dinge zu erwägen, Probleme so zu lösen, wie es für sie allein unmöglich wäre.“ (Tomasello 2020, S.270)
Dabei idealisiert Tomasello die Gruppen, zu denen sich Kinder zusammenfinden. Von Schimpansen heißt es: „Sie versuchen ständig, andere auszustechen, indem sie sie niederkämpfen, austricksen oder sie ihrer Freunde berauben.“ (Vgl. Tomasello 2020, S.278) In den Gruppen, zu denen sich sechs- bis siebenjährige Kinder zusammenfinden, haben wir es hingegen mit „ebenbürtigen Gleichaltrigen“ zu tun, unter denen „niemand eine Führungsrolle spielt“. (Vgl. Tomasello 2020, S.264) Also alles wunderbare kleine Erwachsene; erwachsener als viele große Erwachsene, die man so kennt. Und nirgendwo ein Schimpanse.

Es klingt fast so, als handelte es sich bei den von Tomasello beschriebenen Gleichaltrigengruppen sechs- bis siebenjähriger Kinder um die kleine Schwester der großen universellen Vernunft. Tatsächlich aber haben wir es Tomasello zufolge hier wie dort nur mit „kollektiv akzeptierten Gruppenstandards von Rationalität (Vernunft) und Moral (Verantwortlichkeit)“ zu tun, die durch eine „Eigengruppe/Fremdgruppe-Psychologie“ charakterisiert sind. (Vgl. Tomasello 2020, S.487 und S.360)

Wenn man sich die Fülle der von Tomasello vorgelegten anthropologischen Daten anschaut, scheint Rousseau mit seinem Entwicklungskonzept gründlich falsch zu liegen. Aber mir geht es nicht darum, empirische Daten gegeneinander auszuspielen. Man sollte sich besser fragen, vor welchem Hintergrund Rousseaus Entwicklungskonzept Sinn macht und welche ontogenetischen Phänomene von Tomasello nicht berücksichtigt werden.

Rousseau hat die Beobachtung gemacht, daß Kinder in den Städten, in denen sie aufwuchsen, vielfältigen schädlichen Einflüssen der Erwachsenengesellschaft ausgesetzt waren. Bevor sie überhaupt Kinder sein konnten, entwickelten sie schon lange vor der Pubertät die Bedürfnisse von Erwachsenen. Und bevor sie moralische Kompetenzen entwickeln konnten, orientierten sie sich an der Gier und der rücksichtslosen Konkurrenz der Erwachsenen um Prestige und Wohlstand.

Bei den Kindern auf dem Land beobachtete er hingegen, daß sie, bevor die Pubertät viel zu früh eintrat, die Chance hatten, Kinder zu sein, was für Rousseau bedeutete, ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse auszuleben. Deshalb setzt bei Rousseau die eigentliche Pädagogik erst mit der Pubertät ein. Erst jetzt, mit dem Einsetzen neuer biologischer und sozialer Bedürfnisse, werden Vernunft und Moral zu einem notwendigen Bestandteil der Entwicklung des Jugendlichen. Erst jetzt machen pädagogische Maßnahmen einen Sinn. Hier beginnt das eigentliche soziale und kulturelle Lernen. Rousseau nannte das die zweite Geburt des Menschen.

Tomasello konzentriert sich so sehr auf die frühe Ontogenese der ersten sieben Lebensjahre, daß er die spätere Entwicklung des Menschen aus dem Blick verliert. Der Mensch erklärt sich für ihn vollständig aus den ersten sieben Lebensjahren. Damit verfehlt er aber genau das, worum es eigentlich gehen sollte: um „Mensch“ zu „werden“, bedarf es eines ganzen Menschenlebens. Und dabei ist Konformität nicht nur eine Bedingung, sondern auch eine Gefährdung.

Fazit

Letztlich beschränkt sich das, was sich anhand von Tomasellos Untersuchungen belegen läßt, darauf, daß kleine Kinder ab neun Monaten auf kooperative Umgangsweisen besonders angewiesen sind, da sie nur so überleben können. Außerdem sieht alles danach aus, daß die frühen kooperativ-rekursiven Bedürfnisse von Kleinkindern die ontogenetische Basis für die einzigartige Sprachlichkeit des Menschen bilden, die uns vor den anderen Menschenaffen auszeichnet. Die ersten Adressaten von Kleinkindern sind deshalb Erwachsene, von denen sie Unterstützung erhalten und von denen sie sprechen lernen. Gleichaltrige Kleinkinder spielen füreinander keine Rolle. (Vgl. Tomasello 2020, S.89, 185f.u.ö.) Wenn sie sich dann ab dem Alter von drei Jahren zu Gleichaltrigengruppen zusammenfinden, betrachten sie sich gegenseitig als ebenbürtig und orientieren sich in ihrem Verhalten an der Gruppe. Konformität ist das prägende Prinzip ihrer weiteren moralischen Entwicklung

Natürlich ist mit dem kooperativen Verhalten von Kleinkindern keinerlei strategisches Bewußtsein verbunden. Sie sind auf elementare Weise gutartig. Das berechtigt uns aber eben nicht dazu, zu glauben, wir hätten in unserer Ontogenese auf diese Weise mit neun Monaten das Schimpansenerbe dauerhaft hinter uns gelassen. Es bleibt im Sediment unseres Unterbewußtseins virulent. Es bleibt eine über das Alter von sechs- bis siebenjährigen Kindern hinausreichende, ungeklärte Entwicklungsaufgabe, in welcher Weise der werdende Mensch seiner frühkindlichen Konformität (oder in anderen Worten: dem frühkindlichen Altruismus) Grenzen zieht und wie er sich zum Gruppengeist ins Verhältnis setzt. Der dreifach ausdifferenzierte Entwicklungsprozeß des Menschen bildet kein Entwicklungskontinuum, sondern ist in sich anachronistisch strukturiert.

Es ist vor allem die eingangs erwähnte kybernetisch-systemtheoretische Begrifflichkeit und die Begriffsprägung „kollektive Intentionalität“, weswegen Tomasellos aktuelle Forschung für meinen geisteswissenschaftlichen Ansatz nicht mehr anschlußfähig ist. Hinzu kommt, daß Tomasello den Begriff der Zweitpersonalität inzwischen nicht mehr als eine Gesellungsform eigener Art, sondern als eine frühe, auf Zweiergemeinschaften bezogene Form der Drittpersonalität faßt. Die Zweitpersonalität kommt deshalb auch nicht mehr als von drittpersonalen Instanzen unabhängiger Ursprung der und Ressource für die menschliche Moralität in Betracht. So heißt es z.B.:
„Dem Vorbild kontraktualistischer Moralphilosophen folgend, lautet unsere Arbeitshypothese also, dass die evolutionären und ontogenetischen Wurzeln der menschlichen Moral in kooperativen Tätigkeiten zum gegenseitigen Nutzen liegen: ‚Der ursprüngliche Schauplatz der Moral ist keiner, auf dem ich dir etwas antue oder du mir etwas antust, sondern einer, wo wir etwas gemeinsam tun‘ ().“ (Tomasello 2020, S.276; Zitat im Zitat: Korsgaard 1996, S.275)
Die Zweitpersonalität ist also nicht in sich begründet, Du = Ich und Ich = Du, sondern erst über ein Drittes, den gemeinsamen Nutzen, vermittelt. Dieser gemeinsame Nutzen wird dann normativ zum „Wir“ einer Gruppe gewendet, zu dem man dazugehört oder nicht. Tomasello spricht hier in aller naiven Offenheit von einer „Hochskalierung vom Zweitpersonalen zum Mehrpersonalen“ und „zur Selbstidentität der Gruppe“. (Vgl. Tomasello 2020, S.451) Das macht Tomasellos aktuelles Buch, das eine Fülle von hochinteressanten anthropologischen Daten zur frühkindlichen Ontogenese enthält, die aber von einer für diese Ontogenese in vieler Hinsicht unangemessenen Begrifflichkeit überdeckt werden, und das deshalb in zwei unzusammenhängende Teile auseinanderfällt, für meine Zwecke unbrauchbar.

Letztlich bildet Tomasellos aktuelles Buch eine detaillierte umfängliche Zusammenfassung seiner bisherigen Forschung. Mit Ausnahme von „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002). Von diesem Buch mit seinen von seiner späteren Forschung teilweise abweichenden anthropologischen Einsichten ist keine Rede mehr.

PS (23. September 2020):
Im Deutschlandfunk habe ich ein Interview mit Rafael Seligmann gehört, der über seine Rückkehr nach der Flucht aus Nazi-Deutschland in die Bundesrepublik und die dabei gemachten ambivalenten Erfahrungen mit der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung erzählte. In diesem Zusammenhang spricht Seligmann davon, daß der Fortschritt eine Schildkröte sei, und meint damit die moralische Entwicklung einer Gesellschaft.
Mit dieser Bemerkung zum ‚Fortschritt‘ befindet sich Selligmann im krassen Widerspruch zu Walter Benjamins Parabel vom „Engel der Geschichte“, dem der Fortschritt wie ein Orkan ins Gesicht bläst, so daß er nicht mehr die Flügel ausbreiten und fliegen kann. Der eine beschreibt den Fortschritt also als Schildkröte, der andere als Orkan.
Wenn wir davon ausgehen, daß Benjamin mit seiner Parabel vor allem auf den technischen und ökonomischen ‚Fortschritt‘ verweist, und wenn man den moralischen Fortschritt mit Seligmann als Schildkröte beschreiben muß, so frage ich mich, ob das die Differenz wirklich krass genug zum Ausdruck bringt und ob man nicht vielleicht sogar die These aufstellen muß, daß es überhaupt keinen moralischen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung gibt? – Und zwar trotz der zahlreichen humanitären Institutionen zum Schutz der Menschenrechte?
Denn bei der Entwicklung der Menschheit haben wir es immer mit Menschen zu tun, die geboren werden und sterben, also mit einem ständigen Wechsel der Generationen. Anders als beim jeweils aktuellen Stand der Technologie werden die Menschen nicht in den jeweils aktuellen Stand der gesellschaftlichen Moralität hineingeboren, sondern sie bedürfen einer lebenslangen Bildung, um das jeweils gegebene moralische Niveau ihrer Zeit zu erreichen und sich dazu zu positionieren. Das ist umso schwieriger und aus gesellschaftlicher Sicht um so prekärer, je elaborierter das moralischer Niveau einer Gesellschaft ist. Die Gefahr eines Rückfalls in die Barbarei, die sowieso im Wechsel der Generatioen immer besteht, ist in diesem Fall am größten.
Insofern ist der moralische Fortschritt immer schon begrenzt; und aufs Ganze gesehen gibt es keinen.

PPS (28. Oktober 2020):
Ich werfe Michael Tomasello in diesem Blogpost vor, daß seine Fokussierung auf Fragen der Fairneß und der Gerechtigkeit für eine Erfassung komplexer moralischer Situationen unterkomplex ist. Inzwischen denke ich auch, daß es sich bei den Begriffen der geteilten, gemeinsamen und kollektiven Intentionalität weniger um eine die Emotionalität mit einbeziehende care-Ethik (Carol Gilligan) handelt, als vielmehr um wechselseitige Propositionen, also um ein auf Informationen basierendes Wissen.
Tomasellos Bewußtseinskonzept, die Rekursivität, bietet also, anders als ich bisher meinte, keine Alternative zur kalten Verstandesrationalität der Naturwissenschaften. Keine auf Emotionen bzw. auf Subjektivität basierende Rationalität der Vermittlung von Welt. Nach meiner Lektüre von „Gefühl und Urteilskraft“ (1997) von Carola Meier-Seethaler bleibt mir nichts anderes übrig, als zuzugeben, daß Tomasellos anthropologischer Ansatz einem „male bias“ unterliegt. (Vgl. Meier-Seethaler 1997, S.186ff.) Dabei beruft Meier-Seethaler sich auf Sally Slocum, „Woman the Gatherer: Male Bias in Anthropology“ (1971). (Vgl. Meier-Seethaler 1997, S.187) In diesem Aufsatz entwirft Slocum mit den Sammlerinnen ein Gegenbild zur männlich dominierten Großwildjagd, die auch bei Tomasello eine dominante Funktion für die Sprach- und Moralentwicklung des Menschen innehat. Das ist – aus meiner Sicht – besonders frustrierend, wenn man bedenkt, welche Aufmerksamkeit Tomasello der, in einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur vor allem als weibliche Domäne reservierten, Entwicklung des Kleinkindes widmet. Das hat ihn nicht daran gehindert, an einer männlich-patriarchalen Sichtweise auf die menschliche Moral, eben Fairneß und Gerechtigkeit, festzuhalten.

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Samstag, 18. April 2020

Vorläufiges zu Habermas

Bevor ich diesen Blog am 21.04. endgültig beende, möchte ich nochmal ein vorläufig abschließendes Urteil meiner bisherigen Lektüre von Habermasens „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2 Bde., 2019) posten. (Vgl. auch meine Posts vom 10.01. und 18.01.2020) Der erste Band hatte mir insgesamt gut gefallen, also Habermasens am Verhältnis von Glauben und Wissen orientierte Darstellung der philosophischen Ideengeschichte von der griechischen Antike bis ins hohe Mittelalter. Allerdings kann ich Habermasens Glauben an einen Lernprozeß, der Jahrtausende umfaßt, nur innerhalb der engen Grenzen dieses Expertendiskurses teilen; und auch nur unter dem eingeschränkten Blickwinkel seines sprachpragmatischen Ansatzes. Aber diesen philosophisch begründeten Lernprozeß mit einem umfassenden Fortschritt der kulturellen Epochen einschließlich des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu verbinden, lehne ich energisch ab.

Meine eigenen anthropologischen Einsichten in die Natur menschlicher Individualität lassen es nicht zu, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß als Fortschritt zu deklarieren. Eine solche Einordnung unterschlägt das biologische und das ontogenetische Moment eines dreifach ausdifferenzierten Entwicklungsprozesses. Habermas könnte mir mit meinem Fortschrittsskeptizismus einen anthropologischen Pessimismus vorwerfen. (Vgl. mit Bezug auf Martin Luther: Habermas 2019, Bd.2, S.52f.) Aber ich bin der Ansicht, daß die Chancen für ein gelingendes Leben bei einer individuellen Lebensführung höher liegen als bei der Einordnung des vergemeinschafteten Individuums in ein Kollektiv. Meine positive Bewertung der menschlichen Individualität und die damit verbundene kritische Distanzierung zu Kollektiven kann man eigentlich nicht als pessimistische Anthropologie bezeichnen.

Vielleicht habe ich den Fehler begangen, nach dem Abschluß meiner Lektüre des ersten Bandes die Lektüre des zweiten Bandes mit dem Postskriptum zu beginnen. In dem Postskriptum erläutert Habermas seinen sprachpragmatischen Ansatz, mit dem er die Kantische Transzendentalphilosophie überwunden haben will. In diesem sprachpragmatischen Ansatz vereinnahmt Habermas die individuelle Ontogenese als Produkt gesellschaftlicher Vergemeinschaftung. Wenn er von einer ‚Spannung‘ zwischen Individuum und Gesellschaft spricht, nimmt er diese Spannung nicht wirklich ernst, weil sie seiner Ansicht nach immer schon – im vorhinein (a priori) – durch die Vergemeinschaftung ermöglicht und schließlich auch in ihr aufgehoben wird.

Ich befürchte, daß der ganze zweite Band unter dem Vorzeichen dieser Sprachpragmatik steht. Anders als Habermas glaube ich nicht, daß seine Sprachpragmatik die einzig legitime Überwindung von Kants Transzendentalphilosophie bildet. Auch Helmuth Plessner überwindet sie mit der exzentrischen Positionalität. Was bei Kant „transzendental“ genannt wird, also das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption, beschreibt Plessner als die exzentrische Position eines Menschen, der in seinem Verhältnis zur Welt aus ihrer Mitte herausgetreten ist und sich nun an ihrem Rande aufhält; an ihrer Peripherie. Die damit verbundene Anthropologie ist neutral gegenüber Ortsbestimmungen, seien sie nun räumlicher oder sozialer Art. Auch gegenüber der Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft ist der Mensch exzentrisch positioniert.

Das Menschliche geht also über Sprache hinaus und reicht weiter hinter sie zurück, als es sich Habermas mit seinen ‚bedeutungsidentischen‘ Symbolen vorzustellen vermag. Habermas kann sich die Vergemeinschaftung des Individuums nur als kognitiven und moralischen Lernprozeß vorstellen, also als Fortschritt:
„Historische Schübe des ‚moralischen Lernens‘ führen zur Erweiterung eines eingewöhnten Spektrums der gegenseitigen Perspektivenübernahme und des entsprechenden Horizonts von gegenseitigen Verpflichtungen.“ (Habermas 2019, 2.Bd., S.792)
Demgegenüber erscheint die zweitpersonale Perspektive als eingeschränkt, auch wenn Habermas sie im Anschluß an Michael Tomasello auf neue Weise (als ‚Entdeckung‘!) zu würdigen weiß. Bislang zählte für ihn nur die Autorität des Gruppen-„Wir“ mit seinen Konsensfindungsprozeduren. Jetzt aber gesteht Habermas dem zweitpersonalen „Du“ eine eigene Perspektive auf die Gültigkeit von Normen, ungeachtet ihres jeweiligen Gehalts, zu. Damit erkennt er die für jede Moral allererst fundierende Funktion der zweitpersonalen Perspektive an.

Dennoch nimmt Habermas, wie schon die erwähnte individuierende Spannung zu Gemeinschaft und Gesellschaft, diese zweitpersonale Perspektive nicht wirklich ernst. An den Stellen, wo Habermas die Problematik von Diskriminierungen anspricht, Sexismen und Rassismen, geht es eben nicht mehr, wie Habermas es immer noch unterläuft, um den kollektiven Ausgleich zwischen rivalisierenden Gruppen-Wirs, sondern um die Verwirklichung einer die Grenzen von Gruppen sprengenden zweitpersonalen Beziehung. Zwar heißt es im Sinne individueller Menschenrechte:
„Als Ergebnis einer solchen Perspektivenübernahme werden beispielsweise subjektive Rechte eingeführt, die garantieren, dass niemand wegen der Ausübung seiner sexuellen Freiheit, seiner religiösen Überzeugungen oder seiner politischen Auffassungen diskriminiert werden darf, dass jeder anders sein, anders leben und sich für anderes öffentlich engagieren darf als andere.“ (Habermas 2019, 2.Bd., S.794)
Sicherlich bedürfen solche subjektiven Rechte einer gesellschaftlichen Institutionalisierung, um sie einklagbar zu machen. Aber diese Rechte befinden sich nicht einfach irgendwo in Konventionen fixiert, sondern sie sind Ausdruck von subjektiven Bedürfnissen. Sie beziehen sich ganz konkret auf die individuelle Lebensführung, die sich in der Begegnung mit einem Du erfüllt und nur am Rande auch etwas mit einer Gruppe zu tun hat. Die Gruppe hat nicht das Recht, regulierend in die zweitpersonale Beziehung einzugreifen; denn auf der zweitpersonalen Ebene bedeutet ‚regulieren‘ fast immer auch ‚diskriminieren‘.

Habermas aber bleibt auch hier noch der Gruppenperspektive verhaftet. Er imaginiert den Anderen, den es in seiner Andersheit zu respektieren gilt, immer nur als Angehörigen einer Gruppe, ohne zu erkennen, daß die Gruppe als Gruppe immer schon diskriminiert, da sie sich als Gruppe von anderen absetzt, die nicht zur Gruppe gehören. Nur auf der zweitpersonalen Ebene wird nicht diskriminiert, weil Du gleich Ich ist; und Du ist jeder, der mir begegnet.

Mittwoch, 1. April 2020

Der letzte Atemzug

Ich atme ein, und Mißgunst erfüllt mich.
Ich atme aus, und die Mißgunst verweht.
Ich erkenne, daß ich die Mißgunst nicht bin.

Ich atme ein, und Verachtung erfüllt mich.
Ich atme aus, und die Verachtung verweht.
Ich erkenne, daß ich die Verachtung nicht bin.

Ich atme ein, und Gier erfüllt mich.
Ich atme aus, und die Gier verweht.
Ich erkenne, daß ich die Gier nicht bin.

Ich atme ein, und Zweifel erfüllt mich.
Ich atme aus, und der Zweifel verweht.
Ich erkenne, daß ich der Zweifel nicht bin.

Ich atme ein, und Sehnsucht erfüllt mich.
Ich atme aus, und die Sehnsucht verweht.
Ich erkenne, daß ich die Sehnsucht nicht bin.

Ich atme ein, und Friede erfüllt mich.
Ich zögere, weiterzuatmen.

Ich atme ein, und Leben erfüllt mich.
Ich atme aus.

Dienstag, 24. März 2020

Corona-Virus und Spazierengehen

Spazierengehen ist uns noch erlaubt in Coronakrisenzeiten. Und Spazierengehen ist eine nicht zu unterschätzende Tätigkeit, die den Kopf nicht weniger in Anspruch nimmt als unsere Beine.

Marcel Proust beschreibt im ersten Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927: 1979) ausgiebig die Spaziergänge des jungen Marcel in der Ebene von Combray. Einer dieser Spaziergänge wird durch eine Kutschfahrt beendet, auf der er drei Kirchtürme beobachtet. Der junge Marcel hat den Eindruck, daß sich hinter dieser Wahrnehmung etwas verbirgt, das er unbedingt enthüllen muß. Er beobachtet, wie die drei Kirchtürme, die in Wirklichkeit weit auseinanderliegen, scheinbar nahe beieinander stehen. Erst sieht er nur zwei Türme, bis sich dann ein dritter Turm hinzugesellt, und alle drei Türme scheinen sich am selben Ort zu befinden. Tatsächlich gehört aber der dritte Turm zu einer ganz anderen Ortschaft.

Der junge Marcel ist ganz in den Anblick dieser drei Türme versunken. Zugleich aber ist er beunruhigt, weil es ihm nicht gelingt, das Geheimnis dieses Phänomens zu entschlüsseln. Er wähnt sich selbst weit entfernt von diesen drei Türmen, um dann aber nach einer Biegung am Fuße eines Hügels überrascht festzustellen, daß er sich direkt vor den beiden vor ihm aufragenden Kirchtürmen von Martinville befindet.

Als sie wegfahren, schaut der junge Marcel hinter sich und sieht wieder die drei Kirchtürme einträchtig beieinander. Der dritte Turm von Vieuxvicq hatte sich wieder dazugesellt. Der junge Marcel sucht immer noch nach dem Geheimnis dieser Wahrnehmung, die zugleich, wie er ahnt, aufgrund der durch die Kutschfahrt beschleunigten Fortbewegung das Potential hat, das Geheimnis aller seiner vielen anderen Spaziergänge zu enthüllen. Er hat das Gefühl, daß dem Phänomen der drei Türme ein perfekter Satz entspricht, zu dem er noch die Worte finden muß, und er erbittet sich von einem Begleiter Papier und Bleistift. Er beschreibt die drei Türme, den Wechsel der Perspektiven und seine mit dem Perspektivenwechsel verbundenen Empfindungen, und der perfekte Satz wird niedergeschrieben.

Der junge Marcel erlebt das Niederschreiben des Satzes als Triumph:
„Ich dachte niemals an diese Zeilen zurück, aber damals in dem Augenblick, als ich auf der Ecke des Bockes, wo der Kutscher des Doktors gewöhnlich in einem Korb das auf dem Markt von Martinville eingekaufte Geflügel abstellte, sie beendet hatte, spürte ich, daß sie mich so vollkommen von diesen Kirchtürmen und von dem, was sich hinter ihnen verbarg, zu befreien vermocht hatten, daß ich, als sei ich selber ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, mit schriller Stimme zu singen begann.“ (Proust 1979, S.242)
Aber was genau hat sich denn hinter diesen Kirchtürmen ‚verborgen‘? – Der perfekte ‚Satz‘, den der junge Marcel gesucht hatte, gerät ihm schließlich etwas länger und erstreckt sich in mehreren Sätzen mit ihrer linearen Struktur über nahezu anderthalb Buchseiten. Zusammengefaßt meinen sie nichts anderes als den jungen Marcel, der sich selbst in den Bewegungen der drei Türme entdeckt. Marcel Proust hatte ähnlich wie nur wenig später Einstein die Relativität der Phänomene auf ihren Beobachter entdeckt und die dazu passenden Sätze formuliert, als syntaktische Struktur, die das Phänomen beschreibt. Ähnlich wie Einstein in seiner Relativitätstheorie setzte Marcels Satz seine eigene Person zu den Kirchtürmen in ein Verhältnis. In solchen Formeln und Sätzen feiern Struktur und Phänomen Hochzeit.

Aber Marcel Proust geht noch einen Schritt weiter als Einstein. Die Landschaften, die der junge Marcel auf seinen Spaziergängen erlebt, sind nicht da draußen, vor seinen schweifenden Augen, sondern in ihm. Zwar führen Baumaßnahmen in Combray und in der Umgebung von Combray zu Veränderungen in der Landschaft, bis hin zum völligen Verschwinden von Details, die sich dem jungen Marcel eingeprägt hatten. Aber in seiner Erinnerung lebt die damalige Landschaft weiter, solange wie er selbst leben wird. Im Grunde ist die erlebte Landschaft Marcel selbst und deshalb auf sterbliche Weise mit seiner Individualität verschmolzen.

Trotzdem ist das Ergebnis bei beiden dasselbe: Marcels Satz und Einsteins Relativitätstheorie, egal ob als Syntax oder als Formel, beschreiben Menschen, die ihre Bewegung beobachten; mit anderen Worten: Menschen, die spazierengehen.

Samstag, 21. März 2020

Corona-Virus und Toilettenpapier

Es heißt, in Berlin seien Verbkäuferinnen, die sich weigerten, Kunden drei Packungen Toilettenpapier zu verkaufen, bespuckt worden. Muß wohl eine berlintypische Verhaltensform sein. Ich lebe und arbeite auf dem Land, und hier genießen die Verkäuferinnen an den Supermarktkassen spätestens seit der letzten großen Ansprache der Bundeskanzlerin allerhöchste Wertschätzung. Bei meinem letzten Einkauf im REWE letzte Woche forderte mich die Verkäuferin an der Kasse auf, ihr den ‚Müll‘ aus meinem Einkaufswagen zu geben. Ich hatte gerade damit beginnen wollen, die gekaufte Ware einzuräumen, und suchte jetzt irritiert den leeren Drahtkorb nach dem ‚Müll‘ ab, den sie meinte. Ich fragte sie, ob sie vielleicht den einsamen Kassenbon meinte, der da in einer Ecke herumlag.

„Ich gehe mal davon aus, daß er nicht von Ihnen ist!“, sagte sie streng.
„Natürlich“, sagte ich, und da ich den Eindruck hatte, daß das nicht deutlich genug war, schob ich schnell noch eine Erläuterung hinterher:
„Natürlich nicht! – Schließlich beende ich gerade erst meinen Einkauf und habe noch gar keinen Kassenbon, den ich in den Einkaufswagen legen könnte.“

Die Verkäuferin nickte gnädig, nahm den Kassenbonmüll entgegen und wandte sich dann der nächsten Kundin zu: „Man sieht es den Leuten nicht an, daß sie ihren Abfall im Einkaufswagen zurücklassen. Das tun sogar welche, denen man das nie zutrauen würde!“
Die Kundin hinter mir in der Schlange nickte eifrig und sagte etwas, das ich nicht mehr hörte, weil ich jetzt mit dem Beladen und dann mit Bezahlen beschäftigt war, um anschließend so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

Toilettenpapier hatte ich bei diesem Einkauf nicht mehr bekommen. Die Regale waren leergehamstert. Aber ich war ganz froh darüber, denn ich glaube, ohne eine peinliche Gewissensprüfung durch die Verkäuferin wäre ich mit meiner Packung nicht an ihr vorbeigekommen.

Nachdem ich also eine weitere Woche mit dem zur Neige gehenden Vorrat zurechtgekommen war, machte ich gestern noch einmal einen Versuch in dem EDEKA in Neukirchen. Dort vertröstete man mich angesichts leerer Regale auf heute Mittag. Da würde eine Lieferung erwartet, und man hoffe, da sei auch Toilettenpapier dabei.

Heute bin ich dann erstmal zum REWE nach Unterhaun geradelt, um es zunächst dort nochmal zu versuchen. War aber vergeblich. Also fuhr ich nach Neukirchen zum EDEKA. Als ich dort ankam, war ziemlicher Betrieb. Ich traf vor dem Geschäft auch eine Nachbarin und einen Kollegen aus dem Internat. Ein Verkäufer verkündete gerade am Eingang, daß jetzt niemand mehr reingelassen werde, weil das Geschäft voll sei. Mit „voll“ war gemeint, daß alle Einkaufswagen in Gebrauch waren, und nur mit einem Einkaufswagen durfte man rein. Der Gedanke dahinter: die Einkaufswagen sorgen in der Schlange an der Kasse für „soziale Distanz“ zwischen den Wartenden. Ein ganz pfiffiger Gedanke eigentlich.

Ich erzählte meinem Kollegen, daß heute wahrscheinlich eine Lieferung Toilettenpapier eingetroffen sei. Der Kollege erwiderte, er habe bei der Anfahrt Leute mit vier Packungen unter den Armen gesehen. Ein Kunde, der gerade seinen Einkaufswagen auspackte, wollte ihn uns gegen einen Euro überlassen. Der Kollege öffnete sein Portemonnaie und durchsuchte sein Kleingeld. Die Nachbarin hatte ebenfalls ihren Einkauf beendet und überließ mir ihren Wagen; gegen einen Euro selbstverständlich.

So hob also der Austausch von Einkaufswagen und Geld vor dem EDEKA genau die soziale Distanz auf, die dann im EDEKA eben durch diese Einkaufswagen wieder hergestellt wurde. Das gehört zu den Absurditäten der Coronakrise.

Wenigsten habe ich tatsächlich mein Toilettenpapier bekommen. Schon mal eine Krise weniger.

Dienstag, 17. März 2020

Corono-Virus und Digitalisierung

Im Deutschlandfunk hörte ich eine Sendung über Luxemburg. Das kleine Land investiert in eine Weltraumtechnologie, um Rohstoffe, die auf der Erde knapp geworden sind, auf dem Mond und auf Asteroiden abzubauen. Die Vernichtung der irdischen Ressourcen soll also für einen weiterhin ungebremst expandierenden Kapitalismus auf den Weltraum ausgedehnt werden. Bislang hatte ich davon nur in Büchern gelesen. Die Unternehmen – für Star-Trek-Fans: Enterprises – beginnen also allen Ernstes, gefördert von der Regierung von Luxemburg, die dafür nötigen Technologien zu entwickeln. Anstatt alle unsere intellektuellen und kreativen Potentiale auf die Einrichtung einer globalen und regionalen Kreislaufwirtschaft zu richten, geht es wiedermal nur darum, das ständige Wachstum von Profit und Konsum auch für die Zukunft sicherzustellen.

We go to outer space, to save the human race. Aber wie sich aktuell zeigt: ein Virus stellt scheinbar alle Versprechen, die diese Zukunft betreffen, in Frage. Bevor die Flucht in den Weltraum beginnen kann, kollabieren die Globalisierung und alle mit ihr verbundenen Gewißheiten. Der Weltbürger wird in häusliche Quarantäne geschickt.

Was für ein Mensch wird aus dieser Quarantäne hervorgehen? Wird er noch Bargeld in die Hand nehmen wollen? Wird e-learning den Lehrer ersetzen? Wird der Einzelhandel durch die Krise endgültig marginalisiert und Amazon sich als großer Gewinner erweisen? Wird menschliche Nähe künftig durch anderthalb Meter Abstand und durch digitale Kommunikation definiert?

Stellt der Virus also tatsächlich alles in Frage? Ich bin nicht sicher. Es ist seltsam, daß dieser Virus den technologischen Prozeß bestätigt, so als gäbe es zwischen beidem eine klammheimliche Sympathie.

Sonntag, 15. März 2020

Was ich denke – was ich sehe

In „Swanns Welt“ (1913), dem ersten Band von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927: 1979), finde ich eine Textstelle, in der Proust zwischen zwei Formen der Apperzeption unterscheidet: der Apperzeption der Wahrnehmung und der Apperzeption des Lesens. Die Apperzeption der Wahrnehmung beschreibt Proust als eine Trennung zwischen dem Wahrnehmungssubjekt und dem Wahrnehmungsobjekt.
„Sobald ich einen Gegenstand außerhalb von mir wahrnahm, stellte sich das Bewußtsein, daß ich ihn sah, trennend zwischen mich und ihn und umgab ihn rings mit einer geistigen Schicht, die mich hinderte, seine Substanz unmittelbar zu berühren; vielmehr verflüchtigte diese sich jedesmal, wenn ich den direkten Kontakt damit suchte, so wie ein glühender Körper, den man an etwas Feuchtes hält, niemals die Feuchtigkeit selbst berührt, weil dazwischen immer eine Dunstzone liegt.“ (Proust 1979, S.115)
Die trennende geistige Schicht, also Kants „Ich denke“, beschreibt Proust mit Bezug auf das Lesen als einen „Schirm“, bei dem man durchaus an eine Kinoleinwand, den Bildschirm eines Fernsehers oder an den Monitor eines Computers denken kann. Beim Lesen eines Buches werden die fiktiven Ereignisse direkt auf diesen Schirm bzw. in diese „Dunstzone“, also in unser Bewußtsein, drauf- bzw. hineinprojiziert, so daß die Trennung zwischen Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsobjekt wieder aufgehoben wird und an die Stelle des „Ich denke“ ein „Es denkt“ tritt; jemand anderes als ich, nämlich der Autor oder der Regisseur. Die erfundenen Gegenstände verschmelzen mit unserem inneren Erleben, und die Differenz des Realen wird aufgehoben.
„Was spielt es nun noch für eine Rolle, ob die Handlungen und Gefühle dieser Wesen einer ganz neuen Art uns als wahr erscheinen, da wir sie ja zu den unsern gemacht haben, da sie sich in uns abspielen und, während wir fieberhaft die Seiten des Buches umblättern, die Schnelligkeit unserer Atemzüge und die Lebhaftigkeit unseres Blicks sich ganz nach ihnen regeln muß.“ (Proust 1979, S.117)
Wenn also Kants transzendentale Apperzeption, das zwischen mir und dem Gegenstand trennende „Ich denke“ unserer Wahrnehmung, die Inbesitznahme des Gegenstandes durch das Subjekt ermöglicht, so nimmt die narrative Apperzeption der Lektüre / des Films uns in Besitz. Statt unser Denken zu den realen Gegenständen treten die erfundenen Gegenständen zu unserem Denken hinzu und ‚denken‘ uns. Die Aufhebung der Trennung kehrt die Inbesitznahme um.
„Wenn uns der Verfasser erst einmal in diesen Zustand versetzt hat, in dem wie bei allen rein innerlichen Vorgängen jedes Gefühl verzehnfacht ist, und bei dem sein Buch uns nach Art eines Traumes bewegt, eines Traumes jedoch, der klarer ist als unsere Träume im Schlaf und auch in unserem Gedächtnis besser haften bleibt, so läßt er eine Stunde lang alles Glück und Leiden auf uns los, das es überhaupt gibt, und wovon wir im Leben selbst in Jahren nur einige Formen kennenlernen könnten ...“ (Proust 1979, S.117)
Es geht mir heute noch so, daß ich von Landschaftsbeschreibungen oder Bildern oder von fiktiven Menschen und Ereignissen stärker ergriffen werde als von meinen realen Wahrnehmungen. Reale Menschen und reale Landschaften bleiben mir meistens gleichgültig. Die Distanz des „Ich denke“ läßt sie nicht nah genug an mich heran, als daß ich von ihnen ergriffen werden könnte. Phänomenologisch ausgedrückt könnte man sagen: es kommt auf den Vollzug an und nicht auf die Apperzeption.

Was Bücher, Filme oder Bilder betrifft, führt das zu einer gefährlich unkritischen Haltung: der ‚Autor‘ hinter den Bildern erhält in der Dunstzone freie Hand, uns sehen zu lassen, was er will. Aber dieselbe Dunstzone kann auch zur rettenden Dunstschicht werden, wie Jules Verne in „Der Kurier des Zaren“ (1876) zu berichten weiß: das glühende Schwert des Henkers kann die Tränenwolke nicht durchdringen, und Michael Strogoffs Sehkraft bleibt erhalten.

Samstag, 14. März 2020

Corona-Virus – eine Chance?

Der Corona-Virus hat geschafft, was kein Klimaforscher, kein Klimaaktivist und keine Friday-for-Future Demonstration geschafft hat: das Wirtschaftswachstum auszubremsen und den fossilen Rohstoffverbrauch zu reduzieren. Das ist zwar nur ein viraler Effekt, aber vielleicht bringen wir es als homo sapiens ja fertig, diese Chance zu nutzen und bestimmte neue Verhaltensregeln beizubehalten? Mit dem Verzicht auf Reisen und dem Verzicht auf Großveranstaltungen geht ein Konsumverzicht einher, den wir generell auf alles ausdehnen könnten, was wir für ein sinnvolles Leben nicht brauchen. Und sinnvoll ist allererst ein Leben, das Rücksicht auf das Wohlergehen anderer Menschen nimmt, also in diesem Fall gesundheitlich angeschlagene und alte Menschen. Könnten wir in diese Rücksicht nicht einfach noch die künftigen Generationen auf einem bewohnbaren Planeten mit einschließen?

Dabei sollten wir nicht die reflexartigen Reaktionen in der Politik beachten, die bei Kurzarbeitergeld etc. vor allem an die schnellstmögliche Fortsetzung des Wirtschaftswachstums nach der Corona-Krise denken. Vollbeschäftigung und ein gutes Leben sind auch ohne Wirtschaftswachstum möglich.

Montag, 9. März 2020

Stärke und Schwäche

Wenn ich mir überlege, in welchen allgemein-menschlichen Antrieben das Mobbing-Verhalten seine Wurzeln hat, so fällt mir zuerst Jean-Jacques Rousseaus „Émile“ (1760) ein, in dem er das Gefühl der Schwäche als Motor der kindlichen Entwicklung beschreibt. Das Kind ist schwach, und deshalb will es stark sein, und es erprobt seine Kräfte an seiner natürlichen und sozialen Umwelt. Indem das Kind seine Kräfte erprobt, entdeckt es sie zugleich auch und bringt sie zur Entfaltung. Mit andern Worten: es entwickelt sich.

Im Alter von 10 und 11 Jahren – sofern es nicht durch die soziale Umwelt Bedürfnisse entwickelt hat, die nicht altersgemäß sind –, bevor die Pubertät eintritt, ist das Kind am glücklichsten, weil es in diesem Alter keine Bedürfnisse gibt, die es nicht aus eigener Kraft befriedigen könnte.

Ich habe vor einiger Zeit zwei Jungen in diesem Alter beobachtet, die einen doppelt so großen, lang und schlacksig in die Höhe geschossenen Teenager vor sich her jagten und ihm irgendwelche Spöttereien hinterherriefen. Schließlich gelang es dem Teenager, seinen Peinigern im Gebüsch am Rande eines Teiches zu entkommen. Dann kam eine Frau dazu – vielleicht die Mutter oder auch nur eine Bekannte der beiden Jungen – und fragte sie, warum sie das machen. Und einer der beiden antwortete lachend: „Das macht Spaß!“

Die beiden Jungen zeigten nicht das geringste Unrechtsbewußtsein. Sie hatten die reinste Freude an ihrer Überlegenheit über den Teenager. Ist das schon Mobbing? Ich glaube nicht. Zum Mobbing gehört ein Gefühl der Mißgunst, der Bosheit. Und dem eigentlichen Mobbing geht beim Täter meist die Erfahrung eigener Erniedrigung voraus, aus der wiederum ein dauerhaftes Gefühl eigenen Ungenügens hervorgeht. Für solche Empfindungen sind vor allem Jugendliche besonders empfänglich. In der Pubertät schließt das Gefühl eigener Minderwertigkeit nahtlos an die mit der Erprobung und Entwicklung von Potentialen verbundene Skrupellosigkeit in der Kindheit an – die jetzt aber nicht mehr entwicklungsgemäß ist –, um sich an der ‚Schwäche‘ anderer zu ergötzen.

Bei den beiden Jungen konnte ich keinerlei Mißgunst erkennen. Sie waren einfach glückliche Kinder. Das wird aber nicht lange angehalten haben, denn sie standen kurz vor dem Eintritt in die Pubertät und würden bald selbst zu Teenagern werden. Und dann erst würde sich zeigen, was für Menschen sie würden.

Rousseau nannte die Pubertät die zweite Geburt des Menschen, und er glaubte, daß es nur zweierlei sei, was den jungen Menschen davor bewahrt, den falschen Weg einzuschlagen: die Gewohnheit, selbst zu denken, und das Mitleid. Beides aber, so Rousseau, gehört zu den Stärken des Kindes, die es, als Kompensation für die fehlende Moralität, entwickeln muß, bevor die Pubertät beginnt.

Für das Jugendalter hatte Rousseau die eigentliche soziale Entwicklung des jungen Menschen angesetzt, in der die vorwiegend egoistischen Bedürfnisse des Kindes durch soziale Bedürfnisse ergänzt und durch Liebe transformiert werden. Die Chancen für eine solche Entwicklung schätzte Rousseau aber gering ein, wenn sie nicht von den Gaben der Kindheit, dem Gebrauch des eigenen Verstandes und dem Mitleid, unterstützt werden.

Als Anmerkung zum gestrigen Weltfrauentag möchte ich hier darauf hinweisen, daß ich an der mißlingenden Transformation unserer kindlichen Bedürfnisorganisation in der Jugendphase die zugleich subjektiven wie anthropologischen Voraussetzungen für die verschiedenen Formen von Sexismus und von Rassismus festmache. Sie ist mitverantwortlich für die sich Generation für Generation erneuernde patriarchale Struktur von Gesellschaften, die so viele günstige Gelegenheiten für die Kompensation sich durchhaltender Minderwertigkeitsempfindungen bieten.

Es mag als verwunderlich erscheinen, wenn ich mit Rousseau von der Skrupellosigkeit bzw. Amoralität der Kindheit spreche, zugleich aber, ebenfalls mit Rousseau, das Mitleid als ein spezifisches Merkmal der kindlichen Entwicklung bezeichne. Aber das Mitleid ist kein moralisches Gefühl. Es ist ähnlich amoralisch wie die anderen kindlichen Bedürfnisse und tritt spontan und willkürlich auf. Mit bestimmten Lebewesen, Tieren oder Menschen, haben Kinder spontan Mitleid, während sie gleichzeitig andere, Tiere oder Menschen, grausam quälen.

Das Mitleid bildet für Rousseau aber eine Gelegenheit des Perspektivenwechsels, die man erzieherisch nutzen kann, um das Kind auf die Anfangsgründe der menschlichen Moral aufmerksam zu machen. Der auf Einzelfälle begrenzte Perspektivenwechsel des Mitleids kann verallgemeinert werden und so zu einer echten Moralität führen.

Rousseaus Entwicklungsprinzipien der Schwäche und der Stärke bilden eine unmittelbare Antwort auf John Lockes Pädagogik der Scham und des Stolzes. Locke wollte das Kind beschämen, um es dahingehend zu manipulieren, daß es nur das denkt, was der Erzieher denkt. Das Kind darf bei Locke keinen eigenen Willen und keinen eigenen Verstand entwickeln.

Ganz anders hingegen Rousseau. Das Kind ist bei seiner Geburt und lange danach so schwach, daß man es bei seinen Versuchen, größer und stärker zu werden, unterstützen muß, anstatt es durch systematische Beschämung in dieser Entwicklung auszubremsen. Es soll lernen, seine eigenen Stärken zu entwickeln, allen voran den eigenen Verstand.

Neben den vorwiegend egoistischen Bedürfnissen des Kindes ist es nun aber gerade das Mitleid, das den kindlichen Verstand für eine soziale Entwicklung im Jugendalter öffnen und darauf vorbereiten kann. Mit Hilfe des eigenen Verstandes kann das Kind erste Moralbegriffe finden, die über das bloße Mitleid hinausgehen. Gehen auf diese Weise Verstandesentwicklung und Mitleidserfahrungen Hand in Hand, kann die Pubertät, also die erneute Schwächung des jungen Menschen durch bis dahin unbekannte biologische und soziale Bedürfnisse nicht mehr so viel Schaden anrichten, sondern sie kann die Chance zu einer weiteren Entwicklung bilden, als zweite Geburt des Menschen.

Rousseaus Entwicklungsmodell war für mich immer eine Hilfe gewesen, das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu verstehen. Dabei interessiert mich weniger die sachliche Richtigkeit dieses Modells, als vielmehr das gedankliche Potential, das es bietet. Ich erkenne Rousseaus Modell in anderen Entwicklungsmodellen von Piaget, Kohlberg und Eriksen wieder. Ich gehe davon aus, daß sie alle von Rousseaus Gedanken profitiert haben. Aber sie alle haben für mich nicht das gedankliche Potential des Originals.

PS (10. März 2020): Gegen meine Einschätzung der beiden Jungen in der von mir beschriebenen Szene könnte man einwenden, daß es trotz des Spaßes ein Opfer gegeben hat und deshalb auch von Mobbing gesprochen werden müsse. Aber wir haben es hier dennoch mit einem bemerkenswerten Phänomen zu tun, bei dem wir entscheiden müssen, ob wir diesen Begriff darauf anwenden wollen. Immer wieder bekomme ich von Schülern, die ich bei einem Mobbingverhalten erwische, die Antwort: „Das war doch nur Spaß!“ – Dabei schwingt ein Ton mit, den ich nicht sehr spaßig finde. Ich höre aus dieser schnell, allzu schnell, zurechtgelegten Verteidigungsstrategie eine Bosheit heraus, die ich dem Mobbing zuordne, weil sich mir hier der Eindruck aufdrängt, daß sie letztlich doch genau wußten, was sie dem Opfer da gerade antaten.

Diese Verteidigungsstrategie habe ich bei den von mir beschriebenen beiden Jungen nicht herausgehört. Es macht einen Unterschied, ob jemand sagt: „Das macht Spaß!“, und sich damit uneingeschränkt zu diesem Spaß bekennt, ohne den geringsten Gedanken an das Opfer zu verschwenden, oder ob jemand sofort in eine Verteidigungshaltung hineinrutscht und sagt: „Das war doch nur Spaß!“, und damit implizit nicht nur eingesteht, daß es hier ein Opfer gegeben hat; man hat auch den Eindruck, daß es bei diesem ‚Spaß‘ vor allem auf dieses Opfer angekommen war.

Man könnte auch sagen, wir haben es beim echten Mobbingverhalten, ähnlich wie beim kindlichen Mitleid, mit einem Perspektivenwechsel zu tun; aber im Unterschied zum kindlichen Mitleid empfinden die Täter an diesem Perspektivenwechsel Vergnügen. Wer aber ein das eigene Minderwertigkeitsgefühl kompensierendes Vergnügen am Opferstatus eines anderen Menschen empfindet, ist für den moralischen Gehalt eines Perspektivenwechsels blind geworden und hat aufgehört, sich zu entwickeln.

Hinsichtlich des Verhaltens besteht kein Unterschied zwischen den von mir beschriebenen beiden Jungen einerseits und dem Mobbingverhalten von Jugendlichen und Erwachsenen andererseits; vor allem nicht für das Opfer. Aber hinsichtlich der Phänomenologie gibt es diesen Unterschied durchaus. Und dieser feine Unterschied ist es, der für mich entscheidet, ob es Mobbing war oder nicht.

PPS (23. Juni 2020): Michael Tomasellos neues Buch „Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese“ (2020) ist für mich ein Anlaß, hier nochmal kurz auf die Gültigkeit des Rousseauschen Entwicklungskonzepts einzugehen. Jean-Jacques Rousseaus Entwicklungskonzept des Kindes beinhaltet zwei Phasen bis zur Pubertät, mit der die dritte Phase, das Jugendalter, beginnt. Die erste Phase ist die des Säuglings bzw. der Natur, in der die organischen Fähigkeiten des Saugens, des Weinens, des Sehens ausgebildet werden und in der sich allmählich Fähigkeiten des Greifens mit den Händen und die Beherrschung der übrigen Extremitäten entwickeln.

Die zweite Phase ist die des mobilen Kindes, das Alter, in dem das Kind vor allem von den Dingen lernt; den Dingen der natürlichen und der artifiziellen Umgebung. Im Alter der reifen Kindheit, zwei bis drei Jahre vor der Pubertät, ist dann das Kind so weit entwickelt, daß es seine Umgebung weitgehend beherrscht. Es ist in allen seinen Bedürfnissen autonom und bedarf keiner Hilfestellung durch die Erwachsenen mehr.

Erst mit dem Eintritt in die Pubertät entwickelt der jetzige Jugendliche Bedürfnisse, die ihn wieder von anderen Menschen abhängig machen. Es beginnt das Alter des kulturellen und sozialen Lernens. Die ganze Kindheit über war das Kind ein asoziales Wesen, das ausschließlich an der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse ausgerichtet gewesen ist. Jede Einmischung des erwachsenen Menschen in die natürliche Entwicklung des Kindes bewertete Rousseau als Übel, weil sie das Kind daran hinderten, mit seinen Fähigkeiten bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu wachsen.

In Michael Tomasellos neuem Buch „Mensch werden“ wird ein zu Rousseau in allem gegenteiliges Konzept der frühen Ontogenese vertreten. Ab dem neunten Lebensmonat ist das kleine Kind völlig auf die Kommunikation mit erwachsenen Menschen angewiesen und ab dem dritten Lebensjahr geht der Erwerb von Fertigkeiten und Wissen zum überwiegenden Teil auf den ‚Unterricht‘, also auf die kulturelle Vermittlung der Erwachsenen zurück, und nur ein ganz geringer Teil ist auf die individuellen Erfahrungen des kleinen Kindes zurückzuführen. Das soziale und kulturelle Lernen ist für das kleine Kind nicht etwa schädlich, sondern überlebensnotwendig, und es hat sogar eine biologische Reifungskomponente. Das kleine Kind ist also nicht etwa asozial, wie Rousseau meinte, sondern von Natur aus sozial. Tomasello geht sogar so weit, Konformität mit der Gruppe zu einem herausragenden Merkmal dieses Lebensalters zu machen, ohne aber dabei zu klären, wo die altersgemäßen und sozialen Grenzen dieser Konformität liegen könnten.

Genau diese Konformität mit der Gruppe ist für Tomasello das Kriterium, nach dem ihm zufolge schon „(s)echs- bis siebenjährige Kinder ... in das ‚Alter der Vernunft‘“ eintreten:
„In vielen (gewiss nicht in allen) Situationen denken die Kinder in diesem Alter nicht nur, sondern wissen auch, was sie denken, und sogar, was und wie man von ihnen erwartet, dass sie von einem normativ rationalen Standpunkt aus denken sollen. Das ermöglicht den Kindern dieses Alters zum ersten Mal, ihren Kopf mit einem Gleichaltrigen zusammenzustecken, um Dinge zu erwägen, Probleme so zu lösen, wie es für sie allein unmöglich wäre.“ (Tomasello 2020, S.270)
Dabei idealisiert Tomasello die Gruppen, zu denen sich diese sechs- bis siebenjährigen Kinder als „ebenbürtige() Gleichaltrige()“ zusammenfinden, unter denen „niemand eine Führungsrolle spielt“. (Vgl. Tomasello 2020, S.264) Also alles wunderbare kleine Erwachsene; erwachsener als viele große Erwachsene, die man so kennt. Nirgendwo ein Schimpanse.

Hatte also Rousseau Unrecht? Wenn man sich die Fülle der von Tomasello vorgelegten anthropologischen Daten anschaut, ist das wohl so. Aber diese Frage ist falsch gestellt. Man sollte sich besser fragen, vor welchem Hintergrund Rousseaus Entwicklungskonzept Sinn macht und welche ontogenetischen Phänomene von Tomasello nicht berücksichtigt werden.

Rousseau hat die Beobachtung gemacht, daß Kinder in den Städten, in denen sie aufwuchsen, vielfältigen schädlichen Einflüssen der Erwachsenengesellschaft ausgesetzt waren. Bevor sie überhaupt Kinder sein konnten, entwickelten sie schon lange vor der Pubertät die Bedürfnisse von Erwachsenen. Und bevor sie moralische Kompetenzen entwickeln konnten, orientierten sie sich an der Gier und der rücksichtslosen Konkurrenz der Erwachsenen um Prestige und Wohlstand.

Bei den Kindern auf dem Land beobachtete er hingegen, daß sie, bevor die Pubertät viel zu früh eintrat, die Chance hatten, Kinder zu sein, was für Rousseau bedeutete, ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse auszuleben. Deshalb setzt bei Rousseau die eigentliche Pädagogik erst mit der Pubertät ein. Erst jetzt, mit dem Einsetzen neuer biologischer und sozialer Bedürfnisse, werden Vernunft und Moral zu einem notwendigen Bestandteil der Entwicklung des Jugendlichen. Erst jetzt machen pädagogische Maßnahmen einen Sinn. Hier beginnt das eigentliche soziale und kulturelle Lernen. Rousseau nannte das die zweite Geburt des Menschen.

Tomasello konzentriert sich so sehr auf die frühe Ontogenese der ersten sieben Lebensjahre, daß er die spätere Entwicklung des Menschen aus dem Blick verliert. Der Mensch erklärt sich für ihn vollständig aus den ersten sieben Lebensjahren. Damit verfehlt er aber genau das, worum es eigentlich gehen sollte: um „Mensch“ zu „werden“, bedarf es eines ganzen Menschenlebens. Und dabei ist Konformität nicht nur eine Bedingung, sondern auch eine Gefährdung.

PPPS (17. Oktober 2020): Meute und Mob haben dieselbe etymologische Wurzel: movitas und mobilis. Beides bedeutet ‚Bewegung‘ und gemeint ist ‚Erregung‘. Allerdings entspricht die ‚Meute‘ mehr dem, was mit Mobbing gemeint ist: die Jagd auf ein Opfer, einen Fuchs oder einen Hasen, und das gemeinsame Zerreißen des Opfers. Obwohl ‚Mobbing‘ direkt von Mob bzw. mobilis abgeleitet ist, fehlt dem Mob noch die Gerichtetheit; er ist gewissermaßen noch offen für jedes mögliche Opfer seiner Vernichtungswut.

Ich bin bei Elias Canetti auf das Wort ‚Meute‘ gestoßen. (Vgl. „Masse und Macht“ (1960)) Allerdings hält Canetti die Meute nicht für etwas prinzipiell Negatives. Er glaubt, neben einer Jagd-, Klage- und Vermehrungsmeute so etwas wie eine „Erwartungsmeute“ beschreiben zu können, die er mit der christlichen Kommunion vergleicht. Das ist absurd, und ich will hier deshalb auch nicht näher darauf eingehen. Auch die Masse hält Canetti für ein anthropologisches Phänomen, dem er etwas Positives abgewinnen kann: sie trägt, so Canetti, dazu bei, die Berührungsangst zwischen den Menschen aufzuheben. Daß mit der Aufhebung dieser Berührungsangst eine Auflösung der menschlichen Individualität einhergeht, ficht ihn da nicht weiter an.

Klaus Theweleit hat in seinem Buch „Männerphantasien“ (1977/78) Canettis positiven Massebegriff übernommen. Auch er hat ein Problem mit dem Individuum, das sich gegen eine Auflösung in das ozeanische Strömen und Fließen sperrt. Theweleit ergänzt Canettis Massebegriff um den negativen Begriff einer faschistischen Masse: die Masse als Formation, also geordnete Kolonnen, die zum Appel aufmarschieren. Aber die andere, die auflösende Masse, findet er begrüßenswert.

Aber die Masse gibt es nur als Mob bzw. als Meute. Und daran ist nichts Erfreuliches. Wo sie als etwas Positives gefeiert wird, wie z.B. auf den Zuschauerrängen bei sportlichen Wettkämpfen, bildet das Umschlagen in eine hemmungslose Meute ein ihr inhärentes Potential.

(Vgl. hierzu auch „Abschließendes zu Tomasello“)
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Dienstag, 3. März 2020

Gegen sich selbst

Im Römerbrief finde ich einen Satz von anthropologischer Gültigkeit: „(E)s ist keiner, der verständig ist; es ist keiner, der Gott mit Ernst sucht; alle sind abgewichen; sie sind alle zusammen unnütz geworden; es ist keiner, der Gutes tut, es ist auch nicht einer.“ (Röm. 3, 11-12)

Dieser Satz gilt auch unter der Voraussetzung, daß Gott tot ist, und er bildet die anthropologische Grundlage für Nietzsches Konzeption vom Übermenschen: es gibt den Menschen noch nicht; er wird erst noch.

Tagtäglich beobachte ich dieses Phänomen als Pädagoge an einem Internat. Immer wieder wiederholt sich ein auf ein zutiefst gestörtes Innenleben hinweisendes Verhalten: Mißachtung und Mobbing. Mobbing ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel an allen Schulen, so weit ich das beurteilen kann. Und ich denke sogar, daß wir es hier mit einer anthropologischen Struktur zu tun haben, die – unabhängig von historischen Umständen und ökonomischen Krisen – auch die Grundlage für Sexismus, Fremdenhaß und Rassismus bildet, denen die Menschen alltäglich überall auf der Welt zum Opfer fallen.

Mobbing und Rassismus sind wesensverwandte Phänomene, und ich denke, daß der Rassismus nur eine stereotype Form des Mobbing bildet, das ‚universeller‘ anwendbar ist, weil es in gewisser Weise ‚kreativer‘ bei der Wahl der Opfer ist und im Unterschied zum eigentlichen Rassismus jeden treffen kann. Immerhin: dem Mobbing können wir entkommen, indem z.B. Schüler die Schule irgendwann verlassen oder Erwachsene die Arbeitsstelle wechseln oder mißhandelte Frauen können ihre Männer verlassen. Vom Rassismus betroffene Menschen können der Situation nicht so einfach entkommen; in dieser Hinsicht ist wiederum der Rassismus universeller.

Zurück zum Übermenschen: ich glaube, daß Nietzsches Konzeption vom zugrundegehenden Menschen übersieht, daß die scheinbare Minderwertigkeit des Menschen ein notwendiges Übel ist und in unserer Bedürfnisorganisation verankert ist. Die Menschen können ihre Bedürftigkeit nicht einfach abstreifen wie einen Mantel. Sie sind ihr vielmehr unrettbar ausgeliefert. Aus ihrer Bedürftigkeit heraus werden sie zu Mobbern und Rassisten. Indem die Menschen mit ihren Bedürfnissen täglich scheitern, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich ihrer Bedürftigkeit, dem ganzen Elend ihres Daseins zu stellen. Und viele Menschen scheitern auch dabei. Sie laden ihr eigenes Elend auf den Schultern anderer Menschen ab, um sich nicht mit der eigenen Minderwertigkeit auseinandersetzen zu müssen.

Die Menschen neigen in ihrer Schwäche also zu Ersatzhandlungen. Diese bilden den eigentlichen Inhalt ihrer Kulturgeschichte. Dennoch ist es gerade diese Bedürftigkeit, diese Minderwertigkeit, in der sich der Mensch als Mensch in der Fülle seiner Menschlichkeit verwirklicht. Der Mensch, der sich angesichts seiner Bedürftigkeit als Mensch verwirklicht, ist und bleibt ein Mensch. Er ist kein Übermensch. Diese Selbstverwirklichung ist keine Erlösung, keine endgültige Befreiung. Bis zu unserem Tod bleiben wir fehlbare Menschen. Und wenn wir tot sind, sind wir tot.

Die Selbstverwirklichung des Menschen besteht darin, das Elend seiner Bedürftigkeit in Liebe zu verwandeln.

Was aber meint der Apostel Paulus, wenn er feststellt, daß kein Mensch „verständig“ sei und daß alle von Gott „abgewichen“ seien? – Er meint, daß es das ‚Fleisch‘ sei, das uns zur ‚Sünde‘ verführt.

Was aber ist das ‚Fleisch‘? – Es ist unser Begehren, das sich nach Erfüllung sehnt.

Womit sollen wir aber das fleischliche Begehren überwinden? – Mit der Macht der Liebe.

Im christlichen Denken ist die Liebe eine Pflicht, ein höchstes Gebot, das über allen anderen Geboten steht. Es ist deshalb wichtig, darauf zu beharren, daß Liebe aus anthropologischer Sicht allererst ein Bedürfnis ist und kein Gebot. Sie ist Teil unseres Begehrens. Unser ganzes Begehrungsvermögen bildet eine Mannigfaltigkeit aus Bedürfnissen und Trieben, und diese können eine ganz verschiedene Gestalt annehmen. Wie sich diese Bedürfnisse insgesamt organisieren, darauf kommt es an. ‚Liebe‘ bildet nur eine mögliche Gestalt unserer Bedürfnisorganisation. Man kann diese im christlichen Sinne zur Pflicht machen. Aber sie ist keine Pflicht, sondern eine Form unseres Begehrens. Sie selbst ist ein Bedürfnis!

Wer meint, die Liebe – insbesondere in Form der Feindesliebe – zur Pflicht machen zu müssen, richtet den menschlichen Willen gegen sich selbst. Das Gebot der Feindesliebe richtet den Willen gegen sich selbst und verhindert so, daß wir selbst das wollen, was wir wollen dürfen, und das begehren dürfen, was uns als begehrenswert erscheint. Die Feindesliebe deklassiert alle anderen Formen der Liebe, weil sie als ‚schwach‘ gelten; als ‚fleischlich‘.

Letztlich macht ein Liebesgebot, also eine ‚Liebe‘, die unserem Begehrungsvermögen widerspricht, genau das, was den Kern dieses Begehrungsvermögens ausmacht, zu etwas Minderwertigem: das Fleisch!

Es geht aber nicht darum, das Fleisch zu verdammen, sondern darum, es zu ‚erlösen‘. Es geht darum, aus dem Begehren etwas zu machen, das nicht erniedrigt, nicht verletzt und nicht mißbraucht. An die Stelle der Gier soll Liebe treten. Aber nicht als Gebot, sondern als eigentlichste Erfüllung unserer Bedürfnisse und Begehrungen.

Wenn jemand irgendjemanden zum Gegenstand seiner Willkür macht, wie beim Mobbing, so ist er der Feind. Man muß ihn nicht hassen. Man kann ihn auch bedauern, insofern er sein Elend dadurch nur vergrößert, anstatt es zu verringern. Aber lieben muß man ihn nicht.

Sonntag, 1. März 2020

Verschiebung

Wenn ich über Formeln und Technologien und ihre Beziehung zur Wirklichkeit nachdenke, frage ich mich, ob hier nicht so etwas wie eine ‚Verschiebung‘ stattfindet. Einerseits partizipieren die Technologien an den Naturkräften und wir nutzen sie für unsere Zwecke. Andererseits aber reduzieren wir die Wirklichkeit auf diese Zwecke und schaffen eine künstliche, zur Wirklichkeit verschobene Welt, in der die Naturprozesse zwar ihren Verlauf nehmen, aber nur wie in einem Kanal, anstatt in ihrem natürlichen Flußbett. Die technologisch gebändigten Naturprozesse verlaufen parallel zur natürlichen Wirklichkeit und ihre kanalisierte Wirkungsweise erzeugt eine Kontrollillusion.

Die technologisch gebändigten Naturprozesse haben eine Tendenz, aus der Verschiebung, in die sie hineingezwungen werden, auszubrechen und in ihr natürliches Wirkungsfeld zurückzukehren. Die durch Formeln und Technologie ermöglichte Verschiebung erzeugt also eine fortwährende Spannung zwischen der Ordnung, die durch Formeln abgebildet wird, und der Naturordnung.

Die Verschiebung, die wir selbst sind, als exzentrisch positionierte Wesen, haben wir auch der Naturordnung aufgezwungen, obwohl sie im wesentlichen zentrisch organisiert ist. Die Natur kennt keine Negation. Wenn es regnet, regnet es. Wenn es nicht regnet, scheint die Sonne oder es ist bloß wolkig; aber es gibt keinen Zustand, der als Nicht-Regen gekennzeichnet werden könnte. Nur der Mensch kann feststellen, daß es nicht regnet und dabei an einen Regen denken, der nicht fällt.

So wie wir neben uns stehen, haben wir zur Naturwelt eine Nebenwelt geschaffen, eine verschobene Welt, die gelegentlich noch an die Naturwelt erinnert, eine Nicht-Welt. Doch die Naturkräfte sind noch wirksam, auf technische Weise. Und die Naturwelt wird sich auf positive Weise in Erinnerung bringen. ‚Positiv‘ im medizinischen Sinne, wo ja Gesundheit auch negativ, als Abwesenheit von Krankheit, diagnostiziert wird. Der Befund wird nicht erfreulich sein.

Donnerstag, 20. Februar 2020

Hub (Humbert Chabuel): Okko

Vor dreizehn Jahren hielt ich zum erstenmal einen Comic von Hub in der Hand: „Okko – Das Buch des Wassers“ (2005/06), den Auftakt zu einer fünfteiligen Serie über einen herrenlosen Samurai, einen Ronin, der aus einer altehrwürdigen Familie von Dämonenjägern stammt. Er lebt in ‚Pajan‘, ein Anagramm für das mittelalterlichen Japan und außerdem der Name der regierenden Familie. Das Land gerät am Ende der Ära der Familie Pajan in einen verheerenden Bürgerkrieg. In dieser Zeit ist Okko mit seinen Leuten, einem Mönch, einem jungen Diener und einem maskierten Krieger unterwegs, um seine Dienste als Dämonenjäger überall dort anzubieten, wo er gerade gebraucht wird.

Es sind vor allem zwei bis drei Themen, die alle fünf Comicbände durchziehen und in jedem der Bände auf verschiedene Weise variiert werden: a) Die Natur von Dämonen und Menschen, denen sich das Dämonische und das Menschliche nicht eindeutig zuordnen lassen; und b) die Marionette als Metapher für das Schicksal des Menschen. Ein drittes (c) Thema, das alle fünf Bände durchzieht, ist die Ehre, dargestellt als Konflikt zwischen dem Ronin Okko und den Samurais, denen er begegnet. Immer wieder wird in den fünf Bänden die Ehrlosigkeit des Ronin gegen die Ehrenhaftigkeit der Samurai ausgespielt. Dabei schneidet Okkos Ehrlosigkeit gegenüber dem überkommenen, starren Ehrenkodex der Samurai insgesamt besser ab.

Im ersten Band, „Das Buch des Wassers“ (2005/06), erweisen sich zwei Vampirdämonen, die in einer abgelegenen Provinz das Haus des herrschenden Fürsten usurpiert haben, als menschlicher als die Dämonenjäger. Die Vampirdämonen lieben einander und ihr gerade geborenes Kind und sind rührend um das Wohl ihrer kleinen Familie besorgt. Die Dämonenjäger töten alle drei Dämonen. Bevor der den Körper des Fürsten bewohnende Vampirdämon stirbt, sagt er Okko die Wahrheit über die Menschen; und diese Wahrheit ist der Krieg.

Das Marionettenthema wird hier ebenfalls angedeutet: Der Vampirdämon und seine Frau bewohnen die Körper des toten Fürsten und der toten Fürstin. Sie sind also Marionettenspieler, und die menschlichen Leichen sind ihre Marionetten.

Im zweiten Band, „Das Buch der Erde“ (2007/2009), hat sich eine Gruppe von Mönchen der Aufgabe verschrieben, die verletzten Soldaten und Zivilisten auf den Schlachtfeldern im Pajan zu pflegen und zu versorgen. Um dem Krieg ein für allemal ein Ende zu bereiten und die gegenwärtige Gesellschaftsordnung durch eine gerechtere zu ersetzen, erforschen die Mönche die Gesetze von Leben und Tod und finden heraus, wie man die Toten auf den Schlachtfeldern wieder lebendig macht. Sie erschaffen eine Armee von Toten, bekämpfen mit ihr die Armeen der Lebenden und bringen so neues Leid und Unglück über die Menschen. Sie verwandeln sich durch ihr Wissen und trotz ihrer ursprünglich humanen Motivation in ‚Dämonen‘ und werden schließlich von Okko und seinen Dämonenjägern vernichtet.

Das Marionettenthema wird im Verhältnis von Mönchen und Toten aufgegriffen: die Mönche ‚spielen‘ mit der Armee der Toten als ihren Marionetten.

Im dritten Band, „Das Buch der Luft“ (2009/10, 2011), jagt der Dämonenjäger Kubban den maskierten Krieger aus Okkos Gruppe, Noburo, der, wie sich herausstellt, selbst ein Dämon ist. Als Tikku, der junge Diener von Okko, den Dämonenjäger ‚tötet‘, stellt sich heraus, daß Kubban schon längst tot und deshalb als lebender Toter selbst ein Dämon gewesen war. Kubban, der tote Dämonenjäger, war wiederum in einem Bunraku, einer Kampfmarionette, ‚eingebaut‘, also gewissermaßen die mittelalterliche Analogie zu einem modernen Cyborg. Kubban war demnach ein toter Dämonenjäger, der eine Marionettenapparatur bediente; also Dämonenjäger, Dämon und Marionettenspieler in einer Person.

Im vierten Band, „Das Buch des Feuers“ (2011/12, 2013), spielen Dämonen nur am Rande eine Rolle: Kappas bzw. Wasserdämonen. Es fällt auf, mit welcher Grausamkeit Noburo, der ja selbst ein maskierter Dämon ist, gegen die Kappas vorgeht.

Das eigentliche Thema ist ein Schauspieler, der sein Aussehen nach Belieben ändern kann. Er kann das Aussehen von beliebigen Männern und Frauen annehmen. Eine im Marionettenbau erfahrene Familie, die Ataku, hat ihm Seidenfäden unter die Haut gepflanzt und ihn so in eine Marionette verwandelt, die sich selbst ‚spielt‘. Mehrere Personen werden zu Opfern des Schauspielers; unter anderem auch Okko, der keine Ruhe gibt, als bis er seine vom Schauspieler beschmutzte ‚Ehre‘ wieder hergestellt hat. Das steht im Widerspruch zu Okkos sonstiger Ehrlosigkeit. Aber diese Ehrlosigkeit bezieht sich vor allem auf die Samurai-Ehre. Der Schauspieler aber hat Okko in seiner Ehre als kurzfristig angeheuerter Leibwächter des regierenden Pajan-Fürsten und seines Sohnes verletzt, den Okko, durch Tricks und Täuschungen des Schauspielers gezwungen, tötet.

Am Ende nimmt der Schauspieler die Position des wahnsinnig gewordenen Fürsten ein, um sich von im Hintergrund agierenden Beratern dirigieren zu lassen. Die ‚Marionette‘ erweist sich dann aber als eigenständiger, als es den ‚Strippenziehern‘ lieb ist.

Im fünften Band, „Das Buch der Leere“ (2014/15, S017), stellt sich heraus, daß Okko und Noburo Zwillinge sind. Okko wurde als Mensch geboren, Noburo als Dämon. Die Mutter entscheidet sich für den Dämon, mit dem sie aus dem Haus ihres Ehemanns flieht, und überläßt ihm Okko als Stammhalter. In der weiteren Entwicklung der beiden Zwillinge erweist der ‚menschliche‘ Okko sich aber als bösartig und deshalb als der eigentliche Dämon, während der ‚dämonische‘ Noburo durch seine Gutartigkeit auffällt. (Abgesehen von seinem Umgang mit anderen Dämonen! – Siehe die Kappas) Letztlich erweisen sich diese Klassifikationen aber als wertlos. Menschen sind immer zugleich auch Dämonen!

Okko zeigt aber auch, daß seine ursprüngliche Bösartigkeit ihn nicht daran hindert, Gutes zu tun. (Siehe auch im umgekehrten Fall Noburos Verhalten gegenüber den Kappas.) Okko kümmert sich um seine Gruppe, um den Mönch und um Tikku, und er setzt sich auch für andere in Bedrängnis geratene Menschen ein, mit denen er es im Laufe ihrer Abenteuer zu tun bekommt. Er hat es gelernt, seine innere Bösartigkeit, seinen ‚Dämon‘, zu disziplinieren.

In diesem Band wird übrigens in einer Rückschau beschrieben, wie der im dritten Band getötete Kubban zu seiner Marionettenrüstung kommt.

Ich rätsele noch daran herum, was es mit den Händen auf sich hat. Im „Buch der Luft“ wird Okko die Schwerthand abgeschlagen. Er kämpft dann mit der linken Hand weiter. Im „Buch des Feuers“ wird ein Graphiker mit der Amputation seiner Hände bedroht. Die Furcht vor dem Verlust seiner Hände traumatisiert ihn. Schließlich befreit sich der Graphiker von seiner Verlustangst, indem er lernt, seinen Mund als Ersatz für seine Hände zu verwenden. Im „Buch der Leere“ werden einem bösen Zauberer beide Hände abgeschlagen, woraufhin er seine magischen Kräfte verliert. Als aber die künftige Mutter von Okko und Noburo in Vertretung ihres erkrankten Ehemannes über den bösen Zauberer zu Gericht sitzt, verhöhnt der böse Zauberer sie damit, daß er trotz des Verlustes seiner Hände immer noch gefährlich sei, und dann verflucht er sie – benutzt also seine Zunge statt der Hände – und ihre Nachkommen, also auch Okko und Noburo, die als Dämon-Mensch-Mischungen auf die Welt kommen.

Zum einen sind also die Hände Instrumente der Macht und Ausdruck der Vollkommenheit ihrer Besitzer: Okko/Schwertkampf, Graphiker/Kunst, Zauberer/Magie. Andererseits sind sie aber auch ersetzbar: Okko/linke Hand, Graphiker/Mund und Zauberer/Zunge. Vielleicht stehen bei Okko und dem Graphiker die Hände für ihre Fähigkeit, das Schicksal zu meistern und Böses in Gutes zu verwandeln. Und vielleicht ist diese Fähigkeit der Grund, warum Okko nur die Schwerthand verliert, nicht beide Hände, wie der Zauberer, der dem Bösen verhaftet bleibt. Man könnte auch sagen: indem bei Okko die linke Hand an die Stelle der rechten Hand tritt, wird die Dominanz des Dämonischen durch die Dominanz des Menschlichen verdrängt.

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