„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 15. März 2020

Was ich denke – was ich sehe

In „Swanns Welt“ (1913), dem ersten Band von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927: 1979), finde ich eine Textstelle, in der Proust zwischen zwei Formen der Apperzeption unterscheidet: der Apperzeption der Wahrnehmung und der Apperzeption des Lesens. Die Apperzeption der Wahrnehmung beschreibt Proust als eine Trennung zwischen dem Wahrnehmungssubjekt und dem Wahrnehmungsobjekt.
„Sobald ich einen Gegenstand außerhalb von mir wahrnahm, stellte sich das Bewußtsein, daß ich ihn sah, trennend zwischen mich und ihn und umgab ihn rings mit einer geistigen Schicht, die mich hinderte, seine Substanz unmittelbar zu berühren; vielmehr verflüchtigte diese sich jedesmal, wenn ich den direkten Kontakt damit suchte, so wie ein glühender Körper, den man an etwas Feuchtes hält, niemals die Feuchtigkeit selbst berührt, weil dazwischen immer eine Dunstzone liegt.“ (Proust 1979, S.115)
Die trennende geistige Schicht, also Kants „Ich denke“, beschreibt Proust mit Bezug auf das Lesen als einen „Schirm“, bei dem man durchaus an eine Kinoleinwand, den Bildschirm eines Fernsehers oder an den Monitor eines Computers denken kann. Beim Lesen eines Buches werden die fiktiven Ereignisse direkt auf diesen Schirm bzw. in diese „Dunstzone“, also in unser Bewußtsein, drauf- bzw. hineinprojiziert, so daß die Trennung zwischen Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsobjekt wieder aufgehoben wird und an die Stelle des „Ich denke“ ein „Es denkt“ tritt; jemand anderes als ich, nämlich der Autor oder der Regisseur. Die erfundenen Gegenstände verschmelzen mit unserem inneren Erleben, und die Differenz des Realen wird aufgehoben.
„Was spielt es nun noch für eine Rolle, ob die Handlungen und Gefühle dieser Wesen einer ganz neuen Art uns als wahr erscheinen, da wir sie ja zu den unsern gemacht haben, da sie sich in uns abspielen und, während wir fieberhaft die Seiten des Buches umblättern, die Schnelligkeit unserer Atemzüge und die Lebhaftigkeit unseres Blicks sich ganz nach ihnen regeln muß.“ (Proust 1979, S.117)
Wenn also Kants transzendentale Apperzeption, das zwischen mir und dem Gegenstand trennende „Ich denke“ unserer Wahrnehmung, die Inbesitznahme des Gegenstandes durch das Subjekt ermöglicht, so nimmt die narrative Apperzeption der Lektüre / des Films uns in Besitz. Statt unser Denken zu den realen Gegenständen treten die erfundenen Gegenständen zu unserem Denken hinzu und ‚denken‘ uns. Die Aufhebung der Trennung kehrt die Inbesitznahme um.
„Wenn uns der Verfasser erst einmal in diesen Zustand versetzt hat, in dem wie bei allen rein innerlichen Vorgängen jedes Gefühl verzehnfacht ist, und bei dem sein Buch uns nach Art eines Traumes bewegt, eines Traumes jedoch, der klarer ist als unsere Träume im Schlaf und auch in unserem Gedächtnis besser haften bleibt, so läßt er eine Stunde lang alles Glück und Leiden auf uns los, das es überhaupt gibt, und wovon wir im Leben selbst in Jahren nur einige Formen kennenlernen könnten ...“ (Proust 1979, S.117)
Es geht mir heute noch so, daß ich von Landschaftsbeschreibungen oder Bildern oder von fiktiven Menschen und Ereignissen stärker ergriffen werde als von meinen realen Wahrnehmungen. Reale Menschen und reale Landschaften bleiben mir meistens gleichgültig. Die Distanz des „Ich denke“ läßt sie nicht nah genug an mich heran, als daß ich von ihnen ergriffen werden könnte. Phänomenologisch ausgedrückt könnte man sagen: es kommt auf den Vollzug an und nicht auf die Apperzeption.

Was Bücher, Filme oder Bilder betrifft, führt das zu einer gefährlich unkritischen Haltung: der ‚Autor‘ hinter den Bildern erhält in der Dunstzone freie Hand, uns sehen zu lassen, was er will. Aber dieselbe Dunstzone kann auch zur rettenden Dunstschicht werden, wie Jules Verne in „Der Kurier des Zaren“ (1876) zu berichten weiß: das glühende Schwert des Henkers kann die Tränenwolke nicht durchdringen, und Michael Strogoffs Sehkraft bleibt erhalten.

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