„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 3. März 2020

Gegen sich selbst

Im Römerbrief finde ich einen Satz von anthropologischer Gültigkeit: „(E)s ist keiner, der verständig ist; es ist keiner, der Gott mit Ernst sucht; alle sind abgewichen; sie sind alle zusammen unnütz geworden; es ist keiner, der Gutes tut, es ist auch nicht einer.“ (Röm. 3, 11-12)

Dieser Satz gilt auch unter der Voraussetzung, daß Gott tot ist, und er bildet die anthropologische Grundlage für Nietzsches Konzeption vom Übermenschen: es gibt den Menschen noch nicht; er wird erst noch.

Tagtäglich beobachte ich dieses Phänomen als Pädagoge an einem Internat. Immer wieder wiederholt sich ein auf ein zutiefst gestörtes Innenleben hinweisendes Verhalten: Mißachtung und Mobbing. Mobbing ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel an allen Schulen, so weit ich das beurteilen kann. Und ich denke sogar, daß wir es hier mit einer anthropologischen Struktur zu tun haben, die – unabhängig von historischen Umständen und ökonomischen Krisen – auch die Grundlage für Sexismus, Fremdenhaß und Rassismus bildet, denen die Menschen alltäglich überall auf der Welt zum Opfer fallen.

Mobbing und Rassismus sind wesensverwandte Phänomene, und ich denke, daß der Rassismus nur eine stereotype Form des Mobbing bildet, das ‚universeller‘ anwendbar ist, weil es in gewisser Weise ‚kreativer‘ bei der Wahl der Opfer ist und im Unterschied zum eigentlichen Rassismus jeden treffen kann. Immerhin: dem Mobbing können wir entkommen, indem z.B. Schüler die Schule irgendwann verlassen oder Erwachsene die Arbeitsstelle wechseln oder mißhandelte Frauen können ihre Männer verlassen. Vom Rassismus betroffene Menschen können der Situation nicht so einfach entkommen; in dieser Hinsicht ist wiederum der Rassismus universeller.

Zurück zum Übermenschen: ich glaube, daß Nietzsches Konzeption vom zugrundegehenden Menschen übersieht, daß die scheinbare Minderwertigkeit des Menschen ein notwendiges Übel ist und in unserer Bedürfnisorganisation verankert ist. Die Menschen können ihre Bedürftigkeit nicht einfach abstreifen wie einen Mantel. Sie sind ihr vielmehr unrettbar ausgeliefert. Aus ihrer Bedürftigkeit heraus werden sie zu Mobbern und Rassisten. Indem die Menschen mit ihren Bedürfnissen täglich scheitern, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich ihrer Bedürftigkeit, dem ganzen Elend ihres Daseins zu stellen. Und viele Menschen scheitern auch dabei. Sie laden ihr eigenes Elend auf den Schultern anderer Menschen ab, um sich nicht mit der eigenen Minderwertigkeit auseinandersetzen zu müssen.

Die Menschen neigen in ihrer Schwäche also zu Ersatzhandlungen. Diese bilden den eigentlichen Inhalt ihrer Kulturgeschichte. Dennoch ist es gerade diese Bedürftigkeit, diese Minderwertigkeit, in der sich der Mensch als Mensch in der Fülle seiner Menschlichkeit verwirklicht. Der Mensch, der sich angesichts seiner Bedürftigkeit als Mensch verwirklicht, ist und bleibt ein Mensch. Er ist kein Übermensch. Diese Selbstverwirklichung ist keine Erlösung, keine endgültige Befreiung. Bis zu unserem Tod bleiben wir fehlbare Menschen. Und wenn wir tot sind, sind wir tot.

Die Selbstverwirklichung des Menschen besteht darin, das Elend seiner Bedürftigkeit in Liebe zu verwandeln.

Was aber meint der Apostel Paulus, wenn er feststellt, daß kein Mensch „verständig“ sei und daß alle von Gott „abgewichen“ seien? – Er meint, daß es das ‚Fleisch‘ sei, das uns zur ‚Sünde‘ verführt.

Was aber ist das ‚Fleisch‘? – Es ist unser Begehren, das sich nach Erfüllung sehnt.

Womit sollen wir aber das fleischliche Begehren überwinden? – Mit der Macht der Liebe.

Im christlichen Denken ist die Liebe eine Pflicht, ein höchstes Gebot, das über allen anderen Geboten steht. Es ist deshalb wichtig, darauf zu beharren, daß Liebe aus anthropologischer Sicht allererst ein Bedürfnis ist und kein Gebot. Sie ist Teil unseres Begehrens. Unser ganzes Begehrungsvermögen bildet eine Mannigfaltigkeit aus Bedürfnissen und Trieben, und diese können eine ganz verschiedene Gestalt annehmen. Wie sich diese Bedürfnisse insgesamt organisieren, darauf kommt es an. ‚Liebe‘ bildet nur eine mögliche Gestalt unserer Bedürfnisorganisation. Man kann diese im christlichen Sinne zur Pflicht machen. Aber sie ist keine Pflicht, sondern eine Form unseres Begehrens. Sie selbst ist ein Bedürfnis!

Wer meint, die Liebe – insbesondere in Form der Feindesliebe – zur Pflicht machen zu müssen, richtet den menschlichen Willen gegen sich selbst. Das Gebot der Feindesliebe richtet den Willen gegen sich selbst und verhindert so, daß wir selbst das wollen, was wir wollen dürfen, und das begehren dürfen, was uns als begehrenswert erscheint. Die Feindesliebe deklassiert alle anderen Formen der Liebe, weil sie als ‚schwach‘ gelten; als ‚fleischlich‘.

Letztlich macht ein Liebesgebot, also eine ‚Liebe‘, die unserem Begehrungsvermögen widerspricht, genau das, was den Kern dieses Begehrungsvermögens ausmacht, zu etwas Minderwertigem: das Fleisch!

Es geht aber nicht darum, das Fleisch zu verdammen, sondern darum, es zu ‚erlösen‘. Es geht darum, aus dem Begehren etwas zu machen, das nicht erniedrigt, nicht verletzt und nicht mißbraucht. An die Stelle der Gier soll Liebe treten. Aber nicht als Gebot, sondern als eigentlichste Erfüllung unserer Bedürfnisse und Begehrungen.

Wenn jemand irgendjemanden zum Gegenstand seiner Willkür macht, wie beim Mobbing, so ist er der Feind. Man muß ihn nicht hassen. Man kann ihn auch bedauern, insofern er sein Elend dadurch nur vergrößert, anstatt es zu verringern. Aber lieben muß man ihn nicht.

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