„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 3. September 2018

Svenja Flaßpöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Dekonstruktivismus, Essentialismus und ‚neue‘ Phänomenologie
3. Medien

Svenja Flaßpöhler hat ein grundsätzliches Problem mit dem medialen Auftritt von #metoo. Das Anliegen dieser Bewegung ist medial ambivalent, weil hier intime Erfahrungen mit einem öffentlichen Interesse verquickt werden, das moralisch nicht einwandfrei ist. Andere Frauenthemen wie etwa ‚Gleiches Geld für gleiche Arbeit‘ würden nicht annähernd auf das gleiche mediale Interesse stoßen, wie sexueller Mißbrauch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. So verweist Flaßpöhler z.B. auf die Illustrierte „Focus“, die ihre Leserinnen dazu auffordert, von ihren Mißbrauchserfahrungen zu berichten:
„‚Haben auch Sie Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht? Schicken Sie uns Ihre Geschichte per Mail an ...‘,() ermuntert beispielsweise der Focus seine Leserinen; so billig kommt die Zeitschrift, für ihre feministische Grundhaltung nicht gerade bekannt, nie wieder an heiße Geschichten.“ (Flaßpöhler 2018, S.12)
Die Autorin spricht hier eine Problematik an, die in meinem Blog anhand der Differenz zwischen Zweitpersonalität und Drittpersonalität diskutiert wird. Sexuelle Begegnungen beinhalten zumeist eine gewisse Exklusivität wie sie der Zweitpersonalität entspricht. Sie vertragen keine Beobachterperspektive, zumindestens solange diese nicht Teil der sexuellen Praktik ist. Die dritte Person, also die ‚Drittpersonalität‘, nimmt in diesem heiklen Bereich eine prekäre Position ein: Normativität mischt sich mit Skandalisierung. Nicht zuletzt diese Mischung stellt die öffentliche Aufmerksamkeit sicher.

Wer darüberhinaus versucht, mit Gesetzesinitiativen sexuelle Praktiken zu normieren, wie Flaßpöhler es der #neinheißtnein-Bewegung vorwirft (vgl. Faßpöhler 2018, S.23ff.), macht das schlechthin Intime geradezu zwanghaft öffentlich und verwandelt es in ein Vertragsverhältnis. Die aktuelle Änderung des §177 StgB nötigt die begehrenden Subjekte zu einer ständigen Eruierung des wechselseitigen Willens, zu einer Art ‚hermeneutischer Wachsamkeit‘, wie Flaßpöhler schreibt, um nur ja nicht den Moment zu verpassen, wo der/die Andere nicht mehr will. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.25) Früher nannte man sowas Achtsamkeit. Dabei wird vor allem eins unter Tabu gestellt: sich im sexuellen Akt zu verlieren und aus sich heraus zu treten, was man auch „Ekstase“ nennt. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.26)

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Sonntag, 2. September 2018

Svenja Flaßpöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Dekonstruktivismus, Essentialismus und ‚neue‘ Phänomenologie
3. Medien

Es sind vor allem zwei Positionen, von denen sich Svenja Flaßpöhler absetzen will: der dekonstruktive Gender-Feminismus und der Essentialismus. Bei dem Essentialismus handelt es sich um die patriarchalische Festlegung der Frau auf ein ‚Wesen‘. Sie ist Gefährtin eines Mannes und die Mutter seiner Kinder. Ihr Reich ist das Haus. Die Frau ist vor allem durch die Biologie bestimmt. Der Gender-Feminismus wendet sich gegen diesen Essentialismus, indem er leugnet, daß es so etwas wie eine Biologie bzw. ein biologisch festgelegtes Geschlecht überhaupt gibt. Die Definition des ‚Geschlechts‘ als ‚Gender‘, also als kulturelles Konstrukt, stammt von Judith Butler (1990), und Flaßpöhler zollt ihrem Beitrag zur Emanzipation der Frau ihre Anerkennung. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.31f.) Allerdings meint sie, daß der Gender-Feminismus inzwischen über sein Ziel hinausgeschossen sei:
„Butler weist nämlich nicht nur auf die Gefahren eines biologischen Essenzialismus hin, sondern sie entzieht darüber hinaus der weiblichen Position gleich jede Grundlage.“ (Flaßpöhler 2018, S.33)
Im Entzug dieser Grundlage steht der Dekonstruktivismus des Gender-Feminismus, wie Flaßpöhler schreibt, der patriarchalen Position von Sigmund Freud und Jacques Lacan nahe, die durch einen Satz von Lacan pointiert wird: „DIE Frau existiert nicht.“ (Faßpöhler 2018, S.33) – Letztlich, so Flaßpöhler, wiederholt Judith Butler diesen Satz, „wenn auch mit anderen Vorzeichen und mit einer anderen Intention“:
„Und mit verheerender Konsequenz: Das Subjekt Frau existiert nicht – und also auch keine weibliche Potenz.“ (Faßpöhler 2018, S.33)
Die Grundlage, auf der Flaßpöhler zufolge die weibliche Position beruhen muß, besteht in eben der leiblichen Erfahrung, die der Gender-Feminismus als bloß kulturell bedingt dekonstruiert. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.35f.) Flaßpöhler bezeichnet ihren Ansatz als „Experienzialismus“. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.33) Mir gefällt diese Wortbildung nicht, und sie ist auch überflüssig. Besser gefällt mir schon der Begriff „neue Phänomenologie“ (Flaßpöhler 2018, S.34), wobei ich mich allerdings frage, was an ihr ‚neu‘ sein soll; es sei denn mit ‚neu‘ ist gemeint, daß Flaßpöhler die Phänomenologie erstmals auf ihre Version des Feminismus anwendet. Ich selbst gehe in meinem Blog schon seit vielen Jahren phänomenologisch vor, und zwar in genau dem Sinne, wie es auch Flaßpöhler versteht, nämlich als eine den subjektiven Schein der eigenen Wahrnehmung ernstnehmende Denkweise:
„Wie der Name schon sagt, geht es Phänomenologinnen und Phänomenologen nicht um Wesenhaftigkeit, sondern um Phänomene, sprich: Erscheinungen. Nicht das Sein, sondern der Schein ist die Grundlage der Erkenntnis.“ (Flaßpöhler 2018, S.34)
So wie Flaßpöhler den Dekonstruktivismus und den Essenzialismus der Phänomenologie gegenüberstellt, haben wir es hier mit zwei Formen des Strukturdenkens zu tun: die eine, der Essenzialismus, nimmt den Schein nicht ernst, weil er hinter oder unter ihm verborgene Strukturen behauptet, die wahrer sind als der Schein; die andere, der Dekonstruktivismus, nimmt den Schein nicht ernst, weil er ihn mit Strukturen gleichsetzt, die falsch sind und überwunden werden müssen. Beiden entgeht dabei das Subjekt, dem etwas erscheint, und um dieses Subjekt geht es wiederum in der Phänomenologie und deshalb auch der Autorin, die ja die Frau wieder in ihre Potenz bringen will:
„Anstatt den Mann zu kastrieren, muss die Frau selbst in die Potenz finden: Aktion statt Reaktion. Positivität statt Negativität. Fülle statt Mangel. Anstatt dem Mann die Schuld für das Verharren in Passivität in die Schuhe zu schieben – beruflich, sexuell, existenziell –, kommt die potente Frau in die Lust. Sie begehrt und verführt, befreit sich aus der Objektposition, ist souveränes Subjekt auch der Schaulust. ... niemand kann sie von der Aufgabe entlasten, selbstbestimmt zu handeln. Niemand kann ihr abnehmen, die zu werden, die sie sein will.“ (Flaßpöhler 2018, S.44)
Grundlage dieser Selbstermächtigung ist die eigene leibliche Erfahrung. Der ‚Leib‘ bezeichnet die innere Erfahrung vom eigenen Körper; er ist das, „was wir von innen wahrnehmen“ (vgl. Flaßpöhler 2018, S.35). Flaßpöhler spricht also vom ‚Körperleib‘, wie wir ihn in diesem Blog schon von Helmuth Plessner kennen. Zu dieser subjektiven Erlebnisweise der eigenen Leiblichkeit gehört selbstverständlich auch die Sexualität, die sich nicht einfach als kulturell konstruiert wegerklären läßt. Sie hat ihre eigene (Lebens-)Geschichte, ihre Biographie, die sich bei jedem Menschen unterscheidet. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.36) Wir haben es also mit einer dreidimensionalen Komplexität zu tun, Biologie, Biographie und Kultur, die alle zusammen einen individuellen Menschen ergeben, dessen Perspektive sich von jedem anderen Menschen unterscheidet.

So unterscheiden sich also schon Männer von Männern und Frauen von Frauen. Noch mehr aber unterscheiden sich Männer und Frauen:
„Was Männlichkeit und Weiblichkeit unterscheidet, ist die unbestreitbare Exklusivität ganz bestimmter, leiblich gebundener Erfahrungen sowie die faktische Unmöglichkeit, sich den Erfahrungsraum des jeweils anderen Geschlechts vollständig zu erschließen.“ (Flaßpöhler 2018, S.37
Letztlich haben wir es bei der Heterosexualität also mit einem besonders schwierigen Begehren zu tun: kein anderes Begehren ist so von der wechselseitigen Fremdheit der Partner geprägt wie dieses. Aber für Flaßpöhler ist das kein Grund, dieses prekäre Begehren nun abwehren zu müssen und es zu pathologisieren, sondern im Gegenteil der Grund für eine intensivere wechselseitige Zuwendung:
„Es wäre an der Zeit, dass an die Stelle dieser tieftraurigen Verteidigung des Eigenen ein wechselseitiges Erkennen, eine absolute Hinwendung zum Anderen träte.“ (Flaßpöhler 2018, S.31)
Das ist also Flaßpöhlers dritter Weg: neue Formen des Miteinanders zu finden, die auf der Anerkennung subjektiven Begehrens beruhen, das seine biologischen, kulturellen und eben auch individuellen Motive nicht verleugnen kann und darf, wenn wir, Frauen und Männer, in unser menschliches Potenzial finden wollen.

PS: Zur Neuen Philosophie vergleiche auch meinen Post vom 01.11.2019.

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Samstag, 1. September 2018

Svenja Flaßpöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Dekonstruktivismus, Essentialismus und ‚neue‘ Phänomenologie
3. Medien

Beworben wird Svenja Flaßpöhlers Buch, „Die potente Frau“ (2018), vom Ullstein-Verlag als ein „Beziehungsratgeber“, als ein Ratgeber für „Partnerschaft & Liebe“. Selten ist mir eine irreführendere Werbung begegnet als das. „Philosophische Streitschrift“ paßt schon besser. Denn Flaßpöhlers Buch ist beides: philosophisch und streitbar. Schon der Prolog liest sich mit seinen prägnanten, kurzen Sätzen wie ein Manifest. Die beiden Eingangssätze bringen eine Utopie auf den Punkt, die der Autorin zufolge schon Wirklichkeit geworden ist:
„Rechtlich ist das Patriarchat passé. Die potente Frau hat es auch psychisch überwunden.“ (Flaßpöhler 2018, S.7)
Diese Worte setzen sich im Bewußtsein des Rezensenten fest und hallen darin nach. Alles, was folgt, baut darauf auf: in der gesellschaftlichen Verfassung ist das Patriarchat überwunden, nun gilt es, ihn auch in den Köpfen zu überwinden! Die Emanzipation ist keine Frage der Gesetzgebung mehr, sondern vor allem eine Frage der Selbstermächtigung. Wer weiterhin den Weg des Gesetzes gehen will, wie die #neinheißtnein-Kampagne, infantilisiert die Frau, die sich nur ‚in ihre Potenz findet‘, wie Flaßpöhler es ausdrückt (vgl. Flaßpöhler 2018, S.13 u.ö.), wenn sie auf ihre eigenen Möglichkeiten setzt: auf ihre Potenzialität.

Svenja Flaßpöhler spielt mit der Doppeldeutigkeit der Potenz als Macht und als Möglichkeit und definiert die potente Frau als einen Menschen, der seine „Kraft vielmehr aus der Möglichkeit schöpft“. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.39) – Dabei geht es nicht um einen Essenzialismus, als bestünde das Ziel darin, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, so daß nur, wer sein Potenzial voll entwickelt, sich auch als Mensch verwirklicht. Das unausgeschöpfte Potenzial ist nichts Negatives, das überwunden werden müßte, wie Flaßpöhler in aller wünschenswerten Klarheit festhält:
„Ich kann – aber ich muss nicht; Hauptsache, ich werde die, die ich bin. Die nichtrealisierte Option ist dabei nicht weniger wert als die realisierte.“ (Flaßpöhler 2018, S.39)
Frauen sind nicht auf ein Wesen festgelegt. Sie können sich anders entscheiden. Möglichkeiten bilden Angebote, keine Verpflichtung. Aber sie bleiben trotzdem, auch wenn sie im Hintergrund bleiben, etwas Positives; und dazu gehört Flaßpöhler zufolge auch die Sexualität, die sich nicht im Nein-Sagen, in der Abwehr der männlichen Sexualität erschöpft. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.15) Den „Hashtag-Feministinnen“ wirft Flaßpöhler vor, daß sie an diesem patriarchalisch geprägten Bild der weiblichen Sexualität, der Abwehr des Mannes, festhalten. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.30) Die Heldinnen der Hashtag-Bewegten sind auf ihren Opferstatus festgelegt. Und Opfer sind alle, denn es wird nicht mehr differenziert. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.13) Vergewaltigung und Belästigung sind ein und dasselbe. Heterosexualität wird unter Generalverdacht gestellt. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.33)

Der Begriff der Potenzialität räumt deshalb auch noch mit diesem  Mißverständnis auf. Flaßpöhler wirft der #metoo-Bewegung vor, nicht mehr hinreichend zwischen Vergewaltigung, Belästigung und Verführung zu differenzieren. Auf Verführung, so Flaßpöhler, sollten wir nicht verzichten, denn sie entspricht unserer Potenzialität. Wer sich nicht mehr verführen lassen kann, ist innerlich erstarrt. Und die Belästigung gehört zur Verführung dazu, so daß sie letztlich nur ihre andere Seite bildet. Denn Verführung ist etwas zutiefst Subjektives, und was der oder dem anderen schmeichelt, wird jemand anderes als Belästigung erleben:
„Je nachdem, ob eine Frau einen Mann attraktiv findet oder nicht, ob sie in Stimmung ist oder nicht, und je nachdem, wie sie sozialisiert wurde, kann ein und derselbe Sprechakt, kann ein und dieselbe Geste als Verführung oder als Belästigung wahrgenommen werden (dasselbe gilt natürlich auch für den Fall, dass eine Frau einen Mann verführen will). Daraus folgt: Wer eine Welt ohne Belästigung will, will in letzter Konsequenz eine Welt ohne Verführung.“ (Flaßpöhler 2018, S.13f.)
Die potente Frau hält deshalb Belästigungen aus, ohne den Gesetzgeber oder die stets empörungsbereite Öffentlichkeit zu Hilfe zu rufen. Sie ist in der Lage, sich eigene „Handlungsoptionen“ zu eröffnen und zu nutzen. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.13) Sie ist bereit, sich nach den Worten Kants aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien:
„Auch Frauen sind verpflichtet, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und die ihnen durch jahrhundertelangen Emanzipationskampf bereitgestellte Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Existenz willentlich zu ergreifen oder dies zumindest ernsthaft zu versuchen.“ (Flaßpöhler 2018, S.29)
Autonomie bedeutet Flaßpöhler zufolge nicht, daß einem geschriebene oder ungeschriebene Gesetze den Weg ebnen. Autonomie bedeutet, daß wir uns auch in ungünstigen und psychisch belastenden Situationen zu behaupten versuchen. Es war, so Flaßpöhler, „noch nie einfach, Selbstbestimmung nur zu fordern, sondern auch konkret zu leben“. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.15)

Die potente Frau geht Svenja Flaßpöhler zufolge einen eigenen, jenseits von Dekonstruktivismus und Essenzialismus liegenden dritten Weg, denn sie schöpft ihre Kraft aus der Erfahrung, die sie mit ihren Möglichkeiten macht. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.34ff.) Darauf gehe ich im folgenden Blogpost ein.

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