„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. September 2018

Svenja Flaßpöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Dekonstruktivismus, Essentialismus und ‚neue‘ Phänomenologie
3. Medien

Beworben wird Svenja Flaßpöhlers Buch, „Die potente Frau“ (2018), vom Ullstein-Verlag als ein „Beziehungsratgeber“, als ein Ratgeber für „Partnerschaft & Liebe“. Selten ist mir eine irreführendere Werbung begegnet als das. „Philosophische Streitschrift“ paßt schon besser. Denn Flaßpöhlers Buch ist beides: philosophisch und streitbar. Schon der Prolog liest sich mit seinen prägnanten, kurzen Sätzen wie ein Manifest. Die beiden Eingangssätze bringen eine Utopie auf den Punkt, die der Autorin zufolge schon Wirklichkeit geworden ist:
„Rechtlich ist das Patriarchat passé. Die potente Frau hat es auch psychisch überwunden.“ (Flaßpöhler 2018, S.7)
Diese Worte setzen sich im Bewußtsein des Rezensenten fest und hallen darin nach. Alles, was folgt, baut darauf auf: in der gesellschaftlichen Verfassung ist das Patriarchat überwunden, nun gilt es, ihn auch in den Köpfen zu überwinden! Die Emanzipation ist keine Frage der Gesetzgebung mehr, sondern vor allem eine Frage der Selbstermächtigung. Wer weiterhin den Weg des Gesetzes gehen will, wie die #neinheißtnein-Kampagne, infantilisiert die Frau, die sich nur ‚in ihre Potenz findet‘, wie Flaßpöhler es ausdrückt (vgl. Flaßpöhler 2018, S.13 u.ö.), wenn sie auf ihre eigenen Möglichkeiten setzt: auf ihre Potenzialität.

Svenja Flaßpöhler spielt mit der Doppeldeutigkeit der Potenz als Macht und als Möglichkeit und definiert die potente Frau als einen Menschen, der seine „Kraft vielmehr aus der Möglichkeit schöpft“. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.39) – Dabei geht es nicht um einen Essenzialismus, als bestünde das Ziel darin, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, so daß nur, wer sein Potenzial voll entwickelt, sich auch als Mensch verwirklicht. Das unausgeschöpfte Potenzial ist nichts Negatives, das überwunden werden müßte, wie Flaßpöhler in aller wünschenswerten Klarheit festhält:
„Ich kann – aber ich muss nicht; Hauptsache, ich werde die, die ich bin. Die nichtrealisierte Option ist dabei nicht weniger wert als die realisierte.“ (Flaßpöhler 2018, S.39)
Frauen sind nicht auf ein Wesen festgelegt. Sie können sich anders entscheiden. Möglichkeiten bilden Angebote, keine Verpflichtung. Aber sie bleiben trotzdem, auch wenn sie im Hintergrund bleiben, etwas Positives; und dazu gehört Flaßpöhler zufolge auch die Sexualität, die sich nicht im Nein-Sagen, in der Abwehr der männlichen Sexualität erschöpft. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.15) Den „Hashtag-Feministinnen“ wirft Flaßpöhler vor, daß sie an diesem patriarchalisch geprägten Bild der weiblichen Sexualität, der Abwehr des Mannes, festhalten. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.30) Die Heldinnen der Hashtag-Bewegten sind auf ihren Opferstatus festgelegt. Und Opfer sind alle, denn es wird nicht mehr differenziert. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.13) Vergewaltigung und Belästigung sind ein und dasselbe. Heterosexualität wird unter Generalverdacht gestellt. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.33)

Der Begriff der Potenzialität räumt deshalb auch noch mit diesem  Mißverständnis auf. Flaßpöhler wirft der #metoo-Bewegung vor, nicht mehr hinreichend zwischen Vergewaltigung, Belästigung und Verführung zu differenzieren. Auf Verführung, so Flaßpöhler, sollten wir nicht verzichten, denn sie entspricht unserer Potenzialität. Wer sich nicht mehr verführen lassen kann, ist innerlich erstarrt. Und die Belästigung gehört zur Verführung dazu, so daß sie letztlich nur ihre andere Seite bildet. Denn Verführung ist etwas zutiefst Subjektives, und was der oder dem anderen schmeichelt, wird jemand anderes als Belästigung erleben:
„Je nachdem, ob eine Frau einen Mann attraktiv findet oder nicht, ob sie in Stimmung ist oder nicht, und je nachdem, wie sie sozialisiert wurde, kann ein und derselbe Sprechakt, kann ein und dieselbe Geste als Verführung oder als Belästigung wahrgenommen werden (dasselbe gilt natürlich auch für den Fall, dass eine Frau einen Mann verführen will). Daraus folgt: Wer eine Welt ohne Belästigung will, will in letzter Konsequenz eine Welt ohne Verführung.“ (Flaßpöhler 2018, S.13f.)
Die potente Frau hält deshalb Belästigungen aus, ohne den Gesetzgeber oder die stets empörungsbereite Öffentlichkeit zu Hilfe zu rufen. Sie ist in der Lage, sich eigene „Handlungsoptionen“ zu eröffnen und zu nutzen. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.13) Sie ist bereit, sich nach den Worten Kants aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien:
„Auch Frauen sind verpflichtet, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und die ihnen durch jahrhundertelangen Emanzipationskampf bereitgestellte Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Existenz willentlich zu ergreifen oder dies zumindest ernsthaft zu versuchen.“ (Flaßpöhler 2018, S.29)
Autonomie bedeutet Flaßpöhler zufolge nicht, daß einem geschriebene oder ungeschriebene Gesetze den Weg ebnen. Autonomie bedeutet, daß wir uns auch in ungünstigen und psychisch belastenden Situationen zu behaupten versuchen. Es war, so Flaßpöhler, „noch nie einfach, Selbstbestimmung nur zu fordern, sondern auch konkret zu leben“. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.15)

Die potente Frau geht Svenja Flaßpöhler zufolge einen eigenen, jenseits von Dekonstruktivismus und Essenzialismus liegenden dritten Weg, denn sie schöpft ihre Kraft aus der Erfahrung, die sie mit ihren Möglichkeiten macht. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.34ff.) Darauf gehe ich im folgenden Blogpost ein.

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