„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. September 2018

Svenja Flaßpöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Dekonstruktivismus, Essentialismus und ‚neue‘ Phänomenologie
3. Medien

Es sind vor allem zwei Positionen, von denen sich Svenja Flaßpöhler absetzen will: der dekonstruktive Gender-Feminismus und der Essentialismus. Bei dem Essentialismus handelt es sich um die patriarchalische Festlegung der Frau auf ein ‚Wesen‘. Sie ist Gefährtin eines Mannes und die Mutter seiner Kinder. Ihr Reich ist das Haus. Die Frau ist vor allem durch die Biologie bestimmt. Der Gender-Feminismus wendet sich gegen diesen Essentialismus, indem er leugnet, daß es so etwas wie eine Biologie bzw. ein biologisch festgelegtes Geschlecht überhaupt gibt. Die Definition des ‚Geschlechts‘ als ‚Gender‘, also als kulturelles Konstrukt, stammt von Judith Butler (1990), und Flaßpöhler zollt ihrem Beitrag zur Emanzipation der Frau ihre Anerkennung. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.31f.) Allerdings meint sie, daß der Gender-Feminismus inzwischen über sein Ziel hinausgeschossen sei:
„Butler weist nämlich nicht nur auf die Gefahren eines biologischen Essenzialismus hin, sondern sie entzieht darüber hinaus der weiblichen Position gleich jede Grundlage.“ (Flaßpöhler 2018, S.33)
Im Entzug dieser Grundlage steht der Dekonstruktivismus des Gender-Feminismus, wie Flaßpöhler schreibt, der patriarchalen Position von Sigmund Freud und Jacques Lacan nahe, die durch einen Satz von Lacan pointiert wird: „DIE Frau existiert nicht.“ (Faßpöhler 2018, S.33) – Letztlich, so Flaßpöhler, wiederholt Judith Butler diesen Satz, „wenn auch mit anderen Vorzeichen und mit einer anderen Intention“:
„Und mit verheerender Konsequenz: Das Subjekt Frau existiert nicht – und also auch keine weibliche Potenz.“ (Faßpöhler 2018, S.33)
Die Grundlage, auf der Flaßpöhler zufolge die weibliche Position beruhen muß, besteht in eben der leiblichen Erfahrung, die der Gender-Feminismus als bloß kulturell bedingt dekonstruiert. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.35f.) Flaßpöhler bezeichnet ihren Ansatz als „Experienzialismus“. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.33) Mir gefällt diese Wortbildung nicht, und sie ist auch überflüssig. Besser gefällt mir schon der Begriff „neue Phänomenologie“ (Flaßpöhler 2018, S.34), wobei ich mich allerdings frage, was an ihr ‚neu‘ sein soll; es sei denn mit ‚neu‘ ist gemeint, daß Flaßpöhler die Phänomenologie erstmals auf ihre Version des Feminismus anwendet. Ich selbst gehe in meinem Blog schon seit vielen Jahren phänomenologisch vor, und zwar in genau dem Sinne, wie es auch Flaßpöhler versteht, nämlich als eine den subjektiven Schein der eigenen Wahrnehmung ernstnehmende Denkweise:
„Wie der Name schon sagt, geht es Phänomenologinnen und Phänomenologen nicht um Wesenhaftigkeit, sondern um Phänomene, sprich: Erscheinungen. Nicht das Sein, sondern der Schein ist die Grundlage der Erkenntnis.“ (Flaßpöhler 2018, S.34)
So wie Flaßpöhler den Dekonstruktivismus und den Essenzialismus der Phänomenologie gegenüberstellt, haben wir es hier mit zwei Formen des Strukturdenkens zu tun: die eine, der Essenzialismus, nimmt den Schein nicht ernst, weil er hinter oder unter ihm verborgene Strukturen behauptet, die wahrer sind als der Schein; die andere, der Dekonstruktivismus, nimmt den Schein nicht ernst, weil er ihn mit Strukturen gleichsetzt, die falsch sind und überwunden werden müssen. Beiden entgeht dabei das Subjekt, dem etwas erscheint, und um dieses Subjekt geht es wiederum in der Phänomenologie und deshalb auch der Autorin, die ja die Frau wieder in ihre Potenz bringen will:
„Anstatt den Mann zu kastrieren, muss die Frau selbst in die Potenz finden: Aktion statt Reaktion. Positivität statt Negativität. Fülle statt Mangel. Anstatt dem Mann die Schuld für das Verharren in Passivität in die Schuhe zu schieben – beruflich, sexuell, existenziell –, kommt die potente Frau in die Lust. Sie begehrt und verführt, befreit sich aus der Objektposition, ist souveränes Subjekt auch der Schaulust. ... niemand kann sie von der Aufgabe entlasten, selbstbestimmt zu handeln. Niemand kann ihr abnehmen, die zu werden, die sie sein will.“ (Flaßpöhler 2018, S.44)
Grundlage dieser Selbstermächtigung ist die eigene leibliche Erfahrung. Der ‚Leib‘ bezeichnet die innere Erfahrung vom eigenen Körper; er ist das, „was wir von innen wahrnehmen“ (vgl. Flaßpöhler 2018, S.35). Flaßpöhler spricht also vom ‚Körperleib‘, wie wir ihn in diesem Blog schon von Helmuth Plessner kennen. Zu dieser subjektiven Erlebnisweise der eigenen Leiblichkeit gehört selbstverständlich auch die Sexualität, die sich nicht einfach als kulturell konstruiert wegerklären läßt. Sie hat ihre eigene (Lebens-)Geschichte, ihre Biographie, die sich bei jedem Menschen unterscheidet. (Vgl. Flaßpöhler 2018, S.36) Wir haben es also mit einer dreidimensionalen Komplexität zu tun, Biologie, Biographie und Kultur, die alle zusammen einen individuellen Menschen ergeben, dessen Perspektive sich von jedem anderen Menschen unterscheidet.

So unterscheiden sich also schon Männer von Männern und Frauen von Frauen. Noch mehr aber unterscheiden sich Männer und Frauen:
„Was Männlichkeit und Weiblichkeit unterscheidet, ist die unbestreitbare Exklusivität ganz bestimmter, leiblich gebundener Erfahrungen sowie die faktische Unmöglichkeit, sich den Erfahrungsraum des jeweils anderen Geschlechts vollständig zu erschließen.“ (Flaßpöhler 2018, S.37
Letztlich haben wir es bei der Heterosexualität also mit einem besonders schwierigen Begehren zu tun: kein anderes Begehren ist so von der wechselseitigen Fremdheit der Partner geprägt wie dieses. Aber für Flaßpöhler ist das kein Grund, dieses prekäre Begehren nun abwehren zu müssen und es zu pathologisieren, sondern im Gegenteil der Grund für eine intensivere wechselseitige Zuwendung:
„Es wäre an der Zeit, dass an die Stelle dieser tieftraurigen Verteidigung des Eigenen ein wechselseitiges Erkennen, eine absolute Hinwendung zum Anderen träte.“ (Flaßpöhler 2018, S.31)
Das ist also Flaßpöhlers dritter Weg: neue Formen des Miteinanders zu finden, die auf der Anerkennung subjektiven Begehrens beruhen, das seine biologischen, kulturellen und eben auch individuellen Motive nicht verleugnen kann und darf, wenn wir, Frauen und Männer, in unser menschliches Potenzial finden wollen.

PS: Zur Neuen Philosophie vergleiche auch meinen Post vom 01.11.2019.

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