„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 26. November 2022

Was sind die Prioritäten?

Sie können nicht erkennen, was die Aktionen der Letzten Generation zur Vermeidung des Klimawandels beitragen könnten, hört man von Politikern, von denen nicht bekannt ist, daß sie irgendwann einmal damit aufgefallen wären, ein gewisses, wenigstens minimales Engagement in dieser Richtung an den Tag zu legen. Ganz besonders fallen mir Dobrindt und Scheuer auf, die beiden früheren CSU-Verkehrsminister. Daß sie sich angesichts ihrer verheerenden Bilanz als Verkehrsminister dieser Tage trauen, sich zu Wort zu melden, ist erstaunlich. Dazu gehört eine gehörige Portion Schamlosigkeit.

Andere beklagen die fehlende Verhältnismäßigkeit, wenn sich Klimaschützer für ein 9-Euro-Ticket oder für Tempo 100 auf Autobahnen kleben, Kunstwerke mit Lebensmitteln bewerfen und mit Fahrrädern auf Startbahnen fahren. Um so schlimmer für die Politik, denn was Tempo 100 betrifft, muß man feststellen, daß sie bislang völlig versagt hat und wohl nichts, ob legal, illegal oder kriminell, dazu führen könnte, so etwas in Deutschland durchzusetzen. Stattdessen ist es wahrscheinlicher, daß CDU/CSU in den von ihnen regierten Bundesländern, allen voran Bayern, den Rechtsstaat aushöhlen; begleitet von entsprechenden Kampagnen im Bundestag. Immer schon mit tatkräftiger Unterstützung der FDP, die angeblich mit SPD und GRÜNEN in einer Regierung sitzt und einen Justizminister stellt, der prüfen will, ob die Gesetze gegen Aktionen der Letzten Generation noch ausreichen.

Leider haben auch die GRÜNEN vergessen, daß auch sie einmal mit Aktionen zivilen Ungehorsams auf den Straßen unterwegs gewesen waren. Alle möglichen von Aktivisten der Letzten Generation angeblich bedrohte Güter sind ihnen plötzlich wichtiger als die große Transformation im Namen des höchsten Gutes: unseren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen.

Haben wir alle den Verstand verloren? Haben wir die Fähigkeit verloren, abzuwägen und dann Prioritäten zu setzen?

Es sieht so aus.

Sonntag, 20. November 2022

Lanz ein Klimaleugner? – Nein, aber ...

Im letzten Podcast von Lanz & Precht bemitleideten sich Markus Lanz und Richard David Precht gegenseitig, wie ihnen das, was sie sagen, immer gegen sie ausgelegt wird, indem Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden. Bei Markus Lanz war es sein Verhalten gegenüber der Letzte-Generation-Vertreterin Carla Rochel, in seiner Gesprächsrunde vor elf Tagen. Lanz erklärte seine Motive damit, daß ihm die sehr sympathische junge Frau leid getan habe, weil sie so eine negative Einstellung zur Zukunft habe. Er wollte ihr sozusagen eine etwas erfreulichere Weltsicht vermitteln, um ihr Mut zu machen.

Was tat Lanz also? – Er leugnete, daß 2 Grad mehr oder sogar 4 Grad mehr ein Problem seien für die Menschheit. Denn die Menschen würden sich schon anpassen. Das hätten sie schon immer getan. Und die Technik würde tolle Dinge erfinden, die uns das ermöglichen. Zum Beispiel Israel. Das sei eine Wüste. Kein Trinkwasser. Aber in Israel würde mit Hilfe der Technik Trinkwasser aus dem Abwasser gewonnen. Großartig sei das! In diesem Tonfall ging das weiter.

Kurz gesagt: Lanz machte den optimistischen, zugewandten väterlichen Freund, um das traurige kleine Mädchen aufzumuntern. Precht gegenüber gestand er sogar, daß er sie gern gefragt hätte, ob sie Kinder kriegen wolle, sich aber nicht getraut habe.

Hätte Lanz diese Frage gestellt, hätte er sich eindeutig im Ton vergriffen. Dennoch offenbart sein Eingeständnis die ganze Fragwürdigkeit seiner Haltung Frau Rochel gegenüber.

Nein, Lanz ist kein Klimaleugner. Aber mit den Daten der Klimaerwärmung herumzujonglieren und so zu tun, als wäre das alles kein Problem, ist nicht besser, denn im Endeffekt läuft das auf das gleiche hinaus: Hände in den Schoß legen und Politik und Ingenieure machen lassen. Wir sind alle in guten Händen.

Es ist so leicht, sich damit zu entschuldigen, was man gesagt habe, sei aus dem Zusammenhang gerissen worden. Denn es ist nicht das Problem, daß man Lanz nicht richtig zugehört hätte! Umgekehrt ist das Problem: Lanz hat sich selbst nicht richtig zugehört. Er sollte sich seine Sendung noch mal vornehmen und nachrecherchieren, was er wirklich gesagt hat, anstatt sich zu wundern, wie sehr man ihn mißverstanden hat. Israel ist also ein Wüstenstaat? Und Israel kommt trotzdem klar? Muß ich jetzt also daraus folgern, daß wir ruhig damit weitermachen können, auch noch den ganzen Planeten in eine Wüste zu verwandeln?

Nur einen Schritt weiter und wir sind bei Elon Musk: der schwört schon länger auf die tolle Technik und geht mit der Vision hausieren, zum Mars auszuwandern. Natürlich ist auch der Mars eine Wüste. Die Logik dieser Idee ist also etwas verquer. Aber macht nichts. Vielleicht haben wir ihm ja nur nicht richtig zugehört.

Mittwoch, 16. November 2022

These zum Gender

Die Binarität der Geschlechter hat eigentlich nichts mit der gelebten Sexualität zu tun. Die gelebte Sexualität ist Gender und nicht Geschlecht, und sie ist auch nicht binär, sondern polymorph. Es gibt so viele Gender, wie es Menschen gibt, die sich verlieben. Mit anderen Worten: Gender gibt eine Objektpräferenz an, die mit der Binarität der Geschlechter nichts zu tun hat. Mein persönliches Gender: mich in einen Menschen zu verlieben, bedeutet, diesen einen Menschen zu begehren und sonst niemand.

Ich bin halt Romantiker. Andere leben ihre Sexualität anders aus. Kein Problem.

Wenn von der Binarität der Geschlechter die Rede ist, bezieht sich das auf etwas anderes als auf die Aktivierung von mit unserer Körperlichkeit verbundenen Lustzentren: es gibt Menschen, die können gebären, und es gibt Menschen, die können nicht gebären. Ob es mal eine reproduktionsmedizinische Technologie geben wird, die es allen Menschen ermöglicht, zu gebären, ist für diese Definition irrelevant. Es zeichnet diese Definition aus, daß sie eine Erklärung dafür bietet, warum wir in einer Gesellschaft leben, die seit mindestens 3.000 Jahren über den Körper von Frauen verfügt; warum ihnen das Recht abgesprochen wird, einen Körper zu haben.

Es geht hier nicht nur um eine Vergemeinschaftung des weiblichen Körpers. Hinter dieser Vergemeinschaftung steht vielmehr das Patriarchat. Männer wollen die eigentlichen ‚Erzeuger‘ von Kindern sein und werten deshalb nicht nur die Gebärfunktion ab, sondern enteignen zugleich auch die Frauen ihrer Verfügungsgewalt über sich selbst.

Das sollte die Grundlage jeder Diskussion über Gender (gelebte Sexualität) sein. Es beugt Mißverständnissen vor und bewahrt uns davor, uns in lauter anthropologischen Unmöglichkeiten zu verrennen.

Freitag, 11. November 2022

Was bleibt

Markus Lanz – zu seinen oft zu hörenden Sprüchen gehört: „Ich will ja nicht moralisieren, aber ...“ Und dann moralisiert er. Egal welches Thema. Alles wird moralisiert. So kam es bei Lanz zur Schnappatmung, als eine Aktivistin von Last Generation als eines ihrer Ziele Tempo 100 auf Autobahnen nannte: „Auf Autobahnen!? Das ist ja Erpressung!“

Interessant, an welcher Stelle bei Lanz die Diskussionsbereitschaft endet.

Außerdem waren es die von Lebensmitteln bedrohten Kunstwerke, die Lanz im hohen Maße entrüsteten: „Ich möchte, daß ich, und nicht nur ich, auch meine Kinder, diese Kunstwerke auch in Zukunft noch bewundern kann!“

Lieber Markus Lanz, wenn etwas von uns Menschen eine Zukunft hat, dann sind es nicht Rembrandt, Van Gogh oder Munch. Deren Werke werden den Weg alles Menschlichen gehen.

Was bleibt, ist strahlender Atommüll. Und chemischer Sondermüll, der sogar noch giftiger ist, abgelagert in Salzbergwerken. Allein in Deutschland 18 Millionen Tonnen jährlich. Für immer, weil dieser Giftmüll nicht integrierbar in die natürlichen Kreisläufe unseres Planeten ist. Das ist es, was bleibt. Noch in hunderttausend, in einer Million Jahren, wenn nichts mehr an von Lebensmitteln beworfene Kunstwerke erinnern wird.

Das nennt man Anthropozän.

Das ist unser Erbe. Das Erbe der Menschheit.

In der Zwischenzeit landen Aktivisten von Last Generation in Bayern – anscheinend auch noch mit Zustimmung eines Richters! Was ist das für ein Rechtsstaat! – vorbeugend für 30 Tage in den Knast, weil es die CSU so will.

Samstag, 5. November 2022

Nachtrag zu Adams Rippe

Poppenbergs Kommentar zu Vosslers Essay macht deutlich, daß es oft die scheinbar nebensächlichen Dinge sind, die einem zu denken geben sollten. Hat sich eigentlich schon jemand mal gefragt: Warum Adams Rippe?

Vom Handwerklichen her gesehen wäre die Rippe eigentlich ein wenig taugliches Material, um daraus einen Menschen zu formen. Lehm wäre da naheliegender gewesen. Geht es um einen passenden Körperteil, hätte man wohl eher Adams Bauch genommen, um ihm per ‚Kaiserschnitt‘ seine Eva zu entnehmen. Sogar der Kopf kann, wie wir wissen, Gedankendinge hervorbringen und wäre deshalb für eine Kopfgeburt geeignet, wie das Beispiel von Zeus und Athene zeigt. Der Ort ihres Hervorgangs machte Athene sogar zu einem Symbol für Weisheit. – Warum also eine Rippe?

Ich vermute, daß es gerade das ist, daß die Rippe am wenigstens einer Gebärmutter gleicht, was sie so geeignet für diesen speziellen Mythos macht. Hatte Gott in einer ersten Version Frau und Mann noch beide nach seinem Ebenbild geschaffen, so daß sie auf Augenhöhe zueinander standen, wollten die Autoren der zweiten Version jeden Gedanken daran, daß Eva Adam ebenbürtig sein könnte, tilgen. Bei der Erschaffung Evas sollte einfach nichts an ihre Gebärmutter erinnern, die die Vermutung nahegelegt hätte, daß, wenn schon nicht gleichzeitig geschaffen, es wohl eher Adam gewesen wäre, der aus Eva hervorging, als umgekehrt.

Adam sollte mit seiner Rippe alle Assoziationsketten abbrechen und als erster Mensch konkurrenzlos dastehen. Lehm hätte an ‚Mutter Erde‘ denken lassen. Der Bauch und sogar der Kopf hätten ebenfalls die Gedanken von Adam ab- und zu Evas Gebärmutter hinschweifen lassen. Eine Rippe hingegen nicht! Nichts, aber auch gar nichts erinnert bei Adams Rippe daran, daß eigentlich nur Frauen dazu in der Lage sind, Menschen in die Welt zu setzen.

Mittwoch, 2. November 2022

„Sprachwandel und Kulturwandel“

Gerhard Poppenberg (Hg), Sprachwandel und Kulturwandel, 2022

  1. Magier und Mystiker
  2. Adam, Eva und das Genderproblem

Gerhard Poppenberg hebt die feine Ironie hervor, mit der Kurt Vossler in seinem 1916 veröffentlichten Text zu „Form und Bedeutung“ die Genderproblematik mehr andeutet, als daß er über sie spricht (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.36 und S.55): „Und als Adam zum ersten Mal des Weibes ansichtig wurde, nannte er sie ‚Männin‘, weil sie, wie er meinte, ‚doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch und vom Manne genommen ist‘.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.7)

Vossler versetzt Adam in diesem Zitat aus der Luther-Bibel in den Zustand des Meinens und lädt so die männlichen Leser seiner Zeit dazu ein, über den Status der Frauen in ihrer Gesellschaft noch einmal ein wenig nachzudenken. Er selbst bezieht auf subtile Weise Position, indem an zwei zentralen Stellen, nämlich am Anfang und am Ende seines Textes, zwei alternative Versionen einer Versöhnung der zwei Seiten der Sprache, von Form und Bedeutung, vorträgt. Adams Version besteht in einem entschiedenen Realismus: nomen est omen! Der Name bestimmt das Wesen des Benannten. Für Eva heißt das, daß es ihr Wesen ist, ein Teil von Adam zu sein.

Wir wissen, wie es weiterging. Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben, dann kam die babylonische Sprachverwirrung, und so verloren die Sprachen ihre Macht über das Wesen der Dinge.

Am Ende des Buches teilt uns Vossler seine Version einer Versöhnung von Form und Bedeutung in der Sprache mit, die sich von der adamitischen Version unterscheidet. Nachdem Vossler zunächst vom „Durchschnittsmenschen“ gesprochen hatte, der sich pragmatisch am Alltag orientiert, in der die Sprache ganz gut funktioniert, ohne daß er sich haarspalterische Gedanken über Form und Bedeutung machen muß, kommt er zum Schluß auf die „Künstler der Sprache“, die „Dichter“ zu sprechen. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.18) Wenig überraschend weiß Vossler noch nichts von den heutigen Debatten über das Gendern und benutzt ganz naiv das generische Maskulinum. Aber er sieht die Lösung des sprachwissenschaftlichen Dilemmas im „Schoß der Dichtung“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.19) und macht so, auf Augenhöhe mit den Männern, die Frauen – pars pro toto: „Schoß“ – zu Sprachsubjekten. Vossler, so Poppenberg (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.37), will offensichtlich die adamitische Version außer Kraft setzen, ‚Schoß‘ gegen ‚Rippe‘ setzen und die zwei Seiten der Sprache versöhnen, indem die Frauen wieder gleichberechtigter Teil der Sprachgemeinschaft werden, ähnlich wie ja auch in der Dichtung die Aufspaltung der Sprache in Form und Bedeutung überwunden wird.

An dieser Stelle muß ich mich zunächst Poppenbergs Vorstellung vom Sprach- und Kulturwandel zuwenden, wie er sich in unserer Gesellschaft am Genderkonflikt zeigt. Poppenberg definiert die Kultur als ein „kollektives und gesellschaftliches Phänomen“; als die „Gemeinschaft derer, die einen Sinn teilen“. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.41)

Im Detail führt Poppenberg aus: „Der Geist ist als historische Kraft in der Sprache wirksam und nimmt als Kultur Gestalt an. Er ist als Sprach- und Kulturwandel erkennbar, ohne eine substanzielle Instanz jenseits der historischen Prozesse zu sein. Kultur, Geist und Sprache sind Korrelationsbegriffe. ... Die Korrelation der drei Begriffe gründet in der Gemeinschaft der Sprechenden, die ihre Kultur als ihre Geschichte ausbilden. Geschichte hat ihr Wesen nicht im Geist, sondern das Wesen von Geist, Kultur und Sprache ist die Geschichte. Das ergibt einen Begriff von Geist, für den das Historische konstitutiv ist.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.46)

Wo immer also von einem der drei Begriffe, Geist, Kultur und Sprache, die Rede ist, sind die anderen beiden Begriffe mit im Spiel. Wir können nie nur einen einzelnen aus dieser Korrelation herausgreifen, ohne die anderen mitzumeinen. Für den Sprachwandel heißt das, daß mit ihm selbstverständlich ein Kulturwandel einhergeht, und für den Kulturwandel, daß mit ihm ein Sprachwandel einhergeht. Und beides verändert den ‚Geist‘ einer Gemeinschaft und mit ihm das individuelle Bewußtsein der Menschen. Deshalb möchte ich der Poppenbergschen Korrelation noch einen weiteren Begriff hinzufügen: die Lebenswelt. Sie bildet den Hintergrund, von dem sich die von Poppenberg aufgeführten Korrelationsbegriffe abheben, um sich im geschichtlichen Prozeß immer wieder neu zu konturieren.

Poppenberg ergreift deshalb gegen Leo Spitzer, dem Autor des zweiten Beitrags, Partei für Vossler, der mit seiner hermeneutisch literaturwissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft nicht auf allgemeine Formgesetze hinauswill, sondern für individuelle Objektivität plädiert. Vosslers methodischer Ansatz, so Poppenberg, „hat seinen Grund in etwas, das Georg Simmel (1858-1918) kurz zuvor in der Zeitschrift ‚Logos‘ (1913), in der auch Vossler einige seiner sprachwissenschaftlichen Aufsätze publizierte, als ein ,individuelles Gesetz‘ entwickelt hatte“: „Es hat eine ‚radikalere Objektivität‘ als das vermeintlich objektive allgemeine rationale Gesetz. ... Es gibt eine ‚Objektivität des Individuellen‘, die ‚aus dem individuellen Leben herausgeformt‘ wird.()“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.47)

Wenn wir in diesem Sinne von einem Kultur- und Sprachwandel sprechen, wird deutlich, daß es nicht einzelne Sprecherinnen und Sprecher sind, die über das Gendern entscheiden, auch nicht einzelne Gruppen und ihre Interessen, sondern die Sprachgemeinschaft, also jener „Durchschnittsmensch“, von dem schon die Rede war, der die Sprache alltäglich verwendet und seinen Gebrauch den Situationen anpaßt, die sich ihm stellen.

Wenn sich die „binäre Geschlechterkonzeption“ als zu eng erweist, um die gesellschaftliche Praxis angemessen zu beschreiben – und davon geht Poppenberg mit Verweis auf Magnus Hirschberg (1865-1935) aus –, dann werden sich Sprache und Kultur wandeln. Immer schon, so Poppenberg, ‚projizieren‘ die Menschen ihre „eigene Geistesart in die Dinge“ ‚hinein‘: „Wenn in den romanischen Sprachen die Sonne maskulin, in den germanischen Sprachen feminin ist, hat das seinen ‚Grund nicht in der Sonne, sondern in den Sprechern‘.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.52)

* * *

Zum Schluß nochmal zu Magnus Hirschberg. Hirschberg stellte fest, daß auf individueller Ebene die „menschliche Trieb- und Affektverfassung“ polymorph, nicht binär ist. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.49) Aber Poppenberg weist darauf hin, daß die „binäre Geschlechterkonzeption“ für die Gesellschaft bislang konstitutiv gewesen ist: „Die Geschlechterdifferenz gehörte zur elementaren Konzeption des Gefüges menschlicher Zivilisation. ... Ein Wandel dieser archaischen Konzeption impliziert einen vermutlich grundstürzenden Wandel des gesellschaftlichen Gefüges und der Sprache als seiner Ausdrucksgestalt.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.55)

Poppenberg vermeidet es an dieser Stelle, vom Patriarchat zu sprechen. Wenn man einmal von primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen absieht, die sich nicht immer eindeutig und bis ins letzte unbezweifelbar bestimmen lassen, ist es vor allem die Fähigkeit der Frauen, Kinder zu gebären, die sie vom Mann unterscheidet. Dieser Unterschied ist so fundamental, daß er einen psychisch verhängnisvollen Marker setzt: nämlich einen existenziellen Mangel auf Seiten des Mannes. In Reproduktionsangelegenheiten gibt es keinerlei Gleichwertigkeit zwischen Frauen und Männern. Der Verweis auf das Sperma, die angeblichen 50 Prozent, die die Männer beisteuern, ist ein Witz. Der männliche ‚Same‘ ist so wenig eine vollwertige Keimzelle wie Adams Rippe eine Gebärmutter.

Bei aller Unwissenheit früherer Generationen war doch in der Menschheitsgeschichte immer offensichtlich gewesen, wer die Kinder gebiert. Und genau hier liegt der Ursprung des Patriarchats, nämlich in der binären Differenz, Kinder in die Welt setzen zu können oder nicht. Es war die Erfahrung der eigenen Minderwertigkeit, die die Männer dazu brachte, sich mit Hilfe des Patriarchats auf Kosten der Frauen aufzuwerten. Ich kann mir jedenfalls kein anderes so sehr die eigene Identität betreffendes Motiv für die Entstehung des Patriarchats vorstellen als das Minderwertigkeitsgefühl, wie es auch Alfred Adler seiner Psychologie zugrundegelegt hat und das sich von Generation zu Generation erneuert und deshalb immer wieder neu verarbeitet und kompensiert werden will.

Würde diese binäre Differenz, die unabhängig davon ist, von wie vielen Geschlechtern wir angesichts unserer sexuellen Polymorphie ausgehen müssen, ehrlich ausgesprochen und gesellschaftlich anerkannt, dann würde das tatsächlich zu dem „grundstürzenden Wandel“ führen, von dem Poppenberg spricht.

Dienstag, 1. November 2022

„Sprachwandel und Kulturwandel“

Gerhard Poppenberg (Hg), Sprachwandel und Kulturwandel, 2022

  1. Magier und Mystiker
  2. Adam, Eva und das Genderproblem

Das von Gerhard Poppenberg herausgegebene Bändchen mit seinen gerade mal 50 Textseiten, die sich auf drei Beiträge verteilen – Kurt Vossler (1872-1949), „Form und Bedeutung“, (1916, S.7-19); Leo Spitzer (1887-1960), eine Rezension zu „Form und Bedeutung“ (1917, S.21-29); Gerhard Poppenbergs Kommentar: „Gott, Geschlecht, Grammatik“ (S.33-58) –, ist wahrscheinlich das dünnste Buch, das ich bislang mit größtem Gewinn gelesen habe.

Der letzte Beitrag von Poppenberg ist in seinem ersten Teil (S.34-48) ein Kommentar zum Text von Kurt Vossler, während Leo Spitzers Text, wie das oft bei Rezensionen ist, viel Gemecker und wenig Substanzielles enthält und wohl vor allem mit aufgenommen wurde, weil er eine Gegenposition zu Vossler repräsentiert, die sich im 20. Jhdt. in der Sprachwissenschaft mit dem sogenannten linguistic turn durchgesetzt hat und die Poppenberg als „strukturale Linguistik“ bezeichnet. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.40 und S.42) Um es kurz zu machen, steht Vossler – in der Tradition von Wilhelm von Humboldt – für eine geisteswissenschaftliche, am Vorbild der Literaturwissenschaft orientierte Sprachwissenschaft (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.45), während Spitzer sich naturwissenschaftlich an der Biologie und der Evolutionstheorie orientiert (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.28f. und S.47).

Ich beginne mit meinen eigenen Lektüreeindrücken von Vosslers Beitrag, gleiche sie dann mit Poppenbergs Kommentar ab, um mich dann in einem zweiten Blogpost mit dem zweiten Teil von Poppenbergs Beitrag (S.49-58) zum Gendern auseinanderzusetzen.

Zunächst fällt auf, daß Vossler von den  „Mystikern“ und von den „Magiern“ in der Sprachwissenschaft spricht. Sie stehen, so Vossler, für eine der zwei Seiten der Sprache, für „Form“ und für „Bedeutung“. Vossler knüpft hier an eine uralte, bis ins Mittelalter zurückreichende Debatte zwischen Nominalisten und Realisten an. Damals, im sogenannten Nominalismusstreit, waren die ‚Realisten‘ die Magier, die glaubten, daß die Sprache das Wesen der Dinge („Bedeutung“) abbilde; und die ‚Nominalisten‘ waren die Mystiker, die glaubten, daß die Sprache ein willkürliches Zeichensystem („Form“) sei und es für die reale Welt völlig unerheblich sei, wie wir die Dinge in ihr bezeichnen. Für die Realisten war also die Sprache selbst eine Realität, während für die Nominalisten die Sprache bzw. die ‚Namen‘ nur „Schall und Rauch“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.8) waren.

Mit diesen etwas ungewöhnlichen Bezeichnungen, ‚Magier‘, ‚Mystiker‘, umschreibt Vossler die verschiedenen Motive der Realisten und der Nominalisten. Glaubten die Realisten, mit Hilfe der Sprache einen direkten Zugriff auf die Welt zu haben, so wie ein Magier mit seinen Zaubersprüchen – heute spricht man nicht mehr von ‚Zaubersprüchen‘, sondern von ‚Algorithmen‘ –, so wollten die Nominalisten vor allem das Wesen der Welt jenseits der Sprache ergründen, so wie die heutigen Naturwissenschaftler. Bruder William in „Der Name der Rose“ (U.Eco) ist so ein Nominalist. Nominalisten waren also die ersten Naturwissenschaftler. Es ist schon seltsam, daß, folgt man Vossler, Mystiker und Naturwissenschaftler von demselben Motiv angetrieben werden.

‚Form‘, also die Sprache mit ihrer Grammatik und ihrer Lexik, und ‚Bedeutung‘, also die Semantik, bilden die zwei Seiten der Sprachwissenschaft, und die Sprachwissenschaftler haben sich entweder auf den Formaspekt oder auf den Bedeutungsaspekt spezialisiert und stehen sich dabei wie unversöhnliche Feinde, als Mystiker die einen, als Magier die anderen, gegenüber.

Vossler beschreibt den „magisch gerichtete(n) Forscher“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.11) in einer Weise, die mich an den jungen Wittgenstein und an den Konstruktivismus erinnert: „Das Schicksal der Sprache wird ihm zu einer Geschichte der Dinge, die Sprachgeschichte zu menschlicher Geistes- und Kulturgeschichte. ... Als wissenschaftlich in seinem Sinn erkennt er nur diejenigen Deutungen an, die das seelische und geistige Leben in der Sprachform, den Kern in der Hülle treffen.“ (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.11f.)

Ähnlich wie in diesem Zitat haben wir es auch beim Konstruktivismus mit einer Denkform zu tun, die nur mit Bezug auf die Menschenwelt funktioniert. Nur hier haben Worte eine unmittelbare Wirkung auf die Realität. Nur hier, nicht in der Dingwelt, vollziehen gesprochene Worte tatsächlich Handlungen; sie sind performativ und verändern die seelische und geistige Wirklichkeit des Menschen. Insofern mündet der Realismus letztlich in einem gesellschaftswissenschaftlichen Konstruktivismus.

Auch Poppenberg kommt in seinem Kommentar auf den Konstruktivismus zu sprechen, führt ihn aber anders als ich nicht auf den Realismus, sondern auf den Nominalismus zurück. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.42) Poppenberg macht den nominalistischen Konstruktivismus an der den Mystikern zugewiesenen „Formenlehre“ fest (vgl.  Poppenberg (Hg) 2022, S.12), aus der die strukturale Linguistik in der Tradition von Ferdinand de Saussure hervorgegangen ist (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.40). Das funktioniert aber nur, als sich in der Sprachwissenschaft das Forschungsinteresse auf die Sprache selbst richtet und nicht auf die natürliche Welt. Dieser ‚Mystiker‘ ist also kein Naturwissenschaftler. Und weil für ihn dennoch die Sprache nur Schall und Rauch ist, also Menschenwerk und nicht Natur, bildet sie für ihn ein willkürliches Konstrukt, dessen Formgesetze er zu erforschen versucht.

Das macht ihn natürlich irgendwie zu einem Konstruktivisten. Aber Vossler hat ja schon deutlich genug gemacht, daß die Mystiker sich vor allem für das Wesen der Dinge interessieren. Den Konstruktivisten hingegen ist das Wesen der Dinge gleichgültig. Für sie ist allein die sprachliche Form wesentlich. Und was so ein richtiger Konstruktivist ist, will er sich nicht auf die Menschenwelt beschränken lassen und glaubt – ähnlich wie der junge Wittgenstein –, daß die sprachliche Form auch für die Dinge gilt. Der Konstruktivismus paßt also eher zu den Realisten, als zu den Nominalisten.

Ich gebe gerne zu, daß das alles nach einem ziemlichen Durcheinander von ineinander verworrenen Traditionslinien klingt. Aber vielleicht ist genau das das Problem, auf das Vossler hinaus will. Form und Bedeutung lassen sich eben nicht so sauber voneinander scheiden. Tatsächlich bildet die Untrennbarkeit von Form und Bedeutung sogar das eigentliche Wesen der Sprache, und weder Magier noch Mystiker begreifen das. Letztlich, so Vossler, vermengen beide ‚Seiten‘, also Magier und Mystiker, „das sprachliche Denken mit dem logischen“ und mißachten es so „in seiner Eigenart“. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10) – Ich erkläre mir diese etwas rätselhafte Stelle so, daß Vossler mit dem logischen Denken die Mathematik meint, auf die letztlich alle wissenschaftliche Empirie zurückgeführt wird, wobei die Magier die Mathematik irrtümlich für eine Sprache halten, während die Mystiker das Wesen der Dinge mit der Mathematik verwechseln. Beide mißachten so das Wesen der Sprache.

Sei dem wie es sei. Wichtig ist an dieser Stelle zum Schluß dieses Blogposts noch, daß Vossler glaubt, daß es noch eine dritte Position gibt, die Form und Bedeutung miteinander verbindet. Diese dritte Position besteht zum einen in der Alltagssprache – Vossler spricht von den „Durchschnittsmenschen“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10) – und zum anderen in der Literatur bzw. in der Dichtung. Auf letztere werde ich im zweiten Blogposts zu sprechen kommen. Was die Alltagssprache bzw. den Alltagsprachler (Durchschnittsmenschen) betrifft, so ist seine Haltung zur Sprache pragmatisch: „Er macht sein Zugeständnis an die magische Auffassung, indem er annimmt, dass das Wort zwar nicht über alle Welt, wohl aber über die Menschen Macht habe und den Menschen wenigsten menschlich nützliche Wahrheiten bedeuten und vermitteln könne.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.10)

Der Alltagssprachler beschränkt also die Gültigkeit des magischen Denkens auf die Menschenwelt. Es hat keine Macht über die Dingwelt. Was die Mystiker betrifft, gibt der Alltagssprachler auch diesen recht, insofern er „die Verschleierungen, Trübungen, Verfälschungen und Missverständnisse“ sieht, „denen der wahre Sinn des Gemeinten durch den Wortlaut des Gesagten, die Sache durch den Namen unterworfen wird“. (Vgl. ebenda)

Anders als Poppenberg, der meint, daß diese „vorsichtige Mittelmäßigkeit des gesunden Menschenverstandes“ philosophisch nicht weit trägt (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.39), halte ich diese Positionierung der Alltagssprache zwischen Realismus und Nominalismus für genau die sprachliche „Eigenart“, von der Vossler weiter oben festhält, daß sie von jedem der beiden anderen gleichermaßen „missachtet“ wird (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10). Wir haben es bei der Form und bei der Bedeutung im Plessnerschen Sinne mit einer Doppelaspektivität der menschlichen Sprache zu tun, der gegenüber sich Alltagssprachler ‚neutral‘ verhalten können, weil sie, wie Plessner sagen würde, exzentrisch positioniert sind.