„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. November 2022

„Sprachwandel und Kulturwandel“

Gerhard Poppenberg (Hg), Sprachwandel und Kulturwandel, 2022

  1. Magier und Mystiker
  2. Adam, Eva und das Genderproblem

Das von Gerhard Poppenberg herausgegebene Bändchen mit seinen gerade mal 50 Textseiten, die sich auf drei Beiträge verteilen – Kurt Vossler (1872-1949), „Form und Bedeutung“, (1916, S.7-19); Leo Spitzer (1887-1960), eine Rezension zu „Form und Bedeutung“ (1917, S.21-29); Gerhard Poppenbergs Kommentar: „Gott, Geschlecht, Grammatik“ (S.33-58) –, ist wahrscheinlich das dünnste Buch, das ich bislang mit größtem Gewinn gelesen habe.

Der letzte Beitrag von Poppenberg ist in seinem ersten Teil (S.34-48) ein Kommentar zum Text von Kurt Vossler, während Leo Spitzers Text, wie das oft bei Rezensionen ist, viel Gemecker und wenig Substanzielles enthält und wohl vor allem mit aufgenommen wurde, weil er eine Gegenposition zu Vossler repräsentiert, die sich im 20. Jhdt. in der Sprachwissenschaft mit dem sogenannten linguistic turn durchgesetzt hat und die Poppenberg als „strukturale Linguistik“ bezeichnet. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.40 und S.42) Um es kurz zu machen, steht Vossler – in der Tradition von Wilhelm von Humboldt – für eine geisteswissenschaftliche, am Vorbild der Literaturwissenschaft orientierte Sprachwissenschaft (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.45), während Spitzer sich naturwissenschaftlich an der Biologie und der Evolutionstheorie orientiert (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.28f. und S.47).

Ich beginne mit meinen eigenen Lektüreeindrücken von Vosslers Beitrag, gleiche sie dann mit Poppenbergs Kommentar ab, um mich dann in einem zweiten Blogpost mit dem zweiten Teil von Poppenbergs Beitrag (S.49-58) zum Gendern auseinanderzusetzen.

Zunächst fällt auf, daß Vossler von den  „Mystikern“ und von den „Magiern“ in der Sprachwissenschaft spricht. Sie stehen, so Vossler, für eine der zwei Seiten der Sprache, für „Form“ und für „Bedeutung“. Vossler knüpft hier an eine uralte, bis ins Mittelalter zurückreichende Debatte zwischen Nominalisten und Realisten an. Damals, im sogenannten Nominalismusstreit, waren die ‚Realisten‘ die Magier, die glaubten, daß die Sprache das Wesen der Dinge („Bedeutung“) abbilde; und die ‚Nominalisten‘ waren die Mystiker, die glaubten, daß die Sprache ein willkürliches Zeichensystem („Form“) sei und es für die reale Welt völlig unerheblich sei, wie wir die Dinge in ihr bezeichnen. Für die Realisten war also die Sprache selbst eine Realität, während für die Nominalisten die Sprache bzw. die ‚Namen‘ nur „Schall und Rauch“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.8) waren.

Mit diesen etwas ungewöhnlichen Bezeichnungen, ‚Magier‘, ‚Mystiker‘, umschreibt Vossler die verschiedenen Motive der Realisten und der Nominalisten. Glaubten die Realisten, mit Hilfe der Sprache einen direkten Zugriff auf die Welt zu haben, so wie ein Magier mit seinen Zaubersprüchen – heute spricht man nicht mehr von ‚Zaubersprüchen‘, sondern von ‚Algorithmen‘ –, so wollten die Nominalisten vor allem das Wesen der Welt jenseits der Sprache ergründen, so wie die heutigen Naturwissenschaftler. Bruder William in „Der Name der Rose“ (U.Eco) ist so ein Nominalist. Nominalisten waren also die ersten Naturwissenschaftler. Es ist schon seltsam, daß, folgt man Vossler, Mystiker und Naturwissenschaftler von demselben Motiv angetrieben werden.

‚Form‘, also die Sprache mit ihrer Grammatik und ihrer Lexik, und ‚Bedeutung‘, also die Semantik, bilden die zwei Seiten der Sprachwissenschaft, und die Sprachwissenschaftler haben sich entweder auf den Formaspekt oder auf den Bedeutungsaspekt spezialisiert und stehen sich dabei wie unversöhnliche Feinde, als Mystiker die einen, als Magier die anderen, gegenüber.

Vossler beschreibt den „magisch gerichtete(n) Forscher“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.11) in einer Weise, die mich an den jungen Wittgenstein und an den Konstruktivismus erinnert: „Das Schicksal der Sprache wird ihm zu einer Geschichte der Dinge, die Sprachgeschichte zu menschlicher Geistes- und Kulturgeschichte. ... Als wissenschaftlich in seinem Sinn erkennt er nur diejenigen Deutungen an, die das seelische und geistige Leben in der Sprachform, den Kern in der Hülle treffen.“ (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.11f.)

Ähnlich wie in diesem Zitat haben wir es auch beim Konstruktivismus mit einer Denkform zu tun, die nur mit Bezug auf die Menschenwelt funktioniert. Nur hier haben Worte eine unmittelbare Wirkung auf die Realität. Nur hier, nicht in der Dingwelt, vollziehen gesprochene Worte tatsächlich Handlungen; sie sind performativ und verändern die seelische und geistige Wirklichkeit des Menschen. Insofern mündet der Realismus letztlich in einem gesellschaftswissenschaftlichen Konstruktivismus.

Auch Poppenberg kommt in seinem Kommentar auf den Konstruktivismus zu sprechen, führt ihn aber anders als ich nicht auf den Realismus, sondern auf den Nominalismus zurück. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.42) Poppenberg macht den nominalistischen Konstruktivismus an der den Mystikern zugewiesenen „Formenlehre“ fest (vgl.  Poppenberg (Hg) 2022, S.12), aus der die strukturale Linguistik in der Tradition von Ferdinand de Saussure hervorgegangen ist (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.40). Das funktioniert aber nur, als sich in der Sprachwissenschaft das Forschungsinteresse auf die Sprache selbst richtet und nicht auf die natürliche Welt. Dieser ‚Mystiker‘ ist also kein Naturwissenschaftler. Und weil für ihn dennoch die Sprache nur Schall und Rauch ist, also Menschenwerk und nicht Natur, bildet sie für ihn ein willkürliches Konstrukt, dessen Formgesetze er zu erforschen versucht.

Das macht ihn natürlich irgendwie zu einem Konstruktivisten. Aber Vossler hat ja schon deutlich genug gemacht, daß die Mystiker sich vor allem für das Wesen der Dinge interessieren. Den Konstruktivisten hingegen ist das Wesen der Dinge gleichgültig. Für sie ist allein die sprachliche Form wesentlich. Und was so ein richtiger Konstruktivist ist, will er sich nicht auf die Menschenwelt beschränken lassen und glaubt – ähnlich wie der junge Wittgenstein –, daß die sprachliche Form auch für die Dinge gilt. Der Konstruktivismus paßt also eher zu den Realisten, als zu den Nominalisten.

Ich gebe gerne zu, daß das alles nach einem ziemlichen Durcheinander von ineinander verworrenen Traditionslinien klingt. Aber vielleicht ist genau das das Problem, auf das Vossler hinaus will. Form und Bedeutung lassen sich eben nicht so sauber voneinander scheiden. Tatsächlich bildet die Untrennbarkeit von Form und Bedeutung sogar das eigentliche Wesen der Sprache, und weder Magier noch Mystiker begreifen das. Letztlich, so Vossler, vermengen beide ‚Seiten‘, also Magier und Mystiker, „das sprachliche Denken mit dem logischen“ und mißachten es so „in seiner Eigenart“. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10) – Ich erkläre mir diese etwas rätselhafte Stelle so, daß Vossler mit dem logischen Denken die Mathematik meint, auf die letztlich alle wissenschaftliche Empirie zurückgeführt wird, wobei die Magier die Mathematik irrtümlich für eine Sprache halten, während die Mystiker das Wesen der Dinge mit der Mathematik verwechseln. Beide mißachten so das Wesen der Sprache.

Sei dem wie es sei. Wichtig ist an dieser Stelle zum Schluß dieses Blogposts noch, daß Vossler glaubt, daß es noch eine dritte Position gibt, die Form und Bedeutung miteinander verbindet. Diese dritte Position besteht zum einen in der Alltagssprache – Vossler spricht von den „Durchschnittsmenschen“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10) – und zum anderen in der Literatur bzw. in der Dichtung. Auf letztere werde ich im zweiten Blogposts zu sprechen kommen. Was die Alltagssprache bzw. den Alltagsprachler (Durchschnittsmenschen) betrifft, so ist seine Haltung zur Sprache pragmatisch: „Er macht sein Zugeständnis an die magische Auffassung, indem er annimmt, dass das Wort zwar nicht über alle Welt, wohl aber über die Menschen Macht habe und den Menschen wenigsten menschlich nützliche Wahrheiten bedeuten und vermitteln könne.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.10)

Der Alltagssprachler beschränkt also die Gültigkeit des magischen Denkens auf die Menschenwelt. Es hat keine Macht über die Dingwelt. Was die Mystiker betrifft, gibt der Alltagssprachler auch diesen recht, insofern er „die Verschleierungen, Trübungen, Verfälschungen und Missverständnisse“ sieht, „denen der wahre Sinn des Gemeinten durch den Wortlaut des Gesagten, die Sache durch den Namen unterworfen wird“. (Vgl. ebenda)

Anders als Poppenberg, der meint, daß diese „vorsichtige Mittelmäßigkeit des gesunden Menschenverstandes“ philosophisch nicht weit trägt (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.39), halte ich diese Positionierung der Alltagssprache zwischen Realismus und Nominalismus für genau die sprachliche „Eigenart“, von der Vossler weiter oben festhält, daß sie von jedem der beiden anderen gleichermaßen „missachtet“ wird (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10). Wir haben es bei der Form und bei der Bedeutung im Plessnerschen Sinne mit einer Doppelaspektivität der menschlichen Sprache zu tun, der gegenüber sich Alltagssprachler ‚neutral‘ verhalten können, weil sie, wie Plessner sagen würde, exzentrisch positioniert sind.

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