„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 19. Oktober 2022

Seyn versus Handeln

Byung-Chul Han, Vita contemplativa oder von der Untätigkeit, 2022

Schon der Titel des Buchs von Byung-Chul Han zeigt, daß sich der Autor dezidiert gegen Hannah Arendts „Vita activa“ (1958/60) richtet, also gegen ihr Konzept von Politik und vom politischen Handeln: „Für Arendt gilt: Sein ist kreatürlich. Menschlich ist Handeln. Arendt verleiht dem Politischen eine ontologische, ja soteriologische Dignität.“ (Han 2022, S.80f.)

Han geht sogar so weit, zu behaupten, daß Arendt für eine Entwicklung steht, in der ein „Kult“, ein „Gottesdienst des Selbst, in dem jeder Priester seiner selbst ist“, betrieben wird. (Vgl. Han 2022, S.94) Gleichzeitig aber ist er selbst einem Kult um das „Seyn“, zu dem er Arendts Handlungskonzept in einen Gegensatz stellt, verfallen. Er selbst plädiert für einen Gottesdienst der Selbstlosigkeit im Dienste dieses Seyns.

Das Grundproblem besteht darin, daß Han seine berechtigte Kritik an Arendts Fixierung auf das politische Handeln von Heidegger her betreibt, also ausgerechnet mit jenem Autor, von dem sich Hannah Arendt aus guten Gründen abgewandt hatte. Und Spuren dieser Abwendung durchziehen ihr ganzes politisches Denken, so daß sie ihre Begrifflichkeit oft als wohldurchdachte Antithesen zu Heidegger entwickelt hat.

Wenn sich Han also auf Heidegger beruft, hätte er Arendts Kritik an Heidegger mitbedenken müssen, und dann wären ihm seine Hymnen auf die Passivität, auf das Nicht-Tun und Nicht-Handeln, auf die Mystik des Seyns nicht so leicht von der Feder aufs Blatt geronnen. Mit Heidegger für „Kulthandlungen“ zu schwärmen, die die Menschen „zu einem kollektiven Körper“ verschmelzen lassen, in dem „keine Individualität“ zugelassen wird (vgl. Han 2022, S.79), ist angesichts seiner Kritik an Hannah Arendt, vorsichtig formuliert, peinlich.

Der Heidegger, auf den sich Han bezieht, ist der Heidegger der „Kehre“, nicht der Heidegger von „Sein und Zeit“, der noch selbst im Zeichen der Eigentlichkeit und angesichts des Todes das menschliche Dasein als der Sorge gewidmetes Handeln konzipierte. (Vgl. Han 2022, S.52ff.) Dem Heidegger der Kehre gehe es hingegen nur noch um das Seyn, mit ‚y‘ geschrieben. Dieses Seyn ist im Unterschied vom Sein in „Sein und Zeit“ pure Metaphysik. In „Sein und Zeit“ hatten wir es noch mit einer Anthropologie zu tun, wo Metaphysik nichts zu suchen hat. Zwar hat Han einen durchaus anti-metaphysischen Blick auf das, was er „Immanenz“ nennt (vgl. Han 2022, S.30f. und S.46) und das in etwa dem entspricht, was ich mit Husserl „Lebenswelt“ nennen möchte. Aber Han verleiht dieser Immanenz eine kultische Tiefe. Es ist nicht einfach nur das Leben, das wir leben, sondern es hat eine Tiefe, die ‚west‘ und, anders als die Lebenswelt, keiner Subjektivierung zugänglich ist. Die „radikale Immanenz“, wie es auch heißt, ist eine innere Stimme, besser noch eine unpersönliche Stimmung, und als solche „kein subjektiver Zustand, der auf die objektive Welt abfärbt“: „Sie ist die Welt. Ja sie ist objektiver als die Welt, ohne jedoch selbst ein Objekt zu sein.“ (Vgl. Han 2022, S.46f.)

Die radikale Immanenz als Stimmung „bildet also den vorreflexiven Rahmen für Tätigkeiten und Handlungen“. (Vgl. Han 2022, S.47)

Im großen und ganzen – und ohne Metaphysik – läuft es auf die husserlsche Lebenswelt hinaus. Han aber nennt es „Seyn“ und bricht damit eine Lanze für Heideggers Priesterschaft.

Alternativ für „Seyn“ ist bei Han auch von „Natur“ die Rede. (Vgl. Han 2022, S.41ff., 51, 109f.) Der Naturbegriff steht gewissermaßen vermittelnd zwischen dem Seyn und dem Göttlichen. Er soll uns als Naturschönes für das „Schauen“ als Hingabe an das Schöne in uns und ums herum und damit für den Gottesdienst empfänglich machen: „Die Natur öffnet dem sich frei und souverän wähnenden Subjekt das Auge und befähigt es zum Schauen.“ (Han 2022, S.109) Je schöner uns etwas erscheint, um so bereitwilliger geben wir uns ihm hin, insbesondere das Ich, an dem wir in einer kapitalistisch deformierten Welt so verbissen festhalten.

Das Ich, insbesondere als politisches Subjekt im Arendtschen Sinne, ist für Han die Ursache allen Übels. Mal ist es der „Meister der Untätigkeit“, der nicht „Ich“ sagt, mal ist es der Genius der Erzeugung, an dem der „Anspruch des Ich“ zerschellt. (Vgl. Han 2022, S.55, 96) Dann wieder haben wir es mit einer „taghellen Mystik“ zu tun, „in der das Ich seiner eigenen Auflösung friedlich beiwohnt“. (Vgl. Han 2022, S.96f.)

Um den Anspruch des kapitalistischen Ich so gründlich wie möglich zurückzuweisen, verkehrt Han auch schon mal Ursache und Wirkung, wie in folgender Textstelle, wo er sich mal nicht auf Heidegger, sondern auf dessen Lieblingsdichter Hölderlin bezieht: „Dem Handeln haftet ein Seinsmangel an. Hölderlin macht das Selbst, das Subjekt des Handelns für den permanenten Widerstreit, für den Verlust des Seyns verantwortlich ...“ (Han 2022, S.108)

Was immer Hölderlin dazu zu sagen hat: umgekehrt wird ein Schuh daraus! Dem Handeln haftet nur insofern ein Seinsmangel an, als dieser Seinsmangel ein anthropologisches Faktum bildet, weswegen Menschen gar nicht anders können als zu handeln. Das „Subjekt des Handelns“ ist für den Verlust des Seyns nicht verantwortlich, sondern es geht aus diesem Verlust allererst hervor.

Nicht das Schauen, das Han an die Stelle des Handelns setzen will, ist in meinen Augen zweifelhaft, sondern die Bezugsgrößen, die Han heranzieht, für das, worum es ihm geht. Neben Heidegger z.B. Augustinus: „Bei Augustinus fallen Schauen und Lieben in eins. Erst wo die Liebe ist, öffnet sich das Auge ().()“ (Han 2022, S.68) – Die Verbindung von „Schauen und Lieben“ hat bei Augustinus, den Sloterdijk auch als „Hysteriker von Hippo“ bezeichnet, etwas zutiefst Mißbräuchliches, Übergriffiges. Augustinus, der Erfinder der Erbsünde, bezeichnete die fleischliche Liebe als die Ursünde, die sich von Generation zu Generation weitervererbt. Wenn dieser Augustinus also von „Schauen und Lieben“ spricht, so ist damit vor allem eins gemeint: gute Christenmenschen dürfen nur schauen; anfassen verboten!

Han sollte sich also seine Gewährsleute sorgfältiger aussuchen. Andere Gewährsleute wiederum, auf die er sich bezieht, sind keine. Wenn Han Adorno zitiert, der schreibt, daß „das Ich“ beim Anblick der Natur „aus der Gefangenschaft in sich selbst“ heraustritt (vgl. Han 2022, 110), so ist damit eben nicht vom „Trotz“ einer „Selbstsetzung“ die Rede, aus der das Ich gelöst wird, möglicherweise noch mit der Tendenz, seine eigene Nichtigkeit zu erkennen und sich bereitwillig aufzulösen. Im Gegenteil spricht Adorno von einer Befreiung des Ich. Adorno sagt also das Gegenteil von dem, was Han zu suggerieren versucht.

Wenn Han die hingebungsvolle, passive Schau (Heidegger) gegen das politische Handeln (Arendt) setzt, schränkt er seine Begrifflichkeit auf einen das menschliche Bewußtsein bestimmenden Dualismus ein; auf ein entweder/oder. Das führt wiederum dazu, daß er auch Begriffe einem dieser beiden Pole zuordnet, die weder mit dem einen, noch mit dem anderen etwas zu tun haben.

So bezeichnet Han den „Zustand der Begeisterung“, der für die Hingabe der Schau steht, als ein „Neben-sich-stehen“. (Vgl. Han 2022, S.97) Aber Begeisterung und neben sich stehen schließen einander aus. Wer neben sich steht, ist im Zustand der Beobachtung, nicht im Zustand der Begeisterung. Wer sich oder anderes beobachtet, ist hellwach und aufmerksam; er weiß, was er tut. Wer hingegen im Zustand der Begeisterung ist, ist es weder mit sich noch neben sich, sondern ohne sich. Hier kann in der Tat von einem Ich nicht die Rede sein. Auch Han verwendet für diesen Zustand das Wort „Selbstvergessenheit“. (Vgl. Han 2022, S.96)

Wenn wir schlafen, sind wir ohne uns. Wenn wir uns hingeben, einer Sache, einem Menschen, sind wir ohne uns. Wenn wir begeistert sind, sind wir ohne uns. Ohne-sich-sein bedeutet, daß wir nicht mehr apperzipieren. Wir begleiten unsere Wahrnehmungen nicht mehr mit einem Denken. Wenn es der tiefere Zweck eines Kultus ist, sich hinzugeben und als Ich aufzugeben, dann hören wir auf zu apperzipieren. Hans Schau ist ein Sehen-ohne-Denken; ein Sehen-ohne-sich. Aber eins ist es nicht: ein Neben-sich-stehen.

Apperzeption ist das Dritte zwischen zwei sich wechselseitig ausschließenden Gegensätzen: der mystischen Schau und dem politischen Handeln. Arendt nannte es das Zwiegespräch mit sich selbst, zu dem sie sich regelmäßig in ihr Zimmer zurückzog. Dieses Zwiegespräch bedeutete für sie, zu hören, was sie sagte, und zu denken, was sie sah. Das Zwiegespräch intermittiert unser Handeln. Apperzeption ist Meditation und hat eine eigene Mystik. Eine wache Mystik jenseits des Schlafs.

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