„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Der Mensch ist also ein Wille, dem eine Intelligenz dient. (Vgl. Rancière 2007, S.66) Was aber ist der Wille? Einen Hinweis darauf finden wir in R/Js Feststellung: „Da, wo das Bedürfnis endet, ruht sich die Intelligenz aus, außer ein stärkerer Wille verschafft sich Gehör.“ (Vgl. ebenda)

Hier haben wir gleich zwei Hinweise: erstens der Wille ist ein Bedürfnis. Das ist keine banale Feststellung. In der christlichen Tradition stellt sich ein ‚guter‘ Wille, der immer zugleich ein ‚starker‘ Wille sein muß, gegen unsere Bedürfnisse. Bedürfnisse sind ‚Fleisch‘, und das Fleisch ist schwach, wußte schon der Apostel Paulus. Ein starker Wille aber kann das schwache Fleisch regieren. Im Auftrag des Geistes natürlich, dem er dient.

R/J stellt klar: der Geist, die Vernunft, die Intelligenz, wie immer wir es nennen wollen, dient dem Willen; nicht umgekehrt.

Zweitens lernen wir, daß es unterschiedlich starke Bedürfnisse (Willen) gibt. Unter diesen Bedürfnissen verschafft sich immer das stärkste Bedürfnis Gehör. Und diesem dient dann die Intelligenz. Dieser Hinweis auf eine individuelle Bedürfnisvielfalt führt noch auf derselben Seite zu der Vermutung, daß die „Ungleichheit der intellektuellen Leistungen“ – trotz aller Gleichheit der Intelligenz – darin liegt, daß die „Willen ungleich gebieterisch“ ausgeprägt sind. (Vgl. Rancière 2007, S.66)

Die nächste Vermutung, die sich hier anschließen müßte, über die R/J aber nichts mehr zu sagen weiß, besteht darin, daß den „Willen“, von denen an dieser Stelle die Rede ist, nämlich inter-individuell unterschiedlich stark ausgeprägte Bedürfnisse, auch eine intra-individuelle Bedürfnisvielfalt entspricht; und daß deshalb eine zentrale Lernaufgabe darin bestehen müßte, daß jedes Individuum für sich selbst herausfinden muß, was es eigentlich will!

Aber schon die Annahme, daß die Individuen untereinander verschieden stark ausgeprägte „Willen“ haben, impliziert notwendigerweise ein weiteres Problem: wieso sollte eigentlich der Wille der Schülerin dem Willen der Lehrmeisterin entsprechen, die zwar unwissend ist, aber immerhin ihrer Schülerin bestimmte Lernaufgaben stellt? Auch darüber kein Wort von R/J.

Wie also muß man den Begriff der Zweiheit fassen, wenn den zwei Intelligenzen, die miteinander reden, zwei unterschiedlich stark ausgeprägte Willen zugrundeliegen und wenn darüberhinaus jede individuelle Intelligenz für sich selbst noch einmal in sich mit verschiedenartigen Bedürfnissen irgendwie zurecht kommen muß?

Obwohl also R/J darauf keine Antwort gibt, bietet er eine zumindest vorläufige Antwort auf diese Frage, aus der sich mehr machen läßt: „Der Wille errät den Willen.“ (Rancière 2007, S.79) – Und an anderer Stelle heißt es: „Die Bedeutung ist das Werk des Willens.“ (Rancière2007, S.71)

Wir haben es also mit einer Zweiheit zu tun, in die wir auch die innere (intra-individuelle) Verfaßtheit jedes der beiden mit einbeziehen können: Wir kennen den Willen der anderen Intelligenz, die der unseren gleicht, nicht; so wenig wie wir unseren eigenen Willen kennen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als dessen (und den eigenen) Willen zu erraten. Zugleich ist es dieser Wille, der allem, was wir sagen und tun, und dem die Intelligenz dient, eine Bedeutung verleiht. All unsere Reden, all unsere Taten sind in diesem Sinne allererst expressiv, und erst in zweiter Linie geht es um die Mitteilung von Informationen.

Warum? Weil wir in jeder Rede etwas über den eigenen Willen lernen, indem wir etwas über den anderen Willen erfahren. Nur deshalb haben die Wörter, die wir austauschen, Bedeutung: „Nur kann man sich nicht durch Worte über die Bedeutung von Worten einigen. Der eine will sprechen, der andere will erraten, das ist alles.“ (Rancière 2007, S.80)

Ein weiteres Mal verwendet R/J in diesem Zusammenhang das Wort ‚Seele‘: „Jede Rede, ob gesagt oder geschrieben, ist eine Übersetzung, in der Erfindung der möglichen Gründe des gehörten Tones oder der geschriebenen Spur: Wille zu erraten, der alle Hinweise aufgreift, um zu erfahren, was ihm ein vernünftiges Lebewesen zu sagen hat, das ihn als Seele eines anderen vernünftigen Lebewesens ansieht.“ (Rancière 2007, S.80)

Besonders schön kommt das Primat der Expressivität in einer Textstelle zum Ausdruck, in der R/J auf des Verhältnis von „Gefühl und Ausdruck“ zu sprechen kommt, in dem es darum geht, dem anderen mir gegenüber meine Gefühle zu ‚übersetzen‘. Um diese Fähigkeit zu entwickeln und zu üben, müssen wir uns an die Dichter halten: „Man muss bei denen lernen, die über diesen Abstand zwischen Gefühl und Ausdruck, zwischen der stummen Sprache der Emotion und der Willkür der Sprache gearbeitet haben, danach bei denen, die versucht haben, den stummen Dialog der Seele mit sich selbst hörbar zu machen, die die ganze Glaubwürdigkeit ihres Wortes auf dieser Ähnlichkeit der Geister aufgebaut haben.“ (Rancière 2007, S.85)

An dieser Stelle stimmt wieder alles. Es fehlt aber die Rückübertragung der entsprechenden Einsichten auf das Verhältnis von Lehrmeisterin und Schülerin. Es sei denn man nimmt die Textstelle über die Distanz zwischen den beiden und über die Notwendigkeit, diese Distanz durch ein Drittes zu überbrücken, als Hinweis auf eine mögliche Antwort auf das Problem. (Vgl. Rancière 2007, S.15) Es geht dabei um das „Trio“, wie R/J es nennt, um das pädagogische Dreieck von Lehrerin, Lerngegenstand und Schülerin. Hier leistet der Lerngegenstand zweierlei: er hält die Distanz zwischen Lehrerin und Schülerin aufrecht und vermittelt sie zugleich.

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