„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 7. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Obwohl die Rede als Medium der Begegnung zwischen zwei Intelligenzen einen eminent wichtigen Part im universellen Unterricht des unwissenden Lehrmeisters spielt, beschreibt R/J die Rhetorik als eine Form des falschen Bewußtseins: in ihr geht es nur ums Rechtbehalten, nicht ums Rechthaben, und das bevorzugte Mittel dazu ist die Erniedrigung des Gegners. Die Rhetorik ist die Praxis der Unvernunft.

Wer sich eine Anschauung für diese  symbolische Form des Kampfs bis aufs Messer wünscht, soll sich den Film „Die brillante Mademoiselle Neïla“ (2017) ansehen. Neïla, eine Studentin aus der Pariser Vorstadt, nimmt bei dem Rhetoriklehrer Pierre Mazard, Rassist und eigentlich überhaupt Menschenfeind, Unterricht. Interessanterweise kommt Neïla am Ende des Films zu der Erkenntnis, daß die Rhetorik auch eine Waffe des Friedens, eine Form der Liebe, sein kann. In dem Film übrigens spielt ein Text von Arthur Schopenhauer, „Die Kunst, Recht zu behalten“ (1830/64), eine tragende Rolle. Sehr lesenswert!

So weit wie Neïla würde R/J natürlich nie gehen. Trotzdem gesteht auch er die Nützlichkeit der Rhetorik in einer Welt ein, die die Intelligenz notorisch hierarchisiert und zwischen höheren und niedrigeren Intelligenzen unterscheidet. In einer solchen falschen Welt bleibt den vernünftigen Menschen, die an die Gleichheit der Intelligenz glauben, nichts anderes übrig, als sich mit Hilfe der Rhetorik einen Freiraum zu erkämpfen, in dem die Vernunft überleben kann: „Der in dem Zirkel der gesellschaftlichen Verrücktheit eingeschlossene unvernünftig redende Vernünftige beweist, dass die Vernunft des Individuums niemals aufhört, ihre Macht auszuüben.“ (Rancière 2007, S.113f.)

Dieser Freiraum, in dem die Vernunft ihre Macht entfalten kann und den sich die vernünftigen Menschen in einer falschen Welt mit den falschen Mitteln (unvernünftig redend) erkämpfen, ist so etwas wie das Richtige im Falschen und bildet damit die Gegenthese zu Adornos Aphorismus, daß es im falschen Leben kein richtiges geben könne. (Vgl. Minima Moralia  1997, S.43) Auch Jesus sendet seine Apostel aus, seine Botschaft der Liebe zu verkünden, aber in der feindlichen Welt klug wie die Schlangen zu sein und so ihr Leben zu schützen. (Vgl. Matthäus 10,16)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen