„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 8. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Wieso aber beziehe ich R/Js Begriff der Zweiheit, deren Medium die Rede ist und in der sich Intelligenzen als Gleiche begegnen, um sich gegenseitig zu ‚erraten‘, auf meine Formel von Ich = Du? Können sich nicht im Medium der Rede viele versammeln, die einen als Redende, die anderen als Publikum? Und können nicht in solchen Versammlungen mithilfe von Prozeduren gemeinsame Entscheidungen gefällt werden, wie das in demokratisch gewählten Parlamenten geschieht? Ist es nicht sogar so, daß wo einer sich irrt, viele, sich gegenseitig korrigierend, gemeinsam meist das Richtige treffen?

R/J verneint das ganz entschieden: „Es gibt keine Intelligenz dort, wo es Anhäufung gibt, Aneinanderbinden von Verstand an Verstand.“ (Rancière 2007, S.45) Als ‚Anhäufungen‘ bezeichnet R/J jede Art von Versammlungen und darüberhinaus, ganz allgemein, die Gesellschaft. Als ‚Anhäufung‘ entwickelt sie eine Schwerkraft, so wie aus einer aufgehäuften Ansammlung von Staub Planeten und Sterne hervorgehen. (Vgl. Rancière 2007, S.92ff.) Diese Schwerkraft zieht die Individuen in ihren Band und richtet ihr Denken aus, wie ein Magnet Eisenspäne ausrichtet. Das ist das Prinzip der Verdummung als Gegensatz zur individuellen Intelligenz.

R/J verortet die Intelligenz einzig in den Individuen, und die Emanzipation richtet sich ebenfalls einzig auf Individuen und nicht auf Gesellschaften: „Nur ein Individuum kann vernünftig sein, und nur nach seiner eigenen Vernunft.“ (Rancière 2007, S.120). Der Begriff der Zweiheit ist also wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich wirklich nur auf zwei Menschen und deren Intelligenz. Und R/J geht sogar so weit, aus dieser sich auf zwei Menschen fokussierenden Beziehung – und nicht aus der größtmöglichen Anhäufung – die Menschheit als Gattung hervorgehen zu lassen: „Die Gleichheit der Intelligenzen ist das einigende Band des Menschengeschlechts, die notwendige zureichende Bedingung dafür, dass eine Gesellschaft von Menschen existiert.“ (Rancière 2007, S.90) – Und noch einmal: „Man hat hingegen keine Vernunft von der gesellschaftlichen Gesamtheit zu erwarten.“ (Rancière 2007, S.94)

Ich finde es einerseits recht erfrischend, wenn auf diese drastische Weise die gesellschaftliche Praxis in ihrer rationalen Begrenztheit dargestellt wird. Der Glaube an eine gesamtgesellschaftliche Ratio, wie sie z.B. von Jürgen Habermas vertreten wird, basiert auf einer entgegengesetzten Einschränkung: der des Individuums. Habermas kann sich das Individuum nur als Teil der gesellschaftlichen Ratio denken. Ich neige dazu, mich eher auf die Seite von R/J als auf die von Habermas zu stellen. Dennoch fehlt bei R/J ein Verständnis dafür, daß die Lebenswelt das individuelle Bewußtsein nicht einfach nur deformiert. Individuelles Bewußtsein kann sich nur in seiner Lebensweltlichkeit entwickeln. Aber individuieren kann es sich nur in Beziehungen, die ihm Einblick in die Realität von wiederum anderem, ihm gleichrangigem individuellem Bewußtsein gewähren: Ich = Du.

Eine solche Beziehung ist aber nicht mehr Teil der Gesellschaft. In der Gesellschaft sind ich und du immer gleich wir alle. Wo Ich = Du ist, stehen wir außerhalb der Gesellschaft. Wir haben es mit einer eigenständigen Sozialform jenseits der Gesellschaft zu tun. Sie darf auch nicht mit der Gemeinschaft verwechselt werden, weil ihr Band anders geknüpft wird. Sie besteht in einer Anerkennung, die sich dem Zufall verdankt. Die unvoreingenommene Begegnung mit jemand wie mich. Ohne Verachtung. Ohne Erniedrigung. Gleichen Rangs.

Außerhalb der Gesellschaft gelingt das Richtige im Falschen. Wo wir uns auf diese Weise begegnen, muß niemand mehr emanzipiert werden.

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