„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Hier habe ich wieder ein Problem mit R/Js Umgang mit Begrifflichkeiten. Er unterscheidet nicht zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Wahrhaftigkeit‘. Ich habe den Eindruck, daß sein Wahrheitsbegriff auf subjektive Wahrhaftigkeit hinausläuft, daß er aber dennoch an der Vorstellung von einer Gewißheit, wie sie der Wahrheit entspricht, festhält. Letztlich aber läuft es bei allen Wahrheitsbeteuerungen bloß darauf hinaus, ob jemand im Bewußtsein, die Wahrheit zu sagen, redet oder ob er das, was er für die Wahrheit hält, bewußt verschweigt, verbiegt oder das Gegenteil für wahr erklärt. Mit unbestreitbaren Gewißheiten hat beides nichts zu tun.

Ginge es in diesem Sinne um Wahrheit als einem Grenzbegriff, hätte ich an R/Js Wahrheitsbegriff nichts auszusetzen. Nur müßte man dann aber immer noch zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit unterscheiden. Aber R/J spricht in diesem Zusammenhang auch noch von der „Unmöglichkeit, sich selbst nicht zu kennen“: „Das Individuum kann sich nicht belügen. Es kann sich nur vergessen.“ (Rancière 2007, S.72)

Mit so einer ‚Wahrheit‘ kann ich nun überhaupt nichts anfangen. Ich denke ganz im Gegenteil, daß wir sehr wohl dazu fähig sind, uns selbst zu belügen. Wir atmen und denken eine Lebenswelt, die uns durchdringt wie die Luft, die wir ein- und ausatmen. Die Vernunft – „Wir nehmen an, dass alle wissen, was die Lüge ist. Gerade dadurch haben wir das vernünftige Wesen bestimmt, durch seine Unfähigkeit, sich zu belügen.“ (Rancière 2007, S.114) – besteht nicht darin, zur Lüge nicht fähig zu sein, sondern die Wahrheit zu erkennen, die in der Lüge liegt; und umgekehrt: die Lüge zu erkennen, die in der Wahrheit liegt. Denn das, was R/J Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit nennt, liegt nicht in der gelungenen, vollständigen und unbezweifelbaren Selbsterkenntnis, sondern in der Erfahrung, daß wir gerade was uns selbst betrifft immer wieder in die Irre gehen.

Es gibt also nicht nur eine Gleichheit der Intelligenzen, wie sie sich die vernünftigen Menschen gegenseitig zugestehen und wie sie sie sogar den unvernünftigen Menschen zugestehen, als Möglichkeit, jederzeit auch vernünftig sein zu können, also gesprächsoffen und bereit, auch die andere Intelligenz ihnen gegenüber zu respektieren. Es gibt neben der Gleichheit der Vernunft auch eine Gleichheit der Unvernunft. Erst wenn die vernünftigen Menschen verstehen, daß auch sie unvernünftig sind, kann Ich = Du gelingen.

Das hat etwas damit zu tun, was ich unter dem Wort ‚Seele‘ verstehe, das ich auch bei R/J vorfinde. R/J bezieht das Wort ‚Seele‘ auf die wechselseitige Anerkennung zweier Intelligenzen, die beide bestrebt sind, zu ‚erraten‘, was der/die andere will. (Vgl. Rancière 2007, S.80) Es geht also nicht um ein falsifizierbares Wissen oder um Wahrheit, sondern um ein ‚Raten‘. Allerdings betrifft diese Ungewißheit hinsichtlich dessen, was wir wollen, nicht nur den anderen Menschen mir gegenüber, sondern in einem fundamentalen Sinne mich selbst. Helmuth Plessner beschreibt diese Selbstunsicherheit, die R/J mit „Selbstvergessenheit“ verwechselt (vgl. Rancière 2007, S.72), als ein noli me tangere: wir kennen uns selbst nicht, also wollen wir auch nicht durchschaut werden; denn wer weiß, welche Ungeheuer da sichtbar würden. Die Seele, so Plessner, ist ein „Geschöpf der Nacht“.

An dieser Stelle ist es nun interessant, daß R/J von der „Wahrhaftigkeit“ – kurz davor war noch von der „Wahrheit“ die Rede – als einem „abwesende(n) Zentrum“ spricht: „... sie läßt uns um ihren Mittelpunkt kreisen.“ (Rancière 2007, S.74) Also Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit als Mitte eines Kreises, aber als diese Mitte wiederum abwesend. Das ist ein Bild für den Menschen. R/J bezeichnet den Menschen als eine „Parabel um die Wahrheit herum“. (Vgl. ebenda)

Die Parabel schließt sich aber nicht zu einem Kreis, so daß von einem „Kreisen“ keine Rede sein kann. ‚Ellipse‘ paßt vielleicht besser: als rhetorischer Kunstgriff steht das Wort für eine Auslassung, für etwas, das man sagt, indem man es nicht sagt. Als geometrische Figur haben wir es mit einem deformierten Kreis zu tun, der keinen bestimmten Mittelpunkt hat. Beides würde besser zu der ‚Wahrheit‘ passen, von der R/J hier spricht.

Aber es geht hier nicht um Metaphernkritik. Es geht vielmehr darum, daß wir uns selbst nicht kennen. Und unter dem Gesichtspunkt der Lebenswelt ist es deshalb eben leider doch so, daß sich das „Individuum“ belügen kann. Schon das Eingeständnis, daß es so etwas wie „Selbstvergessenheit“ gibt, zeigt, daß da was nicht stimmen kann mit der vermeintlichen Selbstkenntnis. Folgt man Plessner, haben wir es bei der fehlenden ‚Mitte‘ im Kreis sogar mit einem anthropologischen Faktum zu tun. Deshalb paßt seltsamerweise alles, was R/J über die Wahrheit zu sagen weiß, sehr gut zu dem, was Plessner Seele nennt. Und gleichzeitig widerspricht dem auf paradoxe Weise R/Js Behauptung, wir könnten uns selbst nicht belügen.

Seele bzw. Bewußtsein ist nichts isoliertes für sich selbst. Das Bewußtsein ist immer auch Lebenswelt. Das zu vergessen, ist die eigentliche Selbstvergessenheit.

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