„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 6. November 2021

Geschlecht und Vorstellung

Diese Woche hat eine Professorin in England ihre Professur gekündigt, weil sie eine Welle von Haß über sich hatte ergehen lassen müssen; wegen einer Äußerung über das Geschlecht, das biologisch festgelegt sei und sich nicht ändern lasse. ‚Trans-Menschen‘, summarisch genommen für Transgender und Transsexuelle, sehen sich von solchen Äußerungen angegriffen und bedroht. Deshalb bedrohen sie – oder alle die, die sich sonst noch für berufen halten, Partei zu ergreifen – diejenigen, die sich zu solchen Äußerungen hinreißen lassen, anstatt vorsichtshalber den Mund zu halten.

Natürlich ist das Geschlecht biologisch. Das läßt sich überhaupt nicht bestreiten. Und natürlich gibt es auch diffuse Übergänge zwischen den binär strukturierten biologischen Geschlechtsmerkmalen. Aber das ist nicht das Problem. Auf verschiedene in vielen Fällen verworrene Weise bildet das biologische Geschlecht die Grundlage unseres Begehrens. Ohne Geschlechtlichkeit kein Begehren.

Das sagt nicht das Geringste darüber aus, wie wir uns in unserem Begehren orientieren! Sich zu verlieben ist das individuelle Schicksal eines jeden Menschen, und dabei spielen auch die Biologie und die Kultur ihre je verschiedene Rolle. Gender ist ein Konstrukt aus Individualität und Kulturalität. Es gibt so viele Gender, wie es Menschen gibt, die sich verlieben. Sag mir, wen Du liebst (begehrst), und ich sage Dir Dein Gender: es ist der Name der betreffenden Person.

Auf dieser Ebene ist unser Umgang mit unserem Körper so verschieden, wie das Objekt unseres Begehrens. Aber mir erscheint es als vernünftiger, unseren biologischen Körper in dieses Begehren mit einzubeziehen, anstatt ihn abzulehnen als etwas, das nicht zu uns gehört. Und selbst, wenn wir ihn ablehnen und ihn mit Medizintechnik manipulieren, ist das doch nur eine weitere Form des Umgangs mit dem eigenen Körper, der uns das Begehren schenkt. Die so verstandene Geschlechtlichkeit unseres Begehrens ist die unhintergehbare Voraussetzung für alles Weitere. Möglicherweise meinte die Professorin das?

Die Biologie ist das natürliche Fundament. Aber das Begehren verwirklicht sich in unseren Vorstellungen. Das finde ich auch in folgendem Zitat von Virginia Woolf wieder: „... er war in Atome zersplittert – sein Spaß, denn er war halb und halb ausgedacht, wie er ganz genau wußte; erfunden, dieser Seitensprung mit dem Mädchen; ausgedacht, wie man sich den besseren Teil des Lebens ausdenkt; sie ausdenkt; ein erlesenes Vergnügen erschafft, und etwas mehr. Aber merkwürdig war es und vollkommen wahr; all das konnte man mit niemand teilen – es zersplitterte in Atome.“ („Mrs Dalloway“ (1997), S.60)

So wie sich Peter Walsh einen Seitensprung ausdenkt, denken wir uns unser Begehren aus und damit unser Geschlecht. Und dieses Geschlecht ist „vollkommen wahr“, so wie der Seitensprung. Aber es ist auch ein Spaß; und wie jeder ‚Spaß‘ fragil: am Ende zersplittert er in seine Atome. Oder anders: alles wird zu Staub.

Oder vielleicht doch nicht Staub. Vielleicht zersplittern einfach wir selbst; als Identität; als das, was sich durch das Begehren für kurze Zeit versammelt, nur um dann gleich wieder zu zerfallen?

Verrennen wir uns also nicht in unsere Vorstellungen und hören wir auf, Krieg zu führen.