„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 31. Dezember 2023

Womit Silvester droht

Dem Guten eines Jahrs: Verfall!
Von allen Feiertagen bester
ist ganz bestimmt nicht der Silvester.
Im Gegenteil! Der hat nen Knall.

Freitag, 22. Dezember 2023

Alle Jahre wieder ...

... und wieder und immer wieder kommt das Christuskind. Weihnachten, das Fest des Friedens und der Liebe. Und den Weihnachtsmann, den gibt es natürlich auch. Mit der Konsumfreude der Verbraucher und mit den Profiten im Einzelhandel und bei Amazon, die anschließend zum Jahresende in Zahlen gefaßt verkündet werden, hat das natürlich nicht das Geringste zu tun.

Geräuschkulisse: süßliche Weihnachtslieder, Glöckchengebimmel.
Geruchskulisse: süßlich gewürzter Glühwein und Zimtgebäck.
Das wird sich über die eigentlichen Feiertage noch zu einem dicken Brei verdichten, mit Fernsehsendungen, Weihnachtsfilmen und Geschenkideen via Werbung auf allen Kanälen. Warum müssen es eigentlich zwei Feiertage sein? Dies Jahr sind es sogar drei hintereinander. Und in dieser Zeit wird auf allen Kanälen nichts anderes laufen als Weihnachten. Alle anderen Sendungen, insbesondere Nachrichten, Reportagen, Informationssendungen, werden suspendiert, so als fände nirgendwo auf der Welt was anderes statt. Überall Weihnachtslieder und Friedhofsruhe.

Dann folgen ein paar Tage mit vereinzelten Bölleraktionen verstreuter Kinder- und Jugendbanden, die zu Silvester, mit nun veränderter Geräuschs- und Geruchskulisse, mit Pulvergestank, Raketenpfiffen und Böllergeknalle in einen kleinen Bürgerkrieg mit Raketenangriffen auf Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizeibeamte übergehen. Flankiert wird das Ganze vom Putinschen Angriffskrieg in der Ukraine und dieses Jahr, wenn man den Warnhinweisen glauben darf, gemixt mit islamistischem Terror. Von den anderen kriegerischen Anlässen, den Himmelsraum und die Straßen mit Lichtern, Blitzen und Explosionen verschiedener Art zu erfüllen, ganz zu schweigen.

Die Tierwelt zieht sich fiepend und jaulend in häuslicher Umgebung unter Tische und Betten und in natürlicher Umgebung unter Büsche und in Erdlöcher zurück.

Kein Fleckchen in Deutschland, keine Insel in Nord- oder Ostsee, um dem zu entkommen.

Die Polizei, so heißt es, sei auf alles vorbereitet. Sie rechnet wohl mit dem Schlimmsten.

Volkskundlich gesehen hat die Silvesterknallerei einen guten Sinn: böse Geister und Dämonen werden vertrieben. Das läßt sich auf heute übertragen. Der Pulvergestank vertreibt Gewürz- und Glühweinseligkeit und ersetzt Glöckchengeklingel durch Böller und Knallfrösche. Lärm und Gejohle verdrängen Weihnachtslieder. Silvester vertreibt Weihnachten.

So willkommen geheißen und dem alten Jahr das Licht ausgeblasen, kann das neue Jahr beginnen. Verkatert und leer.

Wie jedes Jahr. Wieder und immer wieder.

* * *

Als Gegengift zu diesem Blogpost empfehle ich
„Vernunft breitet sich aus über die Bundesrepublik Deutschland“
von Reinhard Mey.

Mittwoch, 29. November 2023

Definiere ,Volk‛

Söder fordert die Ampel auf, dem „deutschen Volk“ die Vertrauensfrage zu stellen.
Ich fordere ihn auf: definiere ,Volk‛.

Samstag, 25. November 2023

Verzicht auf Bösewichter

In seinem Nachwort zu „Der Weg der Wünsche“ (2023) erörtert Patrick Rothfuss die Rolle von ausgemachten Bösewichtern in Fantasyromanen und kommt dabei auf ein Grundprinzip seiner eigenen Romane zu sprechen. Er verzichtet auf von Grund auf schlechte Protagonisten und will so zeigen, daß es Spannung auch ohne Feindseligkeit geben kann.

Zu der Liste von Schrecknissen, auf die er bislang verzichtet habe ‒ Schwertkämpfe, Koboldarmeen und Apokalypsen ‒, kommt auch noch Folgendes: „Niemand zerstörte irgendetwas in einem Vulkan und vernichtete damit die gesamte Magie, so dass die Elben auf ewig so traurig waren, dass sie für alle Zeit aus dieser Welt abhauten.“ (Rothfuss 2023, S.211)

Das ist eigentlich eine recht gute Zusammenfassung vom „Herrn der Ringe“.

Tatsächlich kommen in „Der Weg der Wünsche“ drei Anwärter auf das Prädikat „böse“ vor: Jessom, Rike und der verrückte Martin. Von diesen drei Anwärtern ist aber nur einer richtig böse. Jessom verprügelt regelmäßig seinen Sohn. Jemand, der das tut, kann einfach nicht gut sein!

Rothfuss’ Philosophie unterscheidet sich von der von Erich Kästner. In einem seiner Kinderbücher schreibt Kästner über einen Jungen, einen richtigen Widerling, daß es Kinder gebe, die von Anfang an schlecht seien und sich dann auch nicht mehr ändern. Sie seien wie Fernrohre, die man auseinanderziehen kann. Sie würden zwar immer länger, blieben aber immer ein Fernrohr.

Gut, daß es Autoren wie Patrick Rothfuss gibt.

Sonntag, 19. November 2023

Wie erkenne ich einen Antisemiten?

Jemand erklärte, woran man einen Antisemiten erkenne. Man frage einfach, wer am Klimawandel schuld sei: Juden oder Radfahrer? Angeblich antworten 9 von 10 darauf: „Warum Radfahrer?“

Ich habe diese an einen schlechten Witz erinnernde Frage schon öfter gehört. Mir selbst hat sie noch keiner gestellt. Aber ich stelle mir vor, mir würde sie gestellt und ich hätte sie noch nie gehört und würde damit in einem Moment überrascht, in dem ich mit so einer Frage überhaupt nicht rechne.

Was würde mir als erstes durch den Kopf gehen? Ich würde wahrscheinlich denken, daß der Fragesteller mit mir ein Gespräch über Antisemitismus führen will. Aber in einem Gespräch über Antisemitismus haben Radfahrer nichts zu suchen. Meine Antwort auf diese Frage wäre also ein verwundertes: „Warum Radfahrer?“

Und schon hätte ich mich als Antisemit geoutet.

Ein ähnliches Ergebnis hätten wir, wenn in meinem Kopf vor allem das Wort ,Klimawandel‛ hängengeblieben wäre, nach dessen Verursachung, zumindest in der Version, in der ich sie kenne, gefragt wird. So aus allen meinen Gedanken herausgerissen, in denen gerade Antisemitismus überhaupt keine Rolle gespielt hatte, würde ich möglicherweise denken, daß alle Menschen mehr oder weniger schuld daran sind, am wenigsten aber die Radfahrer. Einmal innerlich bis zehn gezählt und dann noch einmal auf die Frage geschaut, hätte ich aber mit Sicherheit gemerkt, daß es sich um eine Fangfrage handelt. Wer aber tut das schon?

Auf diese Art funktionieren alle Fangfragen. Eine Frage, auf die man naiv wie auf jede einfache Frage reagiert, entpuppt sich plötzlich als Trick. Sie kann als bloßer Scherz gemeint sein oder auch auf eine nicht besonders nette Unterstellung abzielen.

Tatsächlich habe ich den Eindruck, daß ein nicht geringer Teil der derzeitigen Antisemitismusdebatte auf diesem Niveau verläuft. Diese Frage wurde in einem Interview in der heutigen DLF-Sendung von „Informationen und Musik“ ernsthaft als Antisemitismustest vorgeschlagen. Man solle sie beliebigen Menschen, wo sie gerade „stehen, sitzen oder liegen“, stellen. Aber inzwischen ist diese spezielle Fangfrage wohl allgemein so bekannt, daß sich keiner mehr von ihr überrumpeln läßt.

Wo es um etwas geht, mit dem es uns wirklich ernst ist, sollten wir deshalb auf rhetorische Tricks aller Art verzichten.

Freitag, 17. November 2023

Die Wertegemeinschaft und das Grundgesetz

Die islamistische Hizb ut-Tahrir, die „Partei der Befreiung“, bezeichnet die westlichen Demokratien als „Wertediktatur“. Daß diese Kombination aus den Begriffen ,Werte‛ und ‚Diktatur‛ eine gewisse Plausibilität hat, liegt an einem weitverbreiteten Mißverständnis. Dieses Mißverständnis hängt mit dem dieser Tage in der Politik wiedermal besonders gern verwendeten Appell an die westliche „Wertegemeinschaft“ zusammen.

Ich habe mich schon an anderer Stelle dazu geäußert und will das jetzt nicht nochmal im Detail aufdröseln. Letztlich geht es beim Begriff der Wertegemeinschaft darum, daß in der Politik gerne die gemeinsamen Werte demokratischer Staaten, insbesondere diesseits und jenseits des Atlantiks, hervorgehoben werden. Aber tatsächlich unterscheiden sich die jeweiligen Werte und die Staatsverfassungen in den USA, Kanada, Südamerika, Afrika, Asien, Australien und Europa zum Teil erheblich, so daß eigentlich nur von einer weitläufigen Verwandtschaft in den Wertesystemen gesprochen werden kann.

Was die bundesdeutsche Verfassung betrifft, das Grundgesetz, haben wir es nicht etwa mit konkreten Werten zu tun, die für alle verbindlich sein sollen, sondern mit formalen Regeln, die es gerade ermöglichen sollen, daß alle Bürger dieses Staates nach ihren eigenen Werten leben können. Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung sind, was konkrete Werte betrifft, völlig inhaltsleer. Nur deshalb kann ich freimütig gestehen, daß ich eben nicht dieselben Werte habe wie die FDP oder die CDU. Wäre ja noch schöner, wenn die mir vorschreiben könnten, was ich für richtig und was ich für falsch zu halten habe und wie ich mein Leben zu führen habe!

Ich habe auch nicht dieselben Werte wie große Teile der Bevölkerung, denen das Schicksal des Planeten und kommender Generationen am Arsch vorbeigeht, weil sie sich noch möglichst viel von den letzten Krümeln des längst aufgefressenen Kuchens sichern wollen, bevor alles zuende ist.

Ha! ‒ Es tut richtig gut, sich das mal wieder von der Seele kotzen zu können.

Aber das wars dann auch schon. Ich gehe eben nicht hin, um meine lieben Mitbürger zu ihrem Glück zu zwingen. Sie haben das Recht auf ihre bescheuerte Meinung. Auf ihr verkorkstes Leben. Und es ist eben letztlich eine Sache der Politik, also eine Sache, die uns alle angeht, aus dieser Gemengelage etwas zu machen.

Ich verhalte mich also, wie es uns das Grundgesetz auferlegt, und respektiere die Freiheit des Andersdenkenden. Denn nur wenn die anderen anders denken dürfen, kann auch ich anders denken. Und vielleicht auch anders leben. So gut es die Verhältnisse eben zulassen. Und vielleicht ändern die sich dann auch. Wenns geht hoffentlich zum Guten.

Das jedenfalls ist es, was das Grundgesetz ermöglichen möchte. Dafür wurde es vor 66 Jahren geschaffen.

Wir dürfen unser Leben an unterschiedlichen Werten orientieren, ohne uns dem Zwang einer Wertegemeinschaft unterwerfen zu müssen. Denn wäre es nicht so, hätten wir eine Wertediktatur.

Sonntag, 12. November 2023

Hört Radio

Angesichts der Debatte um den Terrorüberfall der Hamas in Israel und dem Krieg in Gaza empfehle ich, auf das Radio zurückzugreifen. Insbesondere im Deutschlandfunk wird noch differenziert recherchiert, berichtet und diskutiert.

Folgende Sendungen haben mich überrascht und gefreut:

Sonntag, 5. November 2023

Betroffenheitspflicht und Denkverbot

Immer wieder habe ich mich seit dem 7. Oktober gefragt, warum ich mich in meinem Blog bislang nicht zu den Vorgängen in Israel geäußert habe. Ich bin sonst immer schnell bereit, politisch Stellung zu beziehen. Es gibt eigentlich kein Thema, zu dem ich keine Meinung habe. Und gerade den Antisemitismus empfinde ich als eines der größten historischen Übel, das längst hätte überwunden sein müssen und das es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Mit antisemitischen Einstellungen kann es keine politischen und keine zivilgesellschaftlichen Kompromisse geben!

Erst mit einem DLF-Interview mit Esther Dischereit (30.10.2023) ist mir das eine oder andere über meine eigenen inneren Widerstände klar geworden. Der zentrale Punkt, den Dischereit anspricht, ist die staatlich und zivilgesellschaftlich geforderte bedingungslose Solidarität mit Israel. Diese Solidarität, so Dischereit, kann sich eigentlich nur auf das Existenzrecht des israelischen Staates beziehen. Dieses Existenzrecht allein ist es, das uneingeschränkt anerkannt werden muß. Die Bedingungslosigkeit einer generellen Solidarität impliziert hingegen immer auch Solidarität mit der jeweiligen Regierung inklusive ihrer Politik, was angesichts einer, wie es immer so schön heißt, „in Teilen“ rechtsextremen Regierung, nicht in Frage kommen kann.

Das Existenzrecht allein ist es, das uneingeschränkt anerkannt werden muß. Darüber hinausgehende Solidaritätsansprüche sind, auch angesichts der komplexen, widerspruchsvollen Historie des Nahostkonflikts, unangebracht.

Mein Versuch, immer sorgfältig zwischen dem Staat und den Menschen zu unterscheiden und meine Solidarität hauptsächlich auf die Menschen in diesem Staat zu beziehen, richtet sich auf alle Staatsformen, also auch auf Demokratien. Denn alle wahlberechtigten Bürger eines Staates sind der Willkür des Wahlverhaltens einer jeweils aktuellen Mehrheit ausgeliefert und dann Opfer einer von ihnen abgelehnten Politik. Das gilt insbesondere für einen Staat, der zwar eine Demokratie ist, aber über keine geschriebene Verfassung verfügt, die Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz garantiert.

Meine Solidarität gilt nun vor allem auch den Menschen des Landes, in dem ich lebe. Der plötzlich wieder offen zutage tretende Antisemitismus zeigt, wie sehr gerade elementare Ansprüche auf menschlichen Umgang wieder einmal in Deutschland mit Füßen getreten werden. Was zur Zeit in Deutschland geschieht, hat zwei Gesichter. Da sind die täglichen Übergriffe auf jüdische Mitbürger, die sich nicht mehr trauen, auf der Straße ihre Kippa zu tragen oder sich den Davidstern umzuhängen. Und da sind die Haßausbrüche auf pro-palästinensischen Demonstrationen. Hier, im täglichen Umgang mitten in Deutschland, ist es für jeden anständigen Mitbürger klar, wie sie oder er dazu zu stehen hat: gegen den Haß und die Menschenverachtung, die hier zum Ausdruck kommen.

Das andere Gesicht ist ein politisches; ein staatspolitisches und auch ein zivilgesellschaftliches. Hier wird von ,oben‛ herab, also von Instanzen mit gesellschaftlicher Autorität, ein allgemeines Betroffenheitsgebot ausgesprochen, das mit einem konkreten Denkverbot einhergeht. Geradezu pedantisch, bis hin zur schematischen Vorgabe korrekter Formulierungen, werden potenzielle und tatsächliche Grenzüberschreiter zur Unbedingtheit proisraelischer Solidaritätsbekundungen ermahnt.

Jeder Versuch einer Differenzierung wird als ,Ja-Aberismus‛ diffamiert. Das Wort „aber“ ist regelrecht auf den Index gesetzt worden. Wer aber nicht mehr aber sagen darf, darf eben auch nicht mehr denken. Nichts braucht das Denken mehr als das Wörtchen „aber“. Denken heißt differenzieren. Differenzieren heißt, daß es zu jeder These eine Anti-These gibt und zu jedem Standpunkt ein „aber“.

Betroffenheit ist wichtig. Als ich in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober ‒ für mich ist das Radio die wichtigste Informationsquelle, nicht das Fernsehen und auch nicht die sozialen Medien ‒ von dem Überfall der Hamas auf beliebige, unbeteiligte Menschen in Israel erfuhr, hatte ich noch keine Vorstellung davon, was da wirklich passiert war. Erst im Verlauf der Woche erfuhr ich von Details, die mir dann wirklich unter die Haut gingen; die mich fassungslos machten.

Noch einmal: Betroffenheit ist wichtig! Aber wie lange hat sie anzudauern? Ab wann darf man wieder denken und damit zwangsläufig relativieren? Wer verfügt über das Recht, dem Denken eine Frist zu setzen; bis wann es unpassend ist und ab wann wieder erlaubt?

Es gibt keinen Staat auf diesem Planeten, auch nicht der, dessen Bürger ich bin, der einen Anspruch auf meine bedingungslose Solidarität hat. Aber alle Staaten haben ein Existenzrecht. Und alle Menschen haben das Recht, sich staatlich zu organisieren. Dieses Recht gilt uneingeschränkt.

Freitag, 3. November 2023

ChatGPT leidet unter Kryptomnesie

Oder anders ausgedrückt: ChatGPT ist quellenblind. Ein Bekannter erzählte mir, daß er vergeblich versucht habe, ChatGPT dazu zu bringen, Auskunft über die in den von dieser KI generierten Texten verwendeten Quellen zu geben. Die einzige Antwort, die er erhalten hat, war, daß das alles „allgemein bekannt“ sei.

Mich wundert das nicht. Denn um Quellen zu beurteilen, muß man zwischen seriösen und unseriösen Quellen unterscheiden können. Woher sollte eine KI diese Fähigkeit haben? Zu den von mir aufgestellten Kriterien, inwiefern sich KI und menschliche Intelligenz unterscheiden, gehört die Fähigkeit, zwischen Innen und Außen, zwischen Fiktion und Realität zu differenzieren. Dafür fehlt jeder denkbaren KI, buchstäblich, das ,Sensorium‛.

Für eine KI sind alle Informationen einander gleichartig. Es gibt keine Qualitätsunterschiede. Lügen sind genauso Informationen wie Wahrheiten.

Es ist also kein Wunder, daß eine KI, wenn sie beim Generieren von Texten ihre eigenen Produkte konsumiert, verblödet. Mit anderen Worten: je mehr ChatGPT-Texte in Umlauf kommen, um so weniger intelligent fallen sie aus.

Das ist meine ultimative Liste von Fähigkeiten, über die nur ein menschliches und bei einigen Punkten auch animalisches Bewußtsein verfügt:
  1. Der Mensch ,apperzipiert‛. Einfach gesagt: er denkt bei allem, was er tut, mit; bis hin zu unseren Wahrnehmungen, die wir bewußt erleben, also mit Denken begleiten. Die KI kann nur rechnen. Sie kann noch nicht mal ihr Rechnen mit Rechnen begleiten, geschweige denn mit einem Denken.
  2. Die menschliche Wahrnehmung (und das Bewußtsein) basiert auf Gestaltwahrnehmung und nicht auf Informationsverarbeitung. Wir können Vordergründe aus Hintergründen herausfokussieren, ohne dabei den Hintergrund zu wechseln. Wenn mehrere Menschen ein Bild wahrnehmen, sieht jeder etwas anderes. Und wir können dieselbe Figur (Vordergrund) vor wechselnden Hintergründen wiedererkennen. Mit Gestaltwahrnehmung hat die KI erhebliche Probleme. Wird sie auch immer haben.
  3. KI ist gut in Performanz (im stupiden Ausführen von Algorithmen), aber schlecht in Kompetenz. Beim Menschen ist das umgekehrt.
  4. Menschliches Bewußtsein basiert auf Kommunikation, KI auf Statistik. Deshalb ist es auch verhängnisvoll, von Maschinenkommunikation zu reden. Maschinen kommunizieren nicht. Sie interagieren. Das ist auch schon alles, was sie können.
  5. Das menschliche Bewußtsein basiert auf der Unterscheidung zwischen Innen und Außen: innen = Bewußtsein, außen = Wirklichkeit. Dazu gehört die Fähigkeit, zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Keine KI ist dazu fähig. Für sie ist alles Information. Sie kennt keinen Unterschied zwischen Einhörnern und einem Verkehrsunfall. Ihre eigenen Rechenprozesse sind ihr nicht innerlich, sondern äußerlich. Alles ist außen, alles ist Information.
  6. Das menschliche Bewußtsein ist substratabhängig. Seine Basis ist die Biochemie des menschlichen Körpers. KI ist substratunabhängig. Folglich ist menschliches Bewußtsein auch nicht auf eine Festplatte hochladbar. Oder runterladbar? Egal. Geht einfach nicht!
  7. Das über unseren ganzen Körper und auch im Inneren unseres Körpers und seiner Organe verteilte multimodale Tastsinnessystem ist ständig aktiv und beansprucht, beim Wachen und beim Schlafen, jederzeit 100 Prozent der Gehirnaktivität. Auf diese Weise vermittelt uns das Tastsinnessystem, als ständiges Hintergrundrauschen, unsere Existenzgewißheit.

Freitag, 27. Oktober 2023

Ein Comic-Rätsel

Ich habe gestern „Die Bestie 2“ (2023) von Frank Pé und Zidrou gelesen. Ein Panel auf S.43, 2. Reihe Mitte, es zeigt eine lächelnde Jeanne, erinnerte mich an das Lächeln von Manon im 3. Band von „Zoo“ (2008), ein Comic von Frank Pé und Philippe Bonifay. Das besagte Panel auf Seite 53, im oberen Drittel, Mitte, erinnert mich an das Lächeln der Mutter von Franz; also von Jeanne.

Zwar haben Manon und Jeanne zwei verschiedene Gesichter, aber es ist derselbe Ausdruck in diesem Lächeln, und ihre Augen liegen ähnlich weit, ungewöhnlich weit, auseinander.

Wenn wir davon ausgehen könnten, daß der Zeichner von beiden derselbe ist, dann handelte es sich vielleicht um eine unvergessene Liebe, der er in diesem Lächeln ein Denkmal setzt. Ähnlich wie bei dem Lehrer von Franz, Boniface benamt, der einerseits eine Hommage auf André Franquin ist, andererseits mit seinem Namen an den des Zeichners Bonifay erinnert. Und wo wir schon mal dabei sind: soll ,Franz‛ vielleicht auf ,Frank‛ hindeuten, also auf den Autor? Denn die Liebe zu den Tieren ist bei beiden dieselbe.

Dann wäre die unglückliche Liebe des Lehrers zur Mutter von Franz möglicherweise eine weitere Parallele zur Person des Autors? Denn Jeanne entscheidet sich schließlich nicht für den Lehrer, sondern für den Polizeileutnant. Auch Manon hatte sich zwar für den Bildhauer entschieden. Einer weiteren Personifikation des Autors, der ja nicht nur Texter, sondern auch Zeichner ist? Trotzdem endet diese Liebe unglücklich.

Leider funktionieren alle diese Verbindungen nicht so einfach, denn Frank Pé ist nicht der Zeichner, sondern Bonifay und Zidrou, und deshalb können die beiden einander so ähnlichen Panels in „Zoo“ und in „Die Bestie 2“ nicht über ein und dieselbe Person, den Autor, vermittelt sein.

Alles paßt so schön zusammen. Nur die Verschiedenheit der Autorenschaft verhindert die Zusammenschau dieser Verbindungen. Schade.

Immerhin: in den Comicalben werden die Funktionen von Frank Pé, Zidrou und Bonifay nicht aufgeschlüsselt. Wie weit sich die drei auf ihre jeweiligen Funktionen beschränken lassen, wird offengelassen.

Dienstag, 24. Oktober 2023

„Triggerpunkte“

1. Methoden und Begriffe
2. Ekel und Lebenswelt

An zentraler Stelle in dem Kapitel zu den „Triggerpunkten“ (Mau u.a. 2023, S.244ff.) treten bei den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern Ekelgefühle zutage. Ekel ist ein starker Affekt, der großenteils lebensweltlich bedingt ist. In verschiedenen geschichtlichen Epochen und in verschiedenen Kulturen ekeln sich Menschen vor unterschiedlichen Dingen. Beim Ekel bewegen wir uns in einem Bereich, wo uns keine Statistik weiterhilft.

Daß wir es hier mit einem Phänomen der Lebenswelt zu tun haben, zeigt sich auch an der Zuordnung zu den Normalitätserwartungen der Diskutanten. („Normalitätsverstöße“: vgl. Mau u.a. 2023, S.253ff.) Der Begriff der „Normalität“ wird von den Autoren vorzugsweise in Zusammenhängen verwendet, die ich der Lebenswelt zuordne. Dieser Begriff vermittelt in gewisser Weise zwischen Statistik (Normalverteilungen) und Phänomenologie (Lebenswelt). Aber anders als der statistische Begriff reicht der Lebensweltbegriff weit in die Tiefen (Sedimente) des individuellen und des Kollektivbewußtseins hinab.

Vor allem zwei Bereiche unserer kulturell geprägten Körperlichkeit erzeugen auf individuell verschiedene Weise Ekel: alles was mit dem Magen-Darmtrakt zusammenhängt und die Sexualität. Vor allem das Umschlagen von Sexualität in Ekel weist noch einmal auf den engen Zusammenhang mit kulturellen, sich in der individuellen Ontogenese niederschlagenden Prägungen hin.

Bevor Kinder in die Pubertät kommen, im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren, bevor irgendwer erkennen kann, am wenigsten sie selbst, in welche Richtung sich ihre Sexualität entwickelt wird, durchlaufen sie eine Phase der Latenz, in der sie sich nicht für das Geschlecht, ihr eigenes oder von andern, ,interessieren‛. So kann man es bei Freud und bei Wikipedia nachlesen. Tatsächlich geht es weit über Desinteresse hinaus. Alles was mit sexuellem Verhalten zu tun hat, erzeugt bei Kindern in diesem Alter vor allem Ekel. Ich habe in dem Alter, vorm Fernseher sitzend, immer die Augen zugemacht, wenn die spannende Filmhandlung durch, wie ich fand, überflüssige Küsserei unterbrochen wurde. Entsprechendes Ekelverhalten kann man immer wieder bei Kindern in diesem Alter beobachten.

Mit dem Eintritt in die Pubertät kippt Ekel in Begehren um. Fortan begleitet uns oder die meisten von uns dieses Umkippen von Erotik in Ekel und von Ekel in Erotik den Rest unseres Lebens.

Sexualität und Ekel sind wie ein Kippbild aneinander gebunden. Ludwig Wittgenstein hatte sich von der Hase-Ente-Täuschung davon überzeugen lassen, daß seine im „Tractatus“ vertretene Sprachphilosophie, nach der jedes Zeichen nur eine Bedeutung haben kann, falsch ist. Zeichen konnten zwei Bedeutungen haben, so wie dasselbe Bild mal eine Hase und mal eine Ente sein konnte. Aus diesem Grund entwickelte er seine Philosophie des Sprachspiels, in dem Sprachzeichen erst durch die Art ihrer Verwendung eine Bedeutung erhalten.

Auch das Verhältnis von Sexualität und Ekel ist so ein Hase-Enten-Kippbild, in dem ein und derselbe Vorgang zwei völlig konträre Bedeutungen haben kann. Unabhängig von der hauptsächlichen sexuellen Orientierung verlieben sich Menschen nicht einfach in jede Vertreterin, jeden Vertreter des bevorzugten Geschlechts. Im Gegenteil kann die Vorstellung, mit einen bestimmten Menschen Sex zu haben, Ekel auslösen, während dieselbe Vorstellung bei einem anderen Menschen desselben Geschlechts Schmetterlingsgefühle im Bauch erzeugt.

Das kann uns sogar mit unserem Lebenspartner passieren. Die Menschen entwickeln sich, auch ihre Gefühle ändern sich, und es kann der Zeitpunkt kommen, wo wir mit dem einst geliebten Menschen keine erotischen Affekte mehr verbinden und entsprechende Avancen seinerseits sogar nur noch Ekel auslösen.

Die Plötzlichkeit, mit der aus Erotik Ekel und umgekehrt aus Ekel Erotik werden kann, macht aus dem Verhältnis von Sexualität und Ekel ein Vexierbild, so wie die Hase-Enten-Täuschung. Genauso wie bei einem Vexierbild können wir Erotik und Ekel nie gemeinsam empfinden. So wie wir entweder den Hasen oder die Ente sehen, aber nie beides gemeinsam, verhält es sich auch bei Erotik und Ekel. Der Sexualität liegt immer nur mal der eine oder mal der andere Affekt zugrunde.

Was die Diskutanten in dem Buch von Mau u.a. betrifft, ist der Ekelaspekt von Sexualität an verschiedenen Stellen offensichtlich. Auch an anderen Stellen als dem erwähnten Kapitel, in denen es um Pädophilie und um öffentliches Küssen geht. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177/180) An diesen Stellen wird das Küssen in der Öffentlichkeit als „aufdringlich“ oder als „zu weit gehend“ bewertet. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177) Ein Diskussionsteilnehmer beschwert sich: „Das sind teilweise Anblicke, die finde ich dann schon wieder ...“. Und eine Diskussionsteilnehmerin ergänzt: „zu drüber.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.180)

Die Autoren kommentieren diese Äußerungen als „Homophobie“: „Die Grenzen ostentativer körperlicher Zuneigung werden anders gezogen als bei Heterosexuellen.“ (Mau u.a. 2023, S.180) ‒ Es mag sein, daß homophobe Motive bei dem zitierten Wortwechsel mitspielen. Darum geht es mir hier nicht. Es geht mir darum, inwiefern Ekelgefühle bei Fragen erlaubter und verbotener Sexualität unvermeidlich immer mitspielen. Denn ich denke, daß es den beiden Diskutanten nicht um den Begrüßungskuß auf beide Wangen, wie er in Frankreich üblich ist, geht. Es ist wohl eher der öffentlich zur Schau gestellte, mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten verbundene Zungenkuß gemeint.

Der Ekel, der hier bei Passanten, die sich beim ersten Hingucken schnell abwenden, erzeugt wird ‒ so geht es zumindestens mir bei solchen Gelegenheiten ‒ und erstmal haften bleibt, weil man das, was man gesehen hat, nicht mehr ignorieren oder verdrängen kann, geht auf einen Intimitätsbruch zurück. Um solche Einbrüche in die Intimität unserer Mitmenschen zu vermeiden, gab es früher im gesellschaftlichen Umgang den ,Takt‛. Taktvoll ist ein Verhalten in der Öffentlichkeit, das genau solche Intimitätsbrüche vermeidet. Takt ist das, was ich im Unterschied zu den Autoren „Respekttoleranz“ nennen würde. Die Autoren nennen es bloß „Erlaubnistoleranz“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.)

In dem jetzt mehrfach erwähnten Kapitel zu Normalitätsverstößen problematisiert ein Diskussionsteilnehmer die Umgangsformen in Umkleidekabinen im Schwimmbad. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.254). Dabei beschwört er Phantasien von Vergewaltigung und vom Rumwedeln mit dem Penis vor den Augen seiner zwölfjährigen Nichte herauf. In diesem Zusammenhang betont er dann auch, daß er was gegen „Pädophilie“ hat. Die Autoren bewerten die Stellungsnahme des Diskussionsteilnehmers entsprechend: sie sprechen von der selektiven Vergrößerung eines „Problems weit über seine tatsächliche Relevanz“ hinaus. (Vgl. ebenda)

Sehen wir einmal von dem wirren Sammelsurium von Ekelszenarien ab, die der Diskussionsteilnehmer hier zusammenstellt, kann ich nicht erkennen, inwiefern die Verurteilung von Pädophilie einer „selektiven Aufmerksamkeit“ (ebenda) geschuldet sein soll. Die Sorge, daß Kinder überall in unserer Gesellschaft dem übergriffigen Verhalten von Erwachsenen weitgehend schutzlos ausgeliefert sind und daß gerade im Bereich der Umkleidekabinen und Gemeinschaftsduschen von öffentlichen Schwimmbädern besondere Gefährdungen bestehen, hat sich nicht erst in den letzten Jahren vielfach als begründet erwiesen. Wo für sexuelle Orientierungen aller Art Toleranz und Respekt eingefordert wird und dabei der Mißbrauchsaspekt unterbelichtet bleibt, verlieren wir die Sensibilität für Formen übergriffiger Sexualität in unserer alltäglichen Umgebung.

Aus den Sedimenten unseres Bewußtseins dringen, kollektiv verharmlost und individuell verdruckst, Motive herauf, die in unserem alltäglichen Umgang als Macht und als Ohnmacht, als Täterschaft und als Passion auf ungleiche Weise zur Ausführung kommen. Diese Ungleichheitsverteilung bildet eine Diskriminierung, die sich quer zu den jeweiligen sexuellen Orientierungen verwirklicht.

Es geht mir hier nicht darum, verschiedene Formen von Diskriminierung gegeneinander auszuspielen. Ich will hier nur Affekte ansprechen, um die man bei allen Diskussionen in der Wir-Sie-Arena wissen sollte, ehe wir die verschiedenen Argumente in die eine oder andere Richtung qualifizieren.

Zum Schluß möchte ich gerne eine kleine Geschichte erzählen, die mir wiederum eine Freundin in den 1980er Jahren erzählt hat.

Die Freundin erzählte mir, wie sie sich mit einem homosexuellen Bekannten über Sexualität unterhielt. Der Bekannte versuchte ihr zu beschreiben, warum Frauen für ihn keine erotische Anziehungskraft hatten. Er vermittelte ihr die anatomischen Besonderheiten, die er als abstoßend empfand, auf so lebhafte und bildreiche Weise, daß er sie dazu brachte, sich vor sich selbst zu ekeln.

Als mir die Freundin das erzählte, hatte ich wiederum eine lebhafte Vorstellung von zwei Menschen, die eine Gemeinschaft des Sich-Ekelns bildeten. Zum ersten Mal entstand in mir auch der Gedanke, wie eng Erotik und Ekel zusammenhängen. Sich von der einen und dem anderen angezogen zu fühlen, impliziert irgendwie immer auch, sich von wiederum anderen in sexueller Hinsicht abzuwenden.

Aber was mich an dieser Geschichte am meisten erstaunte, war die Freundin, die fähig war, den Ekel ihres Bekannten so zu reflektieren, daß sie sich über ihre eigene Körperlichkeit erheben und mit ihrem Bekannten eine paradoxe Gemeinschaft bilden konnte, die sie gleichzeitig einbezog und ausschloß.

Sonntag, 22. Oktober 2023

„Triggerpunkte“

1. Methoden und Begriffe
2. Ekel und Lebenswelt

Ich kaufte mir das Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, weil ich mir davon erhoffte, einiges über die Erzeugung und die Manipulation des Gruppenbewußtseins zu erfahren. Was das betrifft, wurde ich auch nicht enttäuscht. Darüberhinaus hatte ich beim Lesen aber auch wenig schmeichelhafte Begegnungen mit mir selbst. Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne sich beim Lesen über das übliche Maß hinaus zu engagieren und sich zu identifizieren oder sich zu distanzieren, und sich immer wieder ,getriggert‛ zu fühlen.

Bei mir war das insbesondere bei dem Abschnitt zu „Wir-Sie-Ungleichheiten“ der Fall (vgl. Mau u.a. 2023, S.158ff.), die die Autoren zu den ungesättigten Konflikten zählen, weil sie so neuartig sind, daß es für sie kaum oder keine etablierten Lösungsroutinen gibt. Dazu zählen insbesondere sexuelle Diskriminierungen und ihre Kategorisierung mittels sprachlich korrekter Formulierungen.

Insgesamt zählen die Autoren vier verschiedene Triggerpunkte auf, „neuralgische Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissenz, ja sogar Gegnerschaft umschlagen.“ (Mau u.a. 2023, S.246) Bei diesen Triggerpunkten handelt sich um „spezifische Erwartungen der Egalität, der Normalität, der Kontrolle und der Autonomie“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.248) Wenn diesen Erwartungen widersprochen oder zuwidergehandelt wird, schießen die Emotionen über.

Die vier Triggerpunkte verteilen sich über vier Konfliktfelder, und zwar trotz der Gleichzahl unabhängig vom jeweiligen Konflikt. Bei den vier Konfliktfeldern, die sich die Autoren aus vielen möglichen Konfliktfeldern ausgesucht haben, handelt es sich in ihrer Diktion um „Arenen der Ungleichheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.37ff.): also um die Arena der Oben-Unten-Gleichheiten (Reichtumsverteilung), die Arena der Innen-Außen-Ungleichheiten (Inländer/Migranten), die Arena der Wir-Sie-Ungleichheiten (Anerkennung/Ablehnung) und die Arena der Heute-Morgen-Ungleichheiten (Ökologie). Letztlich handelt es sich also bei allen vier Triggerpunkten um Ungleichheitserfahrungen, auf die Menschen besonders empfindlich reagieren.

Die Autoren zählen drei Methoden auf, mit denen sie ihr Thema bearbeiten. Sie greifen auf eigene empirische Arbeiten zurück und konsultieren darüberhinaus „Studien zur Konfliktstruktur westlicher Gesellschaften“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51) Außerdem haben sie eine bundesweite repräsentative Umfrage zu „Ungleichheit und Konflikt“ erhoben, um mit „strukturentdeckenden statistischen Verfahren ... übergreifende() Einstellungskomplexe hinter den Antworten der Befragten“ offenzulegen. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51f.) Drittens haben sie anhand des Vier-Arenen-Schemas Gruppendiskussionen „mit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen ideologischen Orientierungen“ durchgeführt. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.52f.)

Zwischen der zweiten und der dritten Methode gibt es, wie sich im Verlauf des Buches zeigt, konzeptuelle Unvereinbarkeiten, die etwas mit der methodischen Differenz zwischen Statistik und Phänomenologie zu tun haben. Wenn die Autoren von „strukturentdeckenden statistischen Verfahren“ sprechen, bewegen sich in einem Bereich, der sich, was die Motive betrifft, mit der Psychologie, und, was den Gestaltbegriff betrifft, mit der Phänomenologie überschneidet. Für sich genommen ist es durchaus legitim, mit Hilfe statistischer Methoden bislang unentdeckte Zusammenhänge zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Kontexten aufzuweisen. Mithilfe von Umfragen kann man Präferenzen und Einstellungen in der Bevölkerung belegen oder widerlegen, die für das politische Handeln bedeutsam sind.

Problematisch wird das dann, wenn statistische Aussagen über die Zuordnung von Aussagen zu bestimmten Gruppen (Querdenker, AFD-Wähler, Konservative, Liberale, Ökos, Feministinnen etc.) auf das Diskussionsverhalten einzelner Menschen (Verwendung von Argumenten, Hochschießen von Emotionen) übertragen werden. Das zeigt sich gerade in der Auswertung der von den Autoren durchgeführten Gruppendiskussionen. Im letzten Blogpost habe ich schon auf das von einer Diskussionsteilnehmerin verwendete Argument verwiesen, daß Anders-Sein und Anders-Behandeltwerden zwei verschiedene Dinge sind. Die Diskussionsteilnehmerin führt dieses Argument nicht diskursiv, sondern in emotionalisierter Form aus: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)

Die Emotionalisierung ist kein Grund den diskursiven Gehalt ihres Arguments abzuwerten, wie es die Autoren in der Folge machen. Sie nehmen die Äußerung der Diskussionsteilnehmerin als Beispiel für den Versuch, Abweichungen von der ,Normalität‛ abzuwehren. Es mag sein, daß dieses Argument statistisch gesehen bevorzugt von Menschen verwendet wird, die genau diese Absicht haben. Aber die Motive der Diskussionsteilnehmerin können anderer Art sein. Hinzu kommt, daß dieses Argument dem Artikel 3 des Grundgesetzes entspricht. Auch das Grundgesetz kann ein legitimes Motiv sein, sich so zu äußern.

Worauf ich hinauswill, ist, daß in Gruppendiskussionen verwendete Äußerungen vielfältig motiviert sind und sich nicht statistisch hinsichtlich einer bestimmten Einstellung auflösen lassen. Diesen Umstand haben die Autoren des Buches bei ihrer Auswertung nicht berücksichtigt.

Abgesehen von der Vereinbarkeit unterschiedlicher Methoden gehen die Autoren recht naiv mit grundlegenden Begrifflichkeiten um. Grundlegend für das Buch sind die Begriffe der Gleichheit und Ungleichheit. Diese Begriffe haben sehr unterschiedliche Inhalte, die von den Autoren nicht geklärt werden. Sie haben es versäumt, offenzulegen, in welcher Weise sie diese Begriffe verwenden wollen. Sie weisen zwar darauf hin, daß die verschiedenen Interessengruppen mit diesen Begriffen in sehr verschiedener Weise argumentieren: „Gerungen wird um die Ausdeutung dieser Egalitätserwartungen, die sowohl zur Untermauerung als auch zur Abwehr von Ansprüchen dienen können.“ (Mau u.a. 2023, S.252f.)

Aber dieser Umstand veranlaßt die Autoren leider nicht dazu, grundsätzlich zu klären, auf welcher Ebene eigentlich von Gleichheit und auf welcher Ebene von Ungleichheit die Rede sein soll. Gleichheit kann sowohl auf der Ebene von gleichen Werten (also Gleichheit innerhalb von Gruppen) als auch auf der Ebene von ungleichen Werten (also Gleichheit zwischen verschiedenen Gruppen) die Rede sein. Außerdem kann es bei der Gleichheit um das Verhältnis von Individualrechten und von Gruppenrechten gehen. Das sind drei verschiedene Hinsichten, die die Diskussion um das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit bestimmen können.

Tatsächlich werden diese verschiedenen Ebenen aber immer vermengt, sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft, wie das vorliegende Buch belegt. Aber die aktuell schwerwiegendste Verwirrung besteht in der Ungleichheit der Identitätszuschreibungen und der Gleichheit des Umgangs miteinander. Wenn eine Gesellschaft nicht auseinanderbrechen soll, muß sie bei aller Vielfalt (Ungleichheit) die Gleichheit der Umgangsformen einfordern. Eine Sonderbehandlung aufgrund von Andersartigkeit funktioniert nicht.

Das Beharren auf gleiche Umgangsformen hat nichts mit einem, wie die Autoren es pejorativ nennen, „restriktiv-universalistischen Verständnis von Gleichstellung“ zu tun (vgl. Mau u.a. 2023, S.203); und auch nichts mit einer, nicht minder pejorativ, „Gleichheitssemantik“ (vgl. Mau u.a.2023, S.251). Interessanterweise gibt es am Ende des Buches, buchstäblich auf der letzten Seite, eine Textstelle, wo die Autoren ein universalistisches Grundverhältnis von Gleichheit und Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Sie beschreiben „Medien, die Kommunen, die Zivilgesellschaft und das Vereinswesen“ als Orte, an denen es sich entscheidet, „ob unterschiedliche Gruppen als gleichberechtigt und in ihrer je eigenen Lebensweise als gleichwertig angesehen werden“. Und weiter heißt es: „Hier gestaltet sich das Miteinander der Unterschiedlichen und hier wird die Frage (mit) entschieden, inwieweit aus Unterschiedlichkeit Ungleichheit oder sogar Unwertigkeit hervorgeht.“ (Mau u.a. 2023, S.420)

Das ist die einzige Stelle in diesem Buch, die ich gefunden habe, in der die Gefahr angesprochen wird, die mit der Betonung der Unterschiedlichkeit für die Gleichheit des Umgangs miteinander verbunden sein kann.

Damit komme ich zum Schluß nochmal auf die „Kategorien“ zu sprechen, mit denen wir andere und uns selbst etikettieren. Beim Gendern und beim Versuch, Rassifizierungen zu vermeiden, kommt heute alles darauf an, die korrekten Bezeichnungen zu verwenden. Nun gibt es natürlich Menschen, denen die Autoren „Kategorienblindheit“ vorwerfen (vgl. Mau u.a. 2023, S.193); anderen bescheinigen sie „Kategorienunsicherheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.192). Die einen verweigern also ihren Mitmenschen den ihnen gebührenden Respekt („Respekttoleranz“; vgl. Mau u.a. 2023, S.181ff.), die anderen sind zu bedauern. Vielmehr fällt den Autoren nicht dazu ein.

Interessanterweise wird diese hochpolitisierte Etikettierungsproblematik von den Autoren an anderer Stelle, wo sie mit Bezug auf „Sozialfiguren“ von einer „hochgradig verzerrte(n), ja ,schubladisierten‛“ Denkweise sprechen (vgl. Mau u.a. 2023, S.326), implizit in Frage gestellt. Der Zusammenhang mit der Kategorienproblematik beim Gendern und beim Vermeiden von Rassifizierungen wird von ihnen aber nicht explizit gemacht.

Tatsächlich geht es hier um den Kern dessen, was wir unter Emanzipation verstehen sollen. War Emanzipation einmal mit einem Denken und mit einer Lebensführung verknüpft gewesen, die das Kategorisieren von Menschen und Gruppen vermeiden, so ist heute das Gegenteil der Fall. Es geht hier nicht einfach nur um Psychologie, also um die Frage, ob ich mich in meiner ,Haut‛ wohlfühle. Es geht vielmehr um die Frage, wieweit und aus welchen Gründen ich mich selbst und andere, qua Etikettierung, einzuschränken bereit bin.

Dienstag, 17. Oktober 2023

GG Artikel 3

Ich lese zur Zeit das Buch „Triggerpunkte“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. Bei den Triggerpunkten handelt es sich um neuralgische Umschlagpunkte, die Menschen in gesellschaftlichen Konfliktfeldern, die von den Autoren als „Arenen der Ungleichheit“ bezeichnet werden, dazu veranlassen, vom offenen Diskurs auf erbitterte Konfrontation umzuschalten. Wie die Bezeichnung schon verrät, geht es den Autoren in den verschiedenen Arenen um die erlebte Ungleichheit, die unabhängig vom jeweiligen Thema den eigentlichen Kern des Triggermoments bildet.

Damit werde ich mich in einem anderen Blogpost nochmal ausführlicher befassen. Für jetzt geht es mir um ein Argument, das im Zusammenhang von Diskussionen in der Wir-Sie-Arena (Mau u.a. 2023, S.158ff.) verwendet wird. Die Autoren führen dazu die Äußerung einer Teilnehmerin in einer Gruppendiskussion zur Diskriminierung von LGTBQ... an: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich sehr gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)

Die Autoren interpretieren diese Äußerung als Versuch, „Abweichungen“ in der „Normalität“ des Alltags unsichtbar zu machen, so daß dieser „sich selbst dabei nicht merklich ändern muss“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.201) Sie bezeichnen diese Einstellung als „Erlaubnistoleranz“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.), die von ihnen im Vergleich zur „Respekttoleranz“ als weniger progressiv gewertet wird. Diese Erlaubnistoleranz will ihrer Ansicht nach die eigene traditionelle Lebensform vor größeren Veränderungsansprüchen schützen und insbesondere sexuelle ,Auffälligkeiten‛ ins Private abdrängen; nach dem Motto: „Jeder nach seiner Fasson!“

Damit verbinden die Autoren eine von ihnen ebenfalls negativ bewertete „Kategorienblindheit“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179 und S.193) Als kategorienblind gerieren sich ihrer Ansicht nach diejenigen, etwa alte weiße Männer, die auf der Gleichheit aller Menschen bestehen und damit, so die Autoren, vor allem sich selbst meinen. So wenig andere Menschen aufgrund ihrer Andersheit diskriminiert werden dürfen, so wenig dürften auch sie, eben als alte weiße Männer, diskriminiert werden. Die Autoren sprechen von einer „Schuldumkehr, der zufolge es das öffentliche Auftreten von Schwulen, Lesben und Transpersonen ist, das Intoleranz erst provoziert“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179)

Wenn die Autoren aber Äußerungen wie jene der erwähnten Diskussionsteilnehmerin unter Diskriminierungsverdacht stellen, interpretieren sie etwas in diese Äußerungen hinein, das so gar nicht gesagt worden ist. Wenn die Diskussionsteilnehmerin nicht akzeptieren will, daß Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit auch verschieden behandelt werden müssen, dann steht sie damit auf dem Boden des Grundgesetzes. Ich zitiere:

GG Artikel 3:
„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Aus diesem Grundgesetzartikel geht eindeutig hervor, daß das Grundgesetz kategorienblind ist. Alle Menschen sind gleich zu behandeln. Das gilt sowohl für die Benachteiligung wie auch für die Bevorzugung. Laut Grundgesetz darf es also auch keine Überkompensation für vergangenes Unrecht, also für historische Diskriminierungen geben, im Sinne einer Umkehrung dieser Diskriminierungen, denn das würde der Gleichheit aller Menschen zuwiderlaufen. Da aber der Staat aktiv auf die „Beseitigung bestehender Nachteile“ hinarbeiten soll, sind bestimmte vorübergehende Sonderregelungen wie etwa die Quotenregelung durchaus grundgesetzlich erlaubt.

Wenn sich also die Diskussionsteilnehmerin gegen eine grundsätzliche Sonderbehandlung bislang diskriminierter Gruppen wendet, bewegt sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes. Welche Motive die Diskussionsteilnehmerin für ihre Äußerung hat, ist dabei irrelevant. Diese Motive können verschieden sein. Für eine wissenschaftliche Studie ist es jedenfalls unangemessen, ihr ein bestimmtes Motiv zu unterstellen.

Ich persönlich finde es auch merkwürdig, wie sehr sich der Umgang mit Kategorien geändert hat. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo liberale, progressiv eingestellte Menschen bemüht gewesen waren, nicht in ,Schubladen’ zu denken. Auch bildete es einen wesentlichen Teil der eigenen Emanzipation, der ,Selbstverwirklichung‛, sich von allen einengenden Kategorien, die einen auf eine bestimmte Identität festzulegen versuchten, zu befreien. „Farbenblindheit“ galt als eine Grundvoraussetzung für die Überwindung rassistischer Vorurteile.

Wenn es um die Ermöglichung von Vielfalt und Verschiedenheit ging, galt Gleichheit mal als unverzichtbares Fundament für die Persönlichkeitsentfaltung und für die Verwirklichung von individuellen Lebensentwürfen. Mein eigenes Konzept, an dem ich in meinem Blog arbeite, Ich = Du, geht davon aus, daß Vielfalt nur auf der Basis von Gleichheit möglich ist.

Dieser Satz ist nicht umkehrbar. Vielfalt als Basis von Gleichheit funktioniert nicht. Der Krieg gegen jeden, der anders ist als ich, liegt unter der Voraussetzung von Vielfalt näher als der gesellschaftliche Frieden auf der Basis von Gleichheit.

Wilhelm von Humboldt hat das mal auf die Formel gebracht, daß eine Gesellschaft um so gebildeter ist, je mehr individuelle Verschiedenheit sie zulassen kann, ohne auseinanderzubrechen. Darin steckt positives und negatives: positiv ist die Wertschätzung von individueller Vielfalt. Negativ ist die Gefahr, die von der Vielfalt ausgeht. Eine Gesellschaft droht nämlich dort auseinanderzubrechen, wo sie nicht mehr der Raum ist, in dem sich die Verschiedenen als Gleiche begegnen können.

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Rassismus bei Michael Ende?

In einem Beitrag zur DLF-Rubrik „Andruck“ rezensierte Jens Rosbach die Doktorarbeit von Julian Timm: „Der erzählte Antisemitismus“. Darin wird Michael Endes Kinderbuch „Der Wunschpunsch“ vorgeworfen, daß es antisemitische Klischees enthalte. Dabei geht es, so weit ich es verstanden habe, nicht darum, daß Michael Ende bewußt jüdische Menschen oder vermeintlich jüdisch aussehende Menschen diffamiert, sondern darum, daß er solche Klischees verwende, ohne explizit einen solchen Bezug herzustellen. Es handelt sich also gewissermaßen um ,freischwebende‛ Klischees, zu denen man diesen Bezug auf Juden erst herstellen muß, um sie kenntlich zu machen.

Mit anderen Worten: der Autor Michael Ende unterschlägt den Bezug, was dann der Doktorand Julian Timm für ihn nachholt. Denn der weiß natürlich, was auf die ‚Juden‛ paßt und wie sie aussehen.

Ich kann mit solchen Verdachtskritiken nicht viel anfangen. Sie mögen zutreffen oder sie mögen nicht zutreffen. Was man davon zu halten hat, ist meist mehr oder weniger denen überlassen, die sich davon getriggert fühlen. Tatsächlich läßt Julian Timm offen, ob Michael Ende selbst überhaupt darum gewußt hatte, als er diese Klischees in seiner Erzählung verwendete. Darauf kommt es ihm nicht an. Es kommt einzig darauf an, daß man Ende so verstehen kann; ob es nun zutrifft oder nicht.

Es ist jedenfalls leicht, auf diese Weise überall fündig zu werden, wenn man nur entsprechend danach sucht. Was aus den Sedimenten der Lebenswelt in uns aufsteigt und auf die eine oder andere Weise schreibend oder sprechend in Worte gefaßt wird, haben wir nicht unter Dauerkontrolle. Nicht einmal Schriftsteller. Erst recht nicht, wenn andere ihren Texten einen Sinn unterlegen, den sie schreibend nicht zu antizipieren vermochten.

Jedenfalls nimmt Jens Rosbach Timms Buch zum Anlaß, um das ganze Werk von Michael Ende unter Rassismusverdacht zu stellen. Ein Verweis auf den „Jim Knopf“ liegt da nur allzunahe. Man denke nur an das N-Wort-Kind Jim Knopf. Diese Art von meist nicht weiter ausgeführten Andeutungen, mal eben so ad hoc in den Raum gestellt, erweist sich durchaus gelegentlich als unzutreffend. So ist es jedenfalls beim „Jim Knopf“.

Neben dem N-Wort ist Mandala ein weiterer Aufreger, das in früheren Ausgaben des „Jim Knopf“ noch „China“ genannt worden war. Übrigens durch Eingriff des Verlags. Michael Ende selbst hatte die von ihm beschriebene Phantasiewelt „Mandala“ von Anfang an nicht China, sondern eben Mandala genannt. Alle darin beschriebenen Merkwürdigkeiten spielen mit den entsprechenden Vorurteilen, die man damals so von China hatte. Aber sie spielen eben nur damit. Wie sich im weiteren Verlauf der Erzählung erweist, hat Michael Ende Mandalas eigentlichen Kern in etwas anderem gesehen. Und das hat nichts mit Rassismus zu tun. Aber um das zu verstehen, muß man den „Jim Knopf“ eben gelesen haben.

Noch einmal in aller Deutlichkeit: ich bin mir durchaus bewußt, ein alter weißer Mann zu sein, und ich kann mich nicht von Rassismen aller Art pauschal freisprechen. Ich betrachte es als eine Lebensaufgabe, diesen menschenverachtenden Einstellungen immer und überall auf die Spur zu kommen und sie zu kontrollieren. Die Sedimente, aus denen sowas kommt, sind tief.

Aber was ich nicht akzeptiere, ist das eilfertige Auffinden von vermeintlich anrüchigen Stellen in der Literatur, um sich auf diese Weise, wie ich den Verdacht habe, selbst reinzuwaschen. Wer den Rassismus bei anderen kenntlich machen kann, muß bei sich selbst nicht mehr so genau hinsehen. Das ist mir zu billig. Da mache ich nicht mit.

Sonntag, 1. Oktober 2023

Bilder, Zeichen, Wörter, Phänomene

Die ältere der beiden Traditionslinien, die die Semiotik Aleida Assmann zufolge bis heute bestimmen (vgl. „Im Dickicht der Zeichen“ (2023), S.14ff.), beruht auf dem Ähnlichkeitsprinzip und reicht in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurück (vgl. Assmann 2023, S.16). Zu diesen Traditionslinien siehe auch meinen Blogpost vom 03.07.2023.

Die ältere Traditionslinie brachte Schriftsysteme hervor, deren Zeichen Bilder sind, wie etwa die ikonischen Schriftzeichen der Chinesen und Japaner und andere ostasiatische Schriftsysteme. Die Hieroglyphen bilden einen Sonderfall, weil sie zwar auch aus ikonischen Schriftzeichen bestehen, die aber keine Bedeutungsträger sind, sondern Laute, insbesondere Konsonanten codieren. (Vgl. Assmann 2023, S.98f.) Wir haben es also eigentlich mit einer Konsonantenschrift zu tun.

Das Ähnlichkeitsprinzip, das den Zeichengebrauch im weitaus größeren Teil der Menschheitsgeschichte dominierte, bestand in einem tiefverwurzelten, noch heute virulenten Bedürfnis der Menschen, die Welt zu lesen. Die Welt so zu lesen bzw. zu deuten, daß wir etwas über unser unmittelbares Schicksal erfahren, was wir als nächstes tun sollen und wovor wir uns fürchten müssen.

Zeichen waren also anfangs Naturphänomene wie Wettererscheinungen, bestimmte Pflanzen und Tiere und dergleichen mehr. So ist es also kein Wunder, wenn zu den ersten kulturellen Zeugnissen kleine Skulpturen und Höhlenmalereien gehören. Diese Objekte und Bilder waren Zeichen, die Naturgegenstände abbildeten.

Günter Anders schreibt in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956), daß anders als gesprochene Worte und geschriebene Texte Bilder ihre S/P-Struktur verbergen. Mit S/P-Struktur meint er die grundlegende Syntax von Sprache, die darin besteht, daß von etwas (dem Subjekt des Satzes) etwas (ein Prädikat) ausgesagt wird. Auf diese Weise, so Anders, wissen wir bei der Sprache immer, woran wir sind, nämlich daß sie sich nur auf die Wirklichkeit bezieht, aber diese Wirklichkeit nicht ist.

Bei Bildern hingegen ist die Ähnlichkeit zwischen Bild und Wirklichkeit, etwa bei einer Photographie, so groß, daß wir nicht mehr erkennen, daß wir es auch hier mit etwas zu tun haben, das die Wirklichkeit, also das Subjekt, um das es im Bild geht, nur prädiziert. Denn die Photographin wählt ihren Gegenstand und den Blickwinkel und die Blende etc. sehr genau aus, bevor sie auf den Auslöser drückt. Möglicherweise arrangiert sie sogar den Hintergrund so, daß ihr Gegenstand auf die von ihr erwünschte Weise zur Geltung kommt.

Bilder haben also eine S/P-Struktur, auch wenn wir sie nicht ohne weiteres erkennen wie bei der gesprochenen Sprache. Deshalb haben wir es bei Bildern auch mit Sprachzeichen zu tun, es sei denn wir haben es mit einem abstrakten Kunstwerk zu tun, in dem alles Gegenständliche aus der Komposition entfernt wurde und das der erklärten Absicht des Künstlers zufolge niemand mehr etwas ,sagen‛ will.

Zugleich wird noch etwas deutlich. Ich verstehe mich selbst als Phänomenologen. Für mein Denken sind Phänomene wichtig. Sie bilden die Grundlage meines Denkens. Durch die Lektüre von Assmanns Buch habe ich folgendes gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.

Phänomene ,geben‛ sich. Das heißt: sie zeigen sich. Assmann nennt solche Phänomene „indexikalische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54) Wo sich was zeigt bzw. ,gibt‛, befinden wir uns im Bereich der Phänomenologie, und dieser Bereich bildet, richtet man sich nach Assmanns Definition, einen Teilbereich der Semiotik.

Bilder hingegen sind, so Assmann, „Repräsentationen“. Sie zeigen etwas, statt sich. Bilder hat jemand gemalt oder photographiert, um etwas zu zeigen. Sie sind „ikonische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54f.) Assmann zufolge wären also ikonische Zeichen, Bilder, keine Phänomene.

Inwiefern aber können Zeichen Symbole sein? Sie sind es so wenig, wie sie Wörter sind. Symbole können sowohl Wörter wie Bilder sein. Aber immer haben wir es bei Symbolen mit Sprachzeichen zu tun. Denn Bilder sind, obwohl sie ihre S/P-Struktur verbergen, Sprachzeichen. Im Grunde ist alles ein Symbol für irgendetwas, wie wir es von der älteren Traditionslinie der Semiotik kennen: alles hat Bedeutung, vom einfachen Kieselstein bis hin zu den vertracktesten kulturellen Ritualen. Auf sprachlicher Ebene sind Symbole Metaphern. Auf nicht-sprachlicher Ebene kann sich alles in ein Symbol verwandeln, sobald wir etwas in der Natur und in unserer Umwelt mit einer Bedeutung versehen.

So sehe ich das. Aber Assmanns Definition von Zeichen und Symbolen ist das genaue Gegenteil meiner Definition. Assmann dekretiert: „Ihre (die Symbole ‒ DZ) Verbindung zur Sache, die sie vertreten, ist intransparent und beruht ausschließlich auf einem stabilen Code.“ (Assmann 2023, S.55) ‒ Die Bedeutungsebene vom Bild weg auf einen abstrakten Code zu verlagern, entspricht nicht mehr der älteren Traditionslinie, sondern der jüngeren, insbesondere seit dem linguistic turn. Nur Zeichen, nicht Symbole, werden ausschließlich durch Codes begründet, die keinen Referenten mehr haben. Bedeutungen werden hier durch die arbiträre Logik der Zeichendifferenz generiert.

Der Begriff des Symbols, als eine Verbindung zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen (symbállein: zusammenwerfen, vergleichen), enthält immer einen Sinnbezug und ist deshalb referenziell. Das Symbol ist deshalb in erster Linie ein Sprachzeichen und kein Schriftzeichen. Auf der Ebene der Sprache sind Symbole Wörter bzw. Metaphern. Ansonsten sind sie alles, was für uns Bedeutung hat.

Horkheimer/Adorno bringen in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947/69/88) das semiotische Zeichenkonzept in folgendem Zitat auf den Punkt: „Je vollkommener nämlich die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr Worte aus substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchdringlicher werden sie zugleich.“ (DA, S.173)

Mit „Mitteilung“ spielen Horkheimer/Adorno auf den kybernetischen Informationsbegriff an. Sie warnen also vor der Gefahr, daß die Sprache in Informationsverarbeitung aufgeht.

Das ist das Problem mit den Semiotikern und übrigens auch mit den digitalen Technologien bis hin zur KI. Die Semiotiker zweckentfremden Begriffe, die bislang ganz wesentlich als Bewußtseinsbegriffe gedacht gewesen waren, um sie auf bewußtseinsfremde, mechanische Funktionen zu übertragen. So sollen Computerfunktionen eine Semantik haben. Und Computer ,kommunizieren‛ miteinander. Und Algorithmen bestehen plötzlich nicht mehr aus ganz auf ihre logische Funktion beschränkten, bedeutungsleeren Zeichen, sondern aus Symbolen.

Dies jedenfalls habe ich aus meiner Lektüre von Assmanns Buch gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.

Freitag, 22. September 2023

Dialektik und Ressentiment

In seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) macht Habermas ein überraschendes Eingeständnis. Er habe, so schreibt er, das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ bislang vernachlässigt. Im selben Buch, in dem er dieses Eingeständnis macht, zeichnet Habermas dennoch unverdrossen eine Vernunftsgeschichte nach, trotzig beteuernd, daß er auch weiterhin keine Geschichte der Unvernunft schreiben wolle.

Wenn Habermas von einer Unvernunft in der Geschichte schreibt, denkt man als Leserin oder Leser und vor allem er selbst als Vertreter der „Kritischen Theorie“ sogleich an die „Dialektik der Aufklärung“ (1944/69/88) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die das Umschlagen von Vernunft und ihrer Geschichte in Unvernunft beschreiben. Als eine Freundin sah, wie ich in die „Dialektik der Aufklärung “ vertieft war, sprach sie ihren Respekt für dieses Buch aus, als einem Grundlagenwerk für kritisches Denken. Ich gestand, daß ich wegen einiger Textstellen, auf die ich gestoßen war, einige Zweifel hätte, die sie aber souverän beiseite wischte. Natürlich, meinte sie, sei das damals eine andere Zeit gewesen und deshalb auch kein Wunder, wenn da jetzt nicht alles politisch korrekt sei.

Deshalb möchte ich jetzt vor allem über die von mir inkriminierten Stellen berichten, ungeachtet des überwiegenden Großteils dieses Buches, das auch einem unverbesserlichen Fortschrittsoptimisten wie Habermas, sollte er es noch einmal lesen, ins Grübeln bringen könnte. Das erste, was mir auffiel, ist das Ressentiment, das Horkheimer/Adorno gegen den Jazz entwickelt haben. (Vgl. DA, S.135, 140, 144, 157, 162f. u.ö.) Der Jazz ist für sie eine Fortsetzung des Industriekapitalismusses, insofern er den Rhythmus von Fließband und Akkord auf die Freizeitaktivitäten der Ausgebeuteten überträgt und sie so fügsamer und brauchbarer macht für die Maximierung des Profits.

Von einem Ressentiment zu reden, scheint mir angemessen zu sein, denn die Ablehnung des Jazz durch die Faschisten war sicher auch den beiden Autoren nicht unbekannt. Und wohl auch nicht, daß damit unmittelbar ein gegen dunkelhäutige Menschen gerichteter Rassismus verbunden gewesen war.

Dazu paßt ein weiteres Ressentiment, das sich direkt gegen die „Neger in Harlem“ richtet, wobei es mir weniger um die Verwendung des N-Wortes geht, als vielmehr um die Unterstellung, es handele sich bei ihnen um „gierige Nachläufer“, ohne irgendein aufklärendes Wort zu den Umständen, die Horkheimer/Adorno dazu veranlaßten, so ein Urteil zu fällen. (Vgl. DA, S.179)

Insgesamt steht der Jazz für Kulturindustrie, wie übrigens auch das Kino und der Film, gegen die Horkheimer/Adorno ebenfalls ein Ressentiment entwickelt haben, gewissermaßen eine „Idiosynkrasie“, ein Wort, das die beiden insbesondere im Antisemitismus-Fragment immer wieder verwenden. Das Fragment zur Kulturindustrie (vgl. DA, S.128ff.) ist jedenfalls auch ressentimentgeladen. Die Kulturindustrie läßt den beiden Autoren zufolge als Totalität der individuellen Rezeption keine Chance.

Orson Welles werfen sie z.B. vor, daß alle seine „Verstöße gegen die Usancen des Metiers“ doch nur „als berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen“. (Vgl. DA, S.137) Dabei lassen sie beflissen unter den Tisch fallen, daß Orson Welles’ souveränes Spiel mit den Möglichkeiten des Films einen intellektuellen und ästhetischen Freiraum schafft, der der geistigen Beweglichkeit durchaus förderlich ist. Einmal in Bewegung gesetzt, kann sich diese Beweglichkeit auf alles richten: auch auf bzw. gegen die Kulturindustrie. Kein Wort auch zu Orson Welles‛ „Krieg der Welten“ (1938), mit dem er dem Radiopublikum seine unreflektierte Radiogläubigkeit vorhielt. Aufklärung im besten Sinne! Adorno und Horkheimer schweigen dazu.

Da ist es schon wieder amüsant, zu lesen, wie widerwillig Horkheimer/Adorno der künstlerischen Leistung in der Filmindustrie ihre Anerkennung zugestehen müssen. Wenn Horkheimer/Adorno einigen Produkten der Filmschaffenden „so feine Nuancen“ bescheinigen, „daß sie fast die Subtilität der Avantgarde erreichen“, dann ist dieses „fast“ vor allem ihrem Ressentiment geschuldet. Und wenn es ein Vorwurf sein soll, daß die Filmsprache sich an der „Alltagssprache“ orientiert, dann kann auch der Vorwurf der Nähe zum „logischen Positivismus“ nicht den Verdacht abwehren, daß hier jemand nicht begriffen hat, daß die Sprache immer und zuallererst Alltagssprache ist, und alle unsere ach so kulturell wertvollen geistigen Leistungen sich ihr verdanken. Letztlich müssen Horkheimer/Adorno den „Spezialisten“ ‒ gemeint sind die Experten der Filmproduktion vom Ton- und Bildtechnik über die Drehbuchautoren bis hin zur Requisite und Schnitt ‒ auch noch einen „letzte(n) Rest sachlicher Autonomie“ bescheinigen, wenn diese mit ihrem „Renommee“, gemeint ist wohl Kompetenz, der „Geschäftspolitik der Kirche oder des Konzerns“ Widerstand leisten. (Alle Zitate in DA, S.137)

Selbst eine der großen Kritiken, deren sich die „Kritische Theorie“ mit Recht rühmen darf, ihre Kritik am Patriarchat und an der damit verbundenen Unterdrückung der Frauen (vgl. DA, S.10, 17, 23, 29f., 37, 39, 57, 65, 72f., 79ff., 82f. 114, 117ff., 120, 184, 195, 223, 264ff., 269), ist bei Horkheimer/Adorno mit Ressentiments gegen die Frauen durchsetzt. So halten sie es für unwahrscheinlich, daß ein Mann seine Ehe zerstören würde. Die Schuld läge doch eher „bei der Frau“. (Vgl. DA, S.256)

An anderer Stelle, wo es um die Deformationen der Frauen geht, die sie durch das Patriarchat erleiden, heißt es: „Der Blutdurst des Weibes im Pogrom überstrahlt selbst den männlichen.“ (DA, S.267) ‒ Wie kommen Horkheimer/Adorno darauf? Welche Statistik liegt ihrer Aussage zugrunde? Soll man aus dem Blutdurst der Frauen vielleicht schließen, daß das Patriarchat die Männer friedliebender und konfliktscheuer gemacht hat?

Eine weitere durch das Patriarchat verursachte Deformation machen die beiden Autoren tatsächlich an dem Umstand fest, daß die Frauen neuerdings sozial und politisch aktiver werden: „Als soziale Hyäne verfolgt sie kulturelle Ziele. ... sie (die weibliche Opposition ‒ DZ) wird zur pervertierten Aggression des social work und des theosophischen Klatsches, zur Betätigung der kleinen Ranküne in Werktätigkeit und Christian Science.“ (DA, S.267)

Das Patriarchat hat aber noch weitere, insbesondere sexuelle Deformationen zur Folge. Dazu gehört die Homosexualität, gegen die Horkheimer/Adorno anscheinend ebenfalls ein Ressentiment haben. Um ihr negatives Urteil zu begründen, greifen Horkheimer/Adorno auf die Psychoanalyse zurück, was gerade aufgrund der dialektischen Methodik des Buchs keine gute Idee ist. Wenn die Dialektik psychoanalytisch zu argumentieren beginnt, verwandelt sie sich von einem Organ des Denkens in ein Organ des Verdachts. Und Denken, dessen Aufmerksamkeit durch einen Verdacht belastet ist, verwandelt sich leicht in Paranoia. Jedenfalls ist es wohl nach Ansicht der beiden Autoren psychoanalytisch gerechtfertigt zu behaupten, daß das „in Aggression umgesetzte Verpönte“ angeblich „meist homosexueller Art (ist)“. (Vgl. DA, S.201)

Natürlich ist auch die Psychoanalyse eine Form des Denkens. Aber Denken wiederum ist auch noch etwas anderes als Psychoanalyse. Wenn es anfängt, die Phänomene, die sich ihm geben, nicht mehr als solche ernstzunehmen, sondern sie grundsätzlich unter den Verdacht stellt, etwas anderes zu sein, hört es auf, Denken zu sein. Das „Verpönte“, also Ressentiment, ist das eine. Aber Homosexualität ist etwas ganz anderes. Eins hat mit dem anderen nichts zu tun.

Ganz zum Schluß heißt es dann nochmal: „Im faschistischen Kollektiv mit seinen Teams und Arbeitslagern ist von der zarten Jugend an ein jeder ein Gefangener in Einzelhaft, es züchtet Homosexualität.“ (DA, S.269)

Ich finde es schade, daß die wirklich lesenswerte Kritik an Kollektiven aller Art, die ich ebenfalls zu den großartigen Kritiken in dem Buch zähle, die uns auch heute, in Zeiten der Wiederkehr des Faschismusses, wieder viel zu sagen hat, durch solches Ressentiment desavouiert wird.

Aber Horkheimer/Adorno haben eine Entschuldigung. Die „Wahrheit“, so schreiben sie zu der 1969 erschienenen Neuausgabe ihres Buchs, also 22 Jahre nach seiner Ersterscheinung, habe einen „Zeitkern“, so daß manches von dem, was sie geschrieben haben, inzwischen als veraltet gelten müsse. (Vgl. DA, S.IX) Sie wollen das Buch deshalb als Dokument verstanden wissen. Außerdem, so heißt es an anderer Stelle: „... unfertig zu sein und es zu wissen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt.“ (DA, S.261)

Der Satz vom unfertigen Denken ist auf jene Intellektuellen gemünzt, die bereit sind, den Tod eines zum Strang Verurteilten mit der Begründung hinzunehmen, daß sein Denken fehlerhaft gewesen sei. (Vgl. DA, S.261) Unfertiges Denken ist fehlerhaft. Und da Denken immer unfertig ist, ist es auch immer fehlerhaft.

Insofern hat also meine Freundin recht. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist ein Buch aus einer anderen Zeit und als solches kein Gegenstand der Bewertung im Rahmen einer ebenfalls zeitgebundenen political correctness. Es bleibt aber weiterhin die Aufgabe einer kritischen Auswertung, den bleibenden Einsichten in ihm auf die Spur zu kommen. Und zwar, gerade auch gegen Habermas, als eine nicht nur das Buch selbst betreffende Analyse einer Geschichte der Unvernunft.

Montag, 11. September 2023

Individuelle und kollektive Erinnerungsarbeit

„ ... stets trägt die Unterdrückung der Gesellschaft
zugleich die Züge der Unterdrückung durch ein Kollektiv.“
(Dialektik der Aufklärung)

Nicolai Epplée, Autor von „Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo“ (2023), hat ein verdienstvolles Buch über die Schwierigkeiten und den Nutzen einer dynamischen Erinnerungsarbeit in Gesellschaften geschrieben, die eine vom Staat getragene Politik der systematisch begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinter sich haben. Dabei liegt der dramatische Ort einer solchen Erinnerungsarbeit vor allem in den Familien, in denen sich über Generationen hinweg die Folgen von Opfer- und Tätergeschichten vererben, so daß von hier aus von einer Traumatisierung der ganzen Gesellschaft gesprochen werden kann.

Subjekte der Erinnerungsarbeit sind deshalb oft Kinder oder Enkel oder wie im Falle Rußlands sogar Urenkel, die die familiäre Vergangenheit nicht zur Ruhe kommen läßt. Auch der psychologische Begriff des Traumas ist individuellen Traumabiographien entlehnt und wird für die ,kollektive‛ Erinnerungsarbeit übernommen; wobei hier nochmal zu unterscheiden ist zwischen staatlich unterstützter und anerkannter Erinnerungsarbeit einerseits und der Erinnerungsarbeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Opfergemeinschaften andererseits.

Das besondere Verdienst von Epplées Buch sehe ich darin, daß es die Erinnerungsarbeit in sechs Nationen miteinander vergleicht: Argentinien, Spanien, Südafrika, Polen, Deutschland und Japan. Dazu kommt noch Rußland, das den Anlaß für und das Zentrum von Epplées Analysen bildet. Die Einsichten, die diese vergleichenden Studien bieten, sind fruchtbar und interessant. Aber ich habe ein Problem mit der fehlenden Differenzierung der verschiedenen Kollektivbegriffe, mit denen Epplée seine Analysen sprachlich durchsetzt. Das Phänomen des Kollektivbewußtseins wird mit so unterschiedlichen Begriffen wie Schicksalsgemeinschaft (Gemeinschaft als gesellschaftlich-politische Kraft), Leidens- bzw. Opfergemeinschaft, Volksgemeinschaft, kollektives Gedächtnis, Kollektivschuld, Zivilgesellschaft etc. adressiert (vgl. Epplée 2023, S.24, 111, 116, 132, 235f., 268, 282ff., 304f. u.ö.), während das Basisphänomen, mit dem alle diese Begriffe verbunden sind, schlicht und einfach die Lebenswelt ist. Von ihr her und aus ihr erwächst diesen Begriffen ihre je spezifische Bedeutung zu.

Dennoch bleibt die lebensweltliche Genese dieser Begriffe in Epplées Buch ungeklärt. Ebenso ungeklärt bleibt deshalb auch das Verhältnis dieser Gemeinschaftsformen zu den Individuen. Wo die Individuen immer wieder als Teil eines Kollektivbewußtseins thematisiert werden, können die geschichtlich tradierten Traumata niemals ein Ende finden und setzen sich von Generation zu Generation fort. Denn nur das autonome, persönliche Urteil, das Gewissen, kann die Kette der fortlaufenden Traumatisierung, die die Generationen als Kollektivschuld miteinander verbindet, durchbrechen, wie ja auch Epplée selbst an so vielen Stellen seines Buchs an entsprechenden Beispielen aufzeigt. Immer ist die Versöhnung allererst eine persönliche, und jede und jeder Einzelne ist frei, sie zu gewähren oder zu verweigern. Was nicht gegen eine gerichtliche Aufarbeitung und auch nicht gegen staatliche Unterstützung der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit spricht!

An einigen Beispielen möchte ich meine Probleme mit den Kollektivbegriffen verdeutlichen. So beschreibt Epplée das Projekt einer „Volkserziehung“ des Heimatforschers und Historikers Jurij Dmitriev, der mit Hilfe gemeinsamer Erinnerungen „an die Vorfahren eine diffuse Menschenmasse zu einem Volk“ machen will, so daß es sich, also als Volk, den traumatisierenden Erfahrungen in und mit der Sowjetunion stellen kann. (Vgl. Epplée 2023, S.116) Zugleich soll diese kollektive Erinnerung eine „persönliche Beziehung zur Geschichte“ ermöglichen, die die Menschen weniger „leicht manipulierbar“ macht. (Vgl. ebenda) Dmitriev geht es mit der Volkserziehung darum, „die nationale Identität der Bevölkerung Russlands durch die Wiederbelebung des Familiengedächtnisses ,umzuprogrammieren‛“. (Vgl. Epplée 2023, S.117)

Dabei, so Epplée, steht diese Volkserziehung in Konkurrenz zu dem, was die russische Regierung tut, nämlich „die nationale Identität in Russland traditionell von oben“ zu programmieren. (Vgl. Epplée, S.117) Epplée problematisiert Dmitrievs Begrifflichkeit in keiner Weise, sondern anerkennt dessen Erinnerungsarbeit als zivilgesellschaftliche, also vom Staat unabhängige Initiative. Er akzeptiert also den Begriff der Umprogrammierung für eine Erinnerungsarbeit, in der es um die freie und persönliche Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Vergangenheit gehen soll, wie Epplée selbst immer wieder betont!

Weitere Textstellen befinden sich am Ende des dritten Kapitels im dritten Teil seines Buches, einem Kapitel, das Epplée mit dem Titel „Blutwäsche“ versehen hat und in dem es um die Ausweitung „der Vergangenheitsbewältigung von der individuellen und familiären Ebene auf die Gesellschaft“ geht. (Vgl. Epplée 2023, S.412) Dabei will ich jetzt gar nicht weiter auf das reichlich dürftige Argument eingehen, daß die gemeinsame Basis einer solchen gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit darin bestehe, daß sich doch eigentlich alle, Verbrecher wie Opfer, in der „Bewertung des sowjetischen Terrors“ als Verbrechen einig seien. (Vgl. Epplée 2023, S.416) Wäre es tatsächlich so, wäre vielleicht was gewonnen. Aber auch die Bewertung eines Verbrechens als Verbrechen hindert niemand daran, alle möglichen Entschuldigungen dafür zu erfinden, daß es eben historisch nötig und unvermeidbar gewesen sei.

Noch ärgerlicher finde ich aber, daß Epplée drei Zeugen für die gesellschaftliche Bedeutung persönlicher Vergangenheitsaufarbeitung zitiert, die völlig verschiedene Konzepte für ihren Gemeinschaftsbezug vertreten, ohne daß Epplée auf diesen doch eigentlich bemerkenswerten Umstand eingeht. Er faßt stattdessen seine drei Zeugen in einem nichtssagenden Fazit, in dem er seinen dritten Zeugen Péter Esterházy zitiert, zusammen: „Soweit sich von einem Mechanismus sprechen lässt, durch den der ,Versuch, seine denkbar persönlichste Angelegenheit zu bewältigen‛, ,wie nebenbei die Nation eint‛, helfen diese Zeilen vielleicht dabei, zu verstehen, wie er funktioniert.“ (Epplée 2023, S.422)

Epplée bezieht sich in diesem alles zusammenfassenden Zitat auf eine Textstelle aus „Verbesserte Ausgabe“ (2018), in der Péter Esterházy die Vergangenheit seines Vaters im kommunistischen Ungarn aufarbeitet. Esterházy geht es dabei um eine Verantwortungsübernahme auf der Basis der Repräsentativität seiner adligen Familie, die über viele Jahrhunderte eine herausragende geschichtliche Rolle in Ungarn gespielt hatte. Wenn er also schreibt: „So verwickeln wir uns in die Geschichte.“ (Zitiert nach Epplée 2023, S.421) ‒ dann ist das vor allem die weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte des Nachkommen einer Adligenfamilie.

Esterházys Verantwortung unterscheidet sich also von der Verantwortung anderer Menschen, insbesondere von der Verantwortung der beiden anderen Zeugen und von dem, was diese darunter verstehen. Der erste dieser beiden Zeugen ‒ Esterházy ist der dritte, also letzte, den Epplée in dieser Reihe aufführt ‒ ist der Litauer Tomas Venclova. Venclova nennt als Grund für seine Verantwortungsübernahme für von Litauern an Juden begangene Verbrechen seine Volkszugehörigkeit: „Wenn man ein Volk als eine große Person betrachtet ..., dann haben alle Angehörigen des betreffenden Volkes Anteil an dieser Person, die Rechtschaffenen ebenso wie die Verbrecher. Jede begangene Sünde belastet das Gewissen des ganzen Volkes und das Gewissen jedes Einzelnen.“ (Zitiert nach Epplée 2023, S.419)

Das Volk als „Person“, das Volk als „Gewissen“, „Sünde“ ‒ hier ist mit dem Gewissen nicht mehr das autonome Urteil eines Individuums gemeint, sondern wir haben es mit einer Sphäre des Heiligen zu tun. Während die anderen beiden Zeugen aus unterschiedlichen Gründen, wie noch zu zeigen sein wird, als Einzelne dastehen, die ihrem persönlichen Gewissen folgen, fällt Venclova mit seiner Motivlage aus den grundlegenden Einsichten, die Epplée in diesem Kapitel diskutiert, heraus.

Hatte Epplée zuvor herausgearbeitet, daß es einen „Unterschied im Sinn und in der Sache“ macht, wenn man von individueller und gesellschaftlicher Verantwortung spricht (vgl. Epplée 2023, S.407); und hatte er zustimmend Jennifer Teege, Enkelin eines KZ-Kommandanten, zitiert, die ihre Familiengeschichte aufgearbeitet und öffentlich gemacht hat und die bestreitet, daß es eine „genetische Schuld“ gibt und jeder Mensch für sich entscheidet, „wer und was er sein möchte“ (vgl. Epplée 2923, S.409); und hatte er selbst ausdrücklich festgehalten, daß „vor allem diejenigen“ Verantwortung übernehmen, „die an den aufzuarbeitenden Taten der Gemeinschaft den kleinsten Anteil haben“ (vgl. Epplée 2023, S.417) und dies „nur selbständig und freiwillig“ möglich sei (vgl. Epplée 2023, S.422), beruft er sich plötzlich auf einen Zeugen, der dieses entscheidende Merkmal, die individuelle Persönlichkeit, gleich auf ein ganzes Volk „als eine große Person“ ausdehnt!

Das Kapitel endet dann auch nochmal mit Epplées Hinweis auf „eine wirkliche, innerliche Blutwäsche“ (vgl. Epplée 2023, S.423), die „Vorfahren“ und „Ahnen“ in die Erinnerungsarbeit einbezieht. Also ist dann doch wohl irgendwie alles genetisch?

Das ist dann wieder ganz anders beim zweiten Zeugen, einem Polen, der zugleich Jude ist, Adam Michnik. Er begründet den Zusammenhang zwischen seiner persönlichen Verantwortung und der der polnischen Nation anders: „Ich bin Mensch von Natur und trage anderen Menschen gegenüber Verantwortung für das, was ich tue. Ich bin Pole durch Wahl und trage der Welt gegenüber Verantwortung für das Böse, was meine Landsleute getan haben. Ich trage sie aus freiem Willen, aus eigener Wahl und auf das Drängen aus den Tiefen meines Gewissens.()“ (Epplée 2023, S.420)

Verschiedenartiger kann man sich die drei Zeugen kaum vorstellen: zwanghafte Volksverbundenheit beim ersten, freier Wille und persönliches Gewissen beim zweiten, familiäre Verbundenheit und gesellschaftliche Verantwortung beim dritten. Und der Autor des Buches geht auf alle diese Unterschiede nicht ein! Der Grund dafür kann eigentlich nur die begriffliche Wüste sein, was die Problematik des Verhältnisses von Individualität und Kollektivität betrifft.

Letztlich deckt sich Epplées Vorstellung von Kollektivität sogar mit der von Stalin. Das zeigt sich an zwei Stellen: Epplée beschreibt das „Bewusstsein von Massen“ als „unmittelbare Folge“ einer historischen „Situation“. (Vgl. Epplée 2023, S.134) So erklärt er den massenpsychologischen Hang zum „starken Staat“ als historisch bedingt durch den Stalinismus. (Vgl. ebenda) Implizit gesteht Epplée dem Massenbewußtsein also zu, daß es, wäre es nicht durch den Stalinismus deformiert worden, anstelle des starken Staates die „Idee vom Wert des Individuums“ bevorzugen würde. (Vgl. ebenda) Als wäre es nicht gerade die begrifflich herauszuarbeitende Definition von Massen, immer der Autorität eines starken politischen Führers zu folgen!

Das Massenbewußtsein ist nicht von Stalin deformiert worden. Es war nicht eine unmittelbare Folge des Stalinismus. Er hat es nur benutzt. Aber das ist es eigentlich noch nicht, was Epplées Begrifflichkeit dem Stalinismus annähert. Das wird erst in einer weiteren Stelle deutlich, in der Epplée vom „staatliche(n) Monopol auf Kollektivität“ spricht (vgl. Epplée 2023, S.132) und daß der Staat zur Wahrung seines Monopols deshalb „unweigerlich“ auf „Proteste aus der Gesellschaft“ mit „Gegenveranstaltungen“ reagiert (vgl. Epplée 2023, S.133). Indem Epplée auf diese Weise staatliche und gesellschaftliche Kollektivität gegeneinanderstellt, unterstellt er der Zivilgesellschaft ein Kollektivbewußtsein. Die Zivilgesellschaft ist aber kein Kollektivbewußtsein. Die Zivilgesellschaft steht und fällt mit der Zivilcourage, und die ist immer singulär und individuell.

Nur in Kollektivbegriffen denken zu können ist wohl ein bislang unausrottbares Erbe des Sowjetkommunismus. Wenn Epplée also schreibt, daß es ihm nicht um „die Frage nach der Zugehörigkeit zu einem ,liberalen‛ oder ,etatistischen‛ Überzeugungssystem“ gehe, sondern um „psychologische Mechanismen“ (vgl. Epplée 2023, S.134), dann liegt vor dem Hintergrund von „Volkserziehung“ und „Umprogrammierung“ der Verdacht nahe, daß die angestrebte Vergangenheitsaufarbeitung in Rußland noch lange nicht richtig begonnen hat. Denn natürlich geht es um die Schaffung einer ,liberalen‛, nämlich zivilgesellschaftlich geprägten Öffentlichkeit! Und natürlich geht es, ineins mit der persönlichen Erinnerungsarbeit in den Familien, um die Überwindung eines ,etatistischen‛ Überzeugungssystems.

Erst wenn die zivilgesellschaftliche Erinnerungsarbeit mit einer erhöhten Wachsamkeit für das immer noch zirkulierende kollektivistische Gift einhergeht, können auch „psychologische Mechanismen“ zu ihrem Recht kommen. Denn Epplée liefert in seiner eigenen Arbeit als Autor eines Buchs über den „Umgang mit Staatsverbrechen“ das Beispiel dafür, wie leicht es ist, die Inhalte einer individuellen und gesellschaftlichen Traumabewältigung an kollektive und sogar völkische Manipulationsinteressen zu verlieren.

Sonntag, 3. September 2023

Semiotik: Zur Bedeutungslosigkeit von Zeichen

„Je vollkommener nämlich die Sprache in der
Mitteilung aufgeht, je mehr die Worte aus
substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen
Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie
das Gemeinte vermitteln, desto undurch-
dringlicher werden sie zugleich.“
(Dialektik der Aufklärung)

In ihrem Buch „Im Dickicht der Zeichen“ (2023/2015), das die Grundlage für meine folgenden Ausführungen zur Semiotik bildet, zitiert Aleida Assmann Friedrich Hölderlin: „Das Zeichen an sich selbst (ist) unbedeutend = 0.“ (Assmann 2023, S.63)

Im Brockhaus (2006), der letzten in Buchform herausgegebenen Enzyklopädie, finde ich unter dem Stichwort „Semiotik“ folgende Stelle: „S. präsentiert sich eher als ein Feld verwandter Untersuchungen denn als eine selbständige Disziplin mit eigener Methode und präzisem Gegenstand.“ ‒ Mit anderen Worten: Semiotik ist eigentlich gar keine richtige Wissenschaft.

Beide Zitate, von Hölderlin und aus der Enzyklopädie, erklären, warum ich immer solche Schwierigkeiten damit hatte, zu verstehen, worum es in der Semiotik eigentlich geht. Es hatte mich schon immer interessiert, was es mit der Sprache auf sich hat. Aus einem inneren, aus mir selbst entspringenden Interesse heraus, aber auch aus einem Unwillen, einer Verärgerung heraus, die mit dem linguistic turn zusammenhängt, für den Namen wie Ferdinand de Saussure und Ludwig Wittgenstein stehen und der die geisteswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Entwicklung des ganzen 20. Jhdts. prägte. Meine Verärgerung galt dem sprachwissenschaftlichen Dogma, daß es außerhalb der Sprache kein Denken und sogar eigentlich keine Welt gebe. Die KI-Forschung hat dieses Selbstverständnis geerbt. Letztlich läßt sich sogar die KI auf den linguistic turn zurückführen.

Ich wollte also wissen, was es mit der Sprache auf sich hat. Und damit hing wiederum ganz eng die Frage zusammen, wieso Wörter eine Bedeutung haben. Das ist der eigentliche Gegenstand der Semantik. Aber die Semantik bildet keine eigene Disziplin. Sie ist nur ein Anhängsel der Semiotik. Wer wissen will, was es mit der Bedeutung auf sich hat, muß sich an die Semiotiker wenden. Aber die Semiotiker, siehe Hölderlin, haben die Bedeutung abgeschafft. Sie interessieren sich nur noch für Zeichen und ihre Funktionen. Und Funktionen sind bedeutungslos.

Ich war frustriert. Ich verstand die Semiotiker nicht. Ich verstand ihre Texte nicht, die sie schrieben. Sie gaben und geben sich keinerlei Mühe, sich verständlich auszudrücken. Warum auch. Hat ja alles keine Bedeutung. Als ich dann in Helmut Plessners Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) eine Definition fand, die die Bedeutung der Wörter an der Differenz von Meinen und Sagen festmacht, also an dem, was eine Sprecherin meint und was ein Hörer versteht, hatte er mich gewonnen. Dazu an späterer Stelle mehr.

Aleida Assmann machte mir die Entwicklung der Semiotik als wissenschaftliche Disziplin wieder verständlich. Sie spricht von zwei verschiedenen Traditionslinien, von denen die eine weit in die Menschheitsgeschichte zurückreicht und in der es den Menschen darum geht, die Welt lesbar zu machen. Die Menschen haben versucht, ihrer Umwelt Zeichen darüber zu entnehmen, was um sie herum vorging und was sie als nächstes tun sollten. Obwohl Assmann an keiner Stelle auf Levi-Strauss verweist, ist das, was sie „wilde Semiose“ nennt (vgl. Assmann 2023, S.18ff.u.ö.), vergleichbar mit Levi-Straussens „wildem Denken“.

In dieser semiotischen Traditionslinie, so Assmann, ist der Mensch, bis heute übrigens!, an nichts mehr interessiert als an Bedeutung. Er interpretiert einfach alles, was ihm begegnet: „Neben dem homo faber gibt es den homo interpres, den deutenden Menschen, der Impulse aus seiner Umwelt aufnimmt und als Zeichen empfängt, auch wenn er sie nicht verstehen kann.“ (Vgl. Assmann 2023, S.31)

Die andere semiotische Entwicklungslinie beginnt mit der Neuzeit und bringt im 20. Jhdt. den Strukturalismus und den Poststrukturalismus hervor. Auch der Dekonstruktivismus gehört hierhin. Ich will jetzt nicht Assmanns Ausführungen zu diesem Thema referieren. Das wird sonst alles zu lang. Ich fasse es nur kurz zusammen, so wie ich es verstanden habe: Der moderne Semiotiker befaßt sich nicht mehr mit der mündlichen Sprache, mit den Wörtern, die wir sprechen, mit Phonemen und Silben, aus denen sie zusammengesetzt sind; nicht mit Wörtern, die sich zu neuen Wörtern zusammenfügen lassen oder die über die Syntax zu einem Satz zusammengefügt werden. Das ist die Ebene der Bedeutung. Die kleinsten Elemente der gesprochenen Sprache als bedeutungsstiftende Praxis sind die Wörter.

Aber für Bedeutung interessieren sich die Semiotiker nicht, wie schon erwähnt wurde. Sie halten sich statt an die gesprochene Sprache an die Schrift, und sie nehmen statt den gesprochenen Wörtern die Schriftzeichen, aus denen die Wörter zusammengesetzt sind, in den Fokus. Und diese Schriftzeichen sind, wenn wir mal von den noch eng mit der Mündlichkeit zusammenhängenden Konsonantenschriften absehen, seit den Phöniziern und Griechen im europäischen Kulturraum Buchstaben.

Nachdem die zunehmende Alphabetisierung breiter Teile der Bevölkerung um die Wende vom 18. zum 19. Jhdt. zunächst dazu geführt hatte, daß die Menschen Bücher zu lesen lernten, als verfolgten sie einen spannenden Film ‒ also das Stadium des mühsamen, vom Mitsprechen begleiteten Buchstabierens überwunden hatten ‒, gerieten die Buchstaben zunächst wieder in Vergessenheit. Wer beim Lesen eines Buches einen inneren Film abspielen kann, sieht die Buchstaben nicht mehr. Er liest über sie hinweg. Das Erleben spielt sich auch beim Lesen eines Textes, wie das Hören in der gesprochenen Sprache, vor allem auf der Wort- und der Satzebene ab.

Nicht so die Semiotiker des 20. Jhdts.! Mit Emphase beschreibt Assmann die semiotische Abwendung vom Wort und die Hinwendung zum Buchstaben: „Die Buchstaben des Textes, seine irreduzible Materialität ist es, was das hermeneutische Verlangen nach Sinn und Transparenz von jeher übersehen und verdrängt hat. Nachdem der Geist (also das bewußte Lesen ‒ DZ) den Buchstaben unterjocht hat, dreht sich dieses Verhältnis um: das Medium ist nun die Botschaft.()“ (Assmann 2023, S.301f.) ‒ Das Lesen spielt sich für die moderne Semiotik jetzt nur noch auf der Buchstabenebene ab: „... es gibt kein Transzendieren der Lektüre mehr, keine Flucht von der Materialität der Zeichen in den Geist, kein behänder und selbstvergessener Aufstieg vom Buchstaben zum Deuten.“ (Assmann 2023, S.302f.)

Trotzdem gibt es sogar auf dieser materiellen Ebene noch eine Deutungspraxis. Jacques Lacan ersetzt das bislang von einem Bewußtsein begleitete Lesen durch ein Unterbewußtes. Er nimmt die Homonymie zwischen Medium (Presse, Rundfunk, Internet etc.) und Medium (Hellseherin, Wahrsager) zum Anlaß, den an sich bedeutungslosen Zeichen eine unterschwellige Bedeutung zuzusprechen, die wie in einer Psychoanalyse durch die Assoziationsbereitschaft von Lesern aufgedeckt werden kann. Mich erinnert die ,Geistlosigkeit‛ dieses ,medialen‛ Umgangs mit Texten an die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, wie sie Friedrich Kittler gefordert hat.

Aber das ist nur ein Ergebnis der semiotischen Buchstäblichkeit unter anderen. In der neuen Semiotik überwiegt eher eine Art des Lesens von Texten, das sich nur für die Funktionalität und Struktur von Schriftzeichen interessiert. Und damit sind wir auch schon bei den Maschinensprachen. Das semiotische Desinteresse an Wörtern und das Primat der Buchstaben (Zeichen) hat sich in allen wissenschaftlichen Disziplinen nachhaltig durchgesetzt. Lesen ist nur noch eine Variante der Informationsverarbeitung. Und Informationstheoretiker können genau berechnen, wie viele Bits ein Walgesang enthält, ohne auch nur ein ,Wort‛ davon zu verstehen.

Zurück zu Plessner. Plessners Differenz von Meinen und Sagen beruht auf einer Bewußtseinskrise, aus der heraus dann erst so etwas wie ein Selbstbewußtsein möglich wird. Wir wollen etwas tun, haben auch einen Plan, um unser Ziel zu erreichen, aber es mißlingt. Der auf das Ziel gerichtete Bewußtseinsstrahl wird unterbrochen. Plessner nennt das ein Hiatuserlebnis. Wir beginnen, zwischen uns und der Welt, zwischen Innen und Außen, zu unterscheiden. Wir werden unserer selbst bewußt. Diese Differenz überträgt sich auch auf die Kommunikation zwischen uns und anderen wie uns: was wir sagen, wird mißverstanden; was wir gemeint hatten, kommt beim anderen nicht an. Beim Versuch, uns besser auszudrücken, beginnen wir auch hier uns selbst besser zu verstehen. Plessner läßt deshalb die Bedeutung, aus der Differenz von Meinen und Sagen hervorgehen. Die Differenz von Meinen und Sagen ist auch die Differenz von Innen und Außen.

Auch die Semiotiker unterschieden lange Zeit zwischen Innen und Außen: „Die abendländische Semiologie beruht auf einem Zeichenbegriff, der das Bezeichnende und das Bezeichnete über Jahrhunderte hinweg als Dichotomie zwischen einem ,Außen‛ und einem ,Innen‛ thematisierte und unterschiedlichen ontischen Sphären zuordnete.“ (Assmann 2023, S.62)

Aber in der modernen Semiotik, der Semiotik des 20. Jhdts., der Semiotik des linguistic turn, verschwand das Interesse an dieser Differenz. Sie interessierten sich nur noch für das ,Innen‛ der Sprache, zu der es kein Außen mehr geben sollte, was eigentlich eine Verdrehung des tatsächlichen Verhältnisses von Innen und Außen darstellt. Denn es ist die Sprache, die Schrift noch mehr als die gesprochene Sprache, die den Sprechenden und Hörenden äußerlich ist. Das gilt im gesteigerten Maße seit der Erfindung des Buchdrucks. Das gedruckte Wort ist uns, anders als die Handschrift, absolut äußerlich.

Die Verlagerung des semiotischen Interesses auf das ,Innere‛ der Sprache hat möglicherweise mit der dreistelligen Relation des modernen Zeichenbegriffs, wie sie von Charles S. Peirce vorgeschlagen wurde, begonnen. (Vgl. Assmann 2023, S.17) Peirce unterscheidet zwischen dem Signifikanten (dem Zeichen), dem Signifikat (der Bedeutung) und dem Referenten (dem realweltlichen Gegenstand). Wenn Peirce am realweltlichen Bezug als Bestandteil des Zeichenbegriffs festhält, erkennt er damit immer noch die Außenwelt als etwas an, das Bestandteil einer ernstzunehmenden Semiotik ist.

Aber Peirce trennt zugleich die Bedeutung vom Gegenstand. Worin soll aber die Bedeutung bestehen, wenn nicht im Gegenstand? Aleida Assmann schreibt: „Während die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat durch einen Code geregelt ist, der rein linguistischer Art ist, regelt die Verbindung zu einem Referenten die Einlassung des Zeichensystems in die Außenwelt und damit in praktisches Handeln und Verstehen.“ (Assmann 2023, S.17)

Peirce hat also die Bedeutung vom Gegenstand abgelöst und zum Bestandteil eines „rein linguistische(n)“ Codes gemacht. Der Bezug zur Außenwelt ist nicht mehr von linguistischem Interesse. Damit ist der erste Schritt zu einer Zeichentheorie getan, die sich von der Außenwelt abwendet und sich nur noch mit dem rein linguistischen Inneren von Sprachzeichen befassen will. Aber die Zeichen, mit denen sich die Semiotiker befassen, sind jetzt keine Sprachzeichen mehr. Sie haben sich in Schriftzeichen verwandelt.

Es ist bezeichnend, daß Assmann deshalb auch nicht mehr von einer Bewußtseinskrise spricht, wenn die Dinge und Worte auseinanderfallen, sondern von einer „Zeichenkrise“. (Vgl. Assmann 2023, S.151, 156, 162) Und an die Stelle des Bewußtseins tritt die „Zeichenkraft“. (Vgl. Assmann 2023, S.58) Von nun an kommt die Semiotik ohne menschliches Bewußtsein aus.

Indem Peirce die Bedeutung vom Gegenstand trennt und in den Zeichencode verlagert, haben wir es analog zu Kants Begriffen mit Zeichen ohne Anschauung zu tun. Es ist die bewußte Anschauung, die Apperzeption, die Kant zufolge die Verbindung zwischen Begriffen bzw. ,Zeichen‛ und unserer Wahrnehmung herstellt. Ohne diesen Bewußtseinsakt bleiben die Begriffe bzw. Zeichen leer und alles ist bedeutungslos.

Damit wir es nicht nur mit Schriftzeichen zu tun haben, sondern mit Sprachzeichen, bedarf es einer anderen dreistelligen Relation als der von Peirce vorgeschlagenen. Peirces Zeichenbegriff fehlt das Bewußtseinsmoment, das die drei Bestandteile, Signifikant, Signifikat, Gegenstand überhaupt in einer dreistelligen Relation zu integrieren vermag. Um das Schriftzeichen in ein Sprachzeichen zu verwandeln, müssen wir auf Plessners Differenz von Meinen und Sagen zurückkommen. Auch hier finden wir eine dreistellige Relation vor. Die Differenz von Meinen und Sagen beinhaltet, daß die Bedeutung weder auf Seiten des Sagens noch auf Seiten des Meinens liegt, sondern als ein Drittes aus ihrer Differenz hervorgeht.

Weder das Zeichen noch der Sender noch der Empfänger noch der Zeichencode sind die Quellen der Bedeutung, sondern das gesprochene Wort. Es gibt die Wörter im Lexikon, und es gibt das gesprochene Wort. Das Lexikon besteht aus Listen optionaler Bedeutungen für wiederum in Listen alphabetisch aneinander gereihte Wörter. Aber was die Wörter wirklich bedeuten, stellt sich erst heraus, wenn wir sie verwenden. Denn im Kontext ihres Gebrauchs ist ihre Bedeutung immer vielfältig und abhängig von dem, was die Sprecherin meint, und von dem, was der Hörer versteht. Wenn sich Hörerin und Sprecher auf ein gemeinsames Meinen verständigen, ist es als Bedeutung auf den jeweiligen Akt der Kommunikation bezogen und steht in künftigen Kommunikationsakten wieder offen für eine neue Verständigung.

Deshalb kann man mit Plessner sagen, daß die Differenz von Meinen und Sagen in diesen drei Bezügen besteht: Kontext, Meinen und Verstehen. Bedeutung geht also aus der Differenz von Meinen und Sagen hervor.

Ohne Bezug auf ein Bewußtsein gibt es keine Bedeutung. Eine Semiotik, die das Bewußtsein aus ihrer Zeichentheorie ausschließt, schließt auch die Bedeutung aus. Was bleibt ist ein auf die Interaktion von Maschinen reduziertes Sprachverständnis.

Samstag, 19. August 2023

Fünf Jahre Friday for Future

Momentan sind sie wieder in den Medien. Fünf Jahre gibt es sie jetzt, die jungen Leute von damals, die heute um die zwanzig sind. Und noch jüngere, Kinder damals, die erstmals für etwas friedlich auf die Straße gingen.

Viel haben sie bewirkt. Sie waren Sympathieträger. Und es ging uns alle an. Es ging um uns und unseren Planeten. Es ging also auch um viel. Es ging um alles.

Wie schauen sie heute zurück, die jungen Menschen, mit ihren Erfahrungen mit der Politik, mit der Gesellschaft? Ich stelle mir vor, daß sie frustriert sind. Denn letztlich haben sie zu wenig erreicht. Die Politiker haben sich von ihnen abgewendet und machen stur und unbelehrbar weiter wie bisher. Trotz Ampel. Trotz Grünen in der Regierung. Die einzige Sorge, die sie kennen, ist das ausbleibende Wirtschaftswachstum.

Inzwischen gibt es die Letzte Generation. Sie ist nicht mehr so brav wie die Aktivistinnen und Aktivisten von Friday for Future. Sie ist unbequem. Denn sie sind tatsächlich frustriert, haben aber noch nicht die Hoffnung aufgegeben. Und weil sie unbequem geworden sind, wird ihnen nun die Schuld gegeben für die wachsende gesellschaftliche Ablehnung klimapolitischer Maßnahmen. Und mit ihnen auch den Aktivistinnen und Aktivisten von Friday for Future.

Verkehrte Welt: schuld sind nicht die verzweifelten Mahner! Schuld ist jede und jeder von uns, eine Gesellschaft, die um ihre Pfründe besorgt ist, um ihren Wohlstand, und nicht einsehen will, daß genau dieser Wohlstand schuld ist am ausgeplünderten Planeten, am Klimawandel. Jede und jeder Einzelne, der in Regionen fliegt, wo die Wälder brennen, um dort Urlaub zu machen, ist schuld.

Letztes Jahr in der Talkshow von „Markus Lanz“ und dann nochmal im Podcast „Lanz & Precht“ war Reinhold Messner zu Gast. Auf die Frage nach den Flugreisen in die verschiedenen Berg- und Eiswildnisse, in denen Messner die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erkundete, geriet der Ruhe und Weisheit ausstrahlende ehemalige Abenteurer plötzlich in Rage. Aufgebracht wies er jede Mitschuld am Klimadesaster von sich. Niemand, so Messner mit erhöhter Stimme, habe in den 1970er und 1980er Jahren etwas vom Klimawandel wissen können. Niemand könne seine Generation dafür verantwortlich machen.

Als ich 1980 vom Zivildienst ins Germanistikstudium wechselte, war für mich alles klar gewesen. Damals war das Waldsterben in aller Munde. Mir war bewußt, daß ich wahrscheinlich zur letzten Generation gehörte, die noch von einer Wirtschaftsform profitieren würde, die die Hauptursache für das kommende Desaster war. Messners Empörung vor Augen hatte ich das Gefühl eines Dejavus. Dies war nicht das erste Mal, daß in Deutschland eine Generation nicht Schuld gewesen sein will; nicht verantwortlich sein will für irgendwas.

Ich stelle mir vor, wie froh wiedermal alle sind, nicht selbst schuld sein zu brauchen, sondern das ganze Desaster der Letzten Generation aufbürden zu können; der letzten Generation auch, bei der diese Sündenbockpraxis noch Sinn macht. Nicht lange und es wird kein Hahn mehr danach krähen, wer wie wofür verantwortlich gemacht werden kann. Dann geht es nur noch ums Überleben.

Das Zeitfenster für die 1,5 Grad hat sich schon geschlossen. Wir alle fahren unseren Planeten an die Wand.