„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 17. Oktober 2023

GG Artikel 3

Ich lese zur Zeit das Buch „Triggerpunkte“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. Bei den Triggerpunkten handelt es sich um neuralgische Umschlagpunkte, die Menschen in gesellschaftlichen Konfliktfeldern, die von den Autoren als „Arenen der Ungleichheit“ bezeichnet werden, dazu veranlassen, vom offenen Diskurs auf erbitterte Konfrontation umzuschalten. Wie die Bezeichnung schon verrät, geht es den Autoren in den verschiedenen Arenen um die erlebte Ungleichheit, die unabhängig vom jeweiligen Thema den eigentlichen Kern des Triggermoments bildet.

Damit werde ich mich in einem anderen Blogpost nochmal ausführlicher befassen. Für jetzt geht es mir um ein Argument, das im Zusammenhang von Diskussionen in der Wir-Sie-Arena (Mau u.a. 2023, S.158ff.) verwendet wird. Die Autoren führen dazu die Äußerung einer Teilnehmerin in einer Gruppendiskussion zur Diskriminierung von LGTBQ... an: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich sehr gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)

Die Autoren interpretieren diese Äußerung als Versuch, „Abweichungen“ in der „Normalität“ des Alltags unsichtbar zu machen, so daß dieser „sich selbst dabei nicht merklich ändern muss“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.201) Sie bezeichnen diese Einstellung als „Erlaubnistoleranz“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.), die von ihnen im Vergleich zur „Respekttoleranz“ als weniger progressiv gewertet wird. Diese Erlaubnistoleranz will ihrer Ansicht nach die eigene traditionelle Lebensform vor größeren Veränderungsansprüchen schützen und insbesondere sexuelle ,Auffälligkeiten‛ ins Private abdrängen; nach dem Motto: „Jeder nach seiner Fasson!“

Damit verbinden die Autoren eine von ihnen ebenfalls negativ bewertete „Kategorienblindheit“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179 und S.193) Als kategorienblind gerieren sich ihrer Ansicht nach diejenigen, etwa alte weiße Männer, die auf der Gleichheit aller Menschen bestehen und damit, so die Autoren, vor allem sich selbst meinen. So wenig andere Menschen aufgrund ihrer Andersheit diskriminiert werden dürfen, so wenig dürften auch sie, eben als alte weiße Männer, diskriminiert werden. Die Autoren sprechen von einer „Schuldumkehr, der zufolge es das öffentliche Auftreten von Schwulen, Lesben und Transpersonen ist, das Intoleranz erst provoziert“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179)

Wenn die Autoren aber Äußerungen wie jene der erwähnten Diskussionsteilnehmerin unter Diskriminierungsverdacht stellen, interpretieren sie etwas in diese Äußerungen hinein, das so gar nicht gesagt worden ist. Wenn die Diskussionsteilnehmerin nicht akzeptieren will, daß Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit auch verschieden behandelt werden müssen, dann steht sie damit auf dem Boden des Grundgesetzes. Ich zitiere:

GG Artikel 3:
„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Aus diesem Grundgesetzartikel geht eindeutig hervor, daß das Grundgesetz kategorienblind ist. Alle Menschen sind gleich zu behandeln. Das gilt sowohl für die Benachteiligung wie auch für die Bevorzugung. Laut Grundgesetz darf es also auch keine Überkompensation für vergangenes Unrecht, also für historische Diskriminierungen geben, im Sinne einer Umkehrung dieser Diskriminierungen, denn das würde der Gleichheit aller Menschen zuwiderlaufen. Da aber der Staat aktiv auf die „Beseitigung bestehender Nachteile“ hinarbeiten soll, sind bestimmte vorübergehende Sonderregelungen wie etwa die Quotenregelung durchaus grundgesetzlich erlaubt.

Wenn sich also die Diskussionsteilnehmerin gegen eine grundsätzliche Sonderbehandlung bislang diskriminierter Gruppen wendet, bewegt sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes. Welche Motive die Diskussionsteilnehmerin für ihre Äußerung hat, ist dabei irrelevant. Diese Motive können verschieden sein. Für eine wissenschaftliche Studie ist es jedenfalls unangemessen, ihr ein bestimmtes Motiv zu unterstellen.

Ich persönlich finde es auch merkwürdig, wie sehr sich der Umgang mit Kategorien geändert hat. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo liberale, progressiv eingestellte Menschen bemüht gewesen waren, nicht in ,Schubladen’ zu denken. Auch bildete es einen wesentlichen Teil der eigenen Emanzipation, der ,Selbstverwirklichung‛, sich von allen einengenden Kategorien, die einen auf eine bestimmte Identität festzulegen versuchten, zu befreien. „Farbenblindheit“ galt als eine Grundvoraussetzung für die Überwindung rassistischer Vorurteile.

Wenn es um die Ermöglichung von Vielfalt und Verschiedenheit ging, galt Gleichheit mal als unverzichtbares Fundament für die Persönlichkeitsentfaltung und für die Verwirklichung von individuellen Lebensentwürfen. Mein eigenes Konzept, an dem ich in meinem Blog arbeite, Ich = Du, geht davon aus, daß Vielfalt nur auf der Basis von Gleichheit möglich ist.

Dieser Satz ist nicht umkehrbar. Vielfalt als Basis von Gleichheit funktioniert nicht. Der Krieg gegen jeden, der anders ist als ich, liegt unter der Voraussetzung von Vielfalt näher als der gesellschaftliche Frieden auf der Basis von Gleichheit.

Wilhelm von Humboldt hat das mal auf die Formel gebracht, daß eine Gesellschaft um so gebildeter ist, je mehr individuelle Verschiedenheit sie zulassen kann, ohne auseinanderzubrechen. Darin steckt positives und negatives: positiv ist die Wertschätzung von individueller Vielfalt. Negativ ist die Gefahr, die von der Vielfalt ausgeht. Eine Gesellschaft droht nämlich dort auseinanderzubrechen, wo sie nicht mehr der Raum ist, in dem sich die Verschiedenen als Gleiche begegnen können.

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