„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 24. Oktober 2023

„Triggerpunkte“

1. Methoden und Begriffe
2. Ekel und Lebenswelt

An zentraler Stelle in dem Kapitel zu den „Triggerpunkten“ (Mau u.a. 2023, S.244ff.) treten bei den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern Ekelgefühle zutage. Ekel ist ein starker Affekt, der großenteils lebensweltlich bedingt ist. In verschiedenen geschichtlichen Epochen und in verschiedenen Kulturen ekeln sich Menschen vor unterschiedlichen Dingen. Beim Ekel bewegen wir uns in einem Bereich, wo uns keine Statistik weiterhilft.

Daß wir es hier mit einem Phänomen der Lebenswelt zu tun haben, zeigt sich auch an der Zuordnung zu den Normalitätserwartungen der Diskutanten. („Normalitätsverstöße“: vgl. Mau u.a. 2023, S.253ff.) Der Begriff der „Normalität“ wird von den Autoren vorzugsweise in Zusammenhängen verwendet, die ich der Lebenswelt zuordne. Dieser Begriff vermittelt in gewisser Weise zwischen Statistik (Normalverteilungen) und Phänomenologie (Lebenswelt). Aber anders als der statistische Begriff reicht der Lebensweltbegriff weit in die Tiefen (Sedimente) des individuellen und des Kollektivbewußtseins hinab.

Vor allem zwei Bereiche unserer kulturell geprägten Körperlichkeit erzeugen auf individuell verschiedene Weise Ekel: alles was mit dem Magen-Darmtrakt zusammenhängt und die Sexualität. Vor allem das Umschlagen von Sexualität in Ekel weist noch einmal auf den engen Zusammenhang mit kulturellen, sich in der individuellen Ontogenese niederschlagenden Prägungen hin.

Bevor Kinder in die Pubertät kommen, im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren, bevor irgendwer erkennen kann, am wenigsten sie selbst, in welche Richtung sich ihre Sexualität entwickelt wird, durchlaufen sie eine Phase der Latenz, in der sie sich nicht für das Geschlecht, ihr eigenes oder von andern, ,interessieren‛. So kann man es bei Freud und bei Wikipedia nachlesen. Tatsächlich geht es weit über Desinteresse hinaus. Alles was mit sexuellem Verhalten zu tun hat, erzeugt bei Kindern in diesem Alter vor allem Ekel. Ich habe in dem Alter, vorm Fernseher sitzend, immer die Augen zugemacht, wenn die spannende Filmhandlung durch, wie ich fand, überflüssige Küsserei unterbrochen wurde. Entsprechendes Ekelverhalten kann man immer wieder bei Kindern in diesem Alter beobachten.

Mit dem Eintritt in die Pubertät kippt Ekel in Begehren um. Fortan begleitet uns oder die meisten von uns dieses Umkippen von Erotik in Ekel und von Ekel in Erotik den Rest unseres Lebens.

Sexualität und Ekel sind wie ein Kippbild aneinander gebunden. Ludwig Wittgenstein hatte sich von der Hase-Ente-Täuschung davon überzeugen lassen, daß seine im „Tractatus“ vertretene Sprachphilosophie, nach der jedes Zeichen nur eine Bedeutung haben kann, falsch ist. Zeichen konnten zwei Bedeutungen haben, so wie dasselbe Bild mal eine Hase und mal eine Ente sein konnte. Aus diesem Grund entwickelte er seine Philosophie des Sprachspiels, in dem Sprachzeichen erst durch die Art ihrer Verwendung eine Bedeutung erhalten.

Auch das Verhältnis von Sexualität und Ekel ist so ein Hase-Enten-Kippbild, in dem ein und derselbe Vorgang zwei völlig konträre Bedeutungen haben kann. Unabhängig von der hauptsächlichen sexuellen Orientierung verlieben sich Menschen nicht einfach in jede Vertreterin, jeden Vertreter des bevorzugten Geschlechts. Im Gegenteil kann die Vorstellung, mit einen bestimmten Menschen Sex zu haben, Ekel auslösen, während dieselbe Vorstellung bei einem anderen Menschen desselben Geschlechts Schmetterlingsgefühle im Bauch erzeugt.

Das kann uns sogar mit unserem Lebenspartner passieren. Die Menschen entwickeln sich, auch ihre Gefühle ändern sich, und es kann der Zeitpunkt kommen, wo wir mit dem einst geliebten Menschen keine erotischen Affekte mehr verbinden und entsprechende Avancen seinerseits sogar nur noch Ekel auslösen.

Die Plötzlichkeit, mit der aus Erotik Ekel und umgekehrt aus Ekel Erotik werden kann, macht aus dem Verhältnis von Sexualität und Ekel ein Vexierbild, so wie die Hase-Enten-Täuschung. Genauso wie bei einem Vexierbild können wir Erotik und Ekel nie gemeinsam empfinden. So wie wir entweder den Hasen oder die Ente sehen, aber nie beides gemeinsam, verhält es sich auch bei Erotik und Ekel. Der Sexualität liegt immer nur mal der eine oder mal der andere Affekt zugrunde.

Was die Diskutanten in dem Buch von Mau u.a. betrifft, ist der Ekelaspekt von Sexualität an verschiedenen Stellen offensichtlich. Auch an anderen Stellen als dem erwähnten Kapitel, in denen es um Pädophilie und um öffentliches Küssen geht. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177/180) An diesen Stellen wird das Küssen in der Öffentlichkeit als „aufdringlich“ oder als „zu weit gehend“ bewertet. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177) Ein Diskussionsteilnehmer beschwert sich: „Das sind teilweise Anblicke, die finde ich dann schon wieder ...“. Und eine Diskussionsteilnehmerin ergänzt: „zu drüber.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.180)

Die Autoren kommentieren diese Äußerungen als „Homophobie“: „Die Grenzen ostentativer körperlicher Zuneigung werden anders gezogen als bei Heterosexuellen.“ (Mau u.a. 2023, S.180) ‒ Es mag sein, daß homophobe Motive bei dem zitierten Wortwechsel mitspielen. Darum geht es mir hier nicht. Es geht mir darum, inwiefern Ekelgefühle bei Fragen erlaubter und verbotener Sexualität unvermeidlich immer mitspielen. Denn ich denke, daß es den beiden Diskutanten nicht um den Begrüßungskuß auf beide Wangen, wie er in Frankreich üblich ist, geht. Es ist wohl eher der öffentlich zur Schau gestellte, mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten verbundene Zungenkuß gemeint.

Der Ekel, der hier bei Passanten, die sich beim ersten Hingucken schnell abwenden, erzeugt wird ‒ so geht es zumindestens mir bei solchen Gelegenheiten ‒ und erstmal haften bleibt, weil man das, was man gesehen hat, nicht mehr ignorieren oder verdrängen kann, geht auf einen Intimitätsbruch zurück. Um solche Einbrüche in die Intimität unserer Mitmenschen zu vermeiden, gab es früher im gesellschaftlichen Umgang den ,Takt‛. Taktvoll ist ein Verhalten in der Öffentlichkeit, das genau solche Intimitätsbrüche vermeidet. Takt ist das, was ich im Unterschied zu den Autoren „Respekttoleranz“ nennen würde. Die Autoren nennen es bloß „Erlaubnistoleranz“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.)

In dem jetzt mehrfach erwähnten Kapitel zu Normalitätsverstößen problematisiert ein Diskussionsteilnehmer die Umgangsformen in Umkleidekabinen im Schwimmbad. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.254). Dabei beschwört er Phantasien von Vergewaltigung und vom Rumwedeln mit dem Penis vor den Augen seiner zwölfjährigen Nichte herauf. In diesem Zusammenhang betont er dann auch, daß er was gegen „Pädophilie“ hat. Die Autoren bewerten die Stellungsnahme des Diskussionsteilnehmers entsprechend: sie sprechen von der selektiven Vergrößerung eines „Problems weit über seine tatsächliche Relevanz“ hinaus. (Vgl. ebenda)

Sehen wir einmal von dem wirren Sammelsurium von Ekelszenarien ab, die der Diskussionsteilnehmer hier zusammenstellt, kann ich nicht erkennen, inwiefern die Verurteilung von Pädophilie einer „selektiven Aufmerksamkeit“ (ebenda) geschuldet sein soll. Die Sorge, daß Kinder überall in unserer Gesellschaft dem übergriffigen Verhalten von Erwachsenen weitgehend schutzlos ausgeliefert sind und daß gerade im Bereich der Umkleidekabinen und Gemeinschaftsduschen von öffentlichen Schwimmbädern besondere Gefährdungen bestehen, hat sich nicht erst in den letzten Jahren vielfach als begründet erwiesen. Wo für sexuelle Orientierungen aller Art Toleranz und Respekt eingefordert wird und dabei der Mißbrauchsaspekt unterbelichtet bleibt, verlieren wir die Sensibilität für Formen übergriffiger Sexualität in unserer alltäglichen Umgebung.

Aus den Sedimenten unseres Bewußtseins dringen, kollektiv verharmlost und individuell verdruckst, Motive herauf, die in unserem alltäglichen Umgang als Macht und als Ohnmacht, als Täterschaft und als Passion auf ungleiche Weise zur Ausführung kommen. Diese Ungleichheitsverteilung bildet eine Diskriminierung, die sich quer zu den jeweiligen sexuellen Orientierungen verwirklicht.

Es geht mir hier nicht darum, verschiedene Formen von Diskriminierung gegeneinander auszuspielen. Ich will hier nur Affekte ansprechen, um die man bei allen Diskussionen in der Wir-Sie-Arena wissen sollte, ehe wir die verschiedenen Argumente in die eine oder andere Richtung qualifizieren.

Zum Schluß möchte ich gerne eine kleine Geschichte erzählen, die mir wiederum eine Freundin in den 1980er Jahren erzählt hat.

Die Freundin erzählte mir, wie sie sich mit einem homosexuellen Bekannten über Sexualität unterhielt. Der Bekannte versuchte ihr zu beschreiben, warum Frauen für ihn keine erotische Anziehungskraft hatten. Er vermittelte ihr die anatomischen Besonderheiten, die er als abstoßend empfand, auf so lebhafte und bildreiche Weise, daß er sie dazu brachte, sich vor sich selbst zu ekeln.

Als mir die Freundin das erzählte, hatte ich wiederum eine lebhafte Vorstellung von zwei Menschen, die eine Gemeinschaft des Sich-Ekelns bildeten. Zum ersten Mal entstand in mir auch der Gedanke, wie eng Erotik und Ekel zusammenhängen. Sich von der einen und dem anderen angezogen zu fühlen, impliziert irgendwie immer auch, sich von wiederum anderen in sexueller Hinsicht abzuwenden.

Aber was mich an dieser Geschichte am meisten erstaunte, war die Freundin, die fähig war, den Ekel ihres Bekannten so zu reflektieren, daß sie sich über ihre eigene Körperlichkeit erheben und mit ihrem Bekannten eine paradoxe Gemeinschaft bilden konnte, die sie gleichzeitig einbezog und ausschloß.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen