„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Rassismus bei Michael Ende?

In einem Beitrag zur DLF-Rubrik „Andruck“ rezensierte Jens Rosbach die Doktorarbeit von Julian Timm: „Der erzählte Antisemitismus“. Darin wird Michael Endes Kinderbuch „Der Wunschpunsch“ vorgeworfen, daß es antisemitische Klischees enthalte. Dabei geht es, so weit ich es verstanden habe, nicht darum, daß Michael Ende bewußt jüdische Menschen oder vermeintlich jüdisch aussehende Menschen diffamiert, sondern darum, daß er solche Klischees verwende, ohne explizit einen solchen Bezug herzustellen. Es handelt sich also gewissermaßen um ,freischwebende‛ Klischees, zu denen man diesen Bezug auf Juden erst herstellen muß, um sie kenntlich zu machen.

Mit anderen Worten: der Autor Michael Ende unterschlägt den Bezug, was dann der Doktorand Julian Timm für ihn nachholt. Denn der weiß natürlich, was auf die ‚Juden‛ paßt und wie sie aussehen.

Ich kann mit solchen Verdachtskritiken nicht viel anfangen. Sie mögen zutreffen oder sie mögen nicht zutreffen. Was man davon zu halten hat, ist meist mehr oder weniger denen überlassen, die sich davon getriggert fühlen. Tatsächlich läßt Julian Timm offen, ob Michael Ende selbst überhaupt darum gewußt hatte, als er diese Klischees in seiner Erzählung verwendete. Darauf kommt es ihm nicht an. Es kommt einzig darauf an, daß man Ende so verstehen kann; ob es nun zutrifft oder nicht.

Es ist jedenfalls leicht, auf diese Weise überall fündig zu werden, wenn man nur entsprechend danach sucht. Was aus den Sedimenten der Lebenswelt in uns aufsteigt und auf die eine oder andere Weise schreibend oder sprechend in Worte gefaßt wird, haben wir nicht unter Dauerkontrolle. Nicht einmal Schriftsteller. Erst recht nicht, wenn andere ihren Texten einen Sinn unterlegen, den sie schreibend nicht zu antizipieren vermochten.

Jedenfalls nimmt Jens Rosbach Timms Buch zum Anlaß, um das ganze Werk von Michael Ende unter Rassismusverdacht zu stellen. Ein Verweis auf den „Jim Knopf“ liegt da nur allzunahe. Man denke nur an das N-Wort-Kind Jim Knopf. Diese Art von meist nicht weiter ausgeführten Andeutungen, mal eben so ad hoc in den Raum gestellt, erweist sich durchaus gelegentlich als unzutreffend. So ist es jedenfalls beim „Jim Knopf“.

Neben dem N-Wort ist Mandala ein weiterer Aufreger, das in früheren Ausgaben des „Jim Knopf“ noch „China“ genannt worden war. Übrigens durch Eingriff des Verlags. Michael Ende selbst hatte die von ihm beschriebene Phantasiewelt „Mandala“ von Anfang an nicht China, sondern eben Mandala genannt. Alle darin beschriebenen Merkwürdigkeiten spielen mit den entsprechenden Vorurteilen, die man damals so von China hatte. Aber sie spielen eben nur damit. Wie sich im weiteren Verlauf der Erzählung erweist, hat Michael Ende Mandalas eigentlichen Kern in etwas anderem gesehen. Und das hat nichts mit Rassismus zu tun. Aber um das zu verstehen, muß man den „Jim Knopf“ eben gelesen haben.

Noch einmal in aller Deutlichkeit: ich bin mir durchaus bewußt, ein alter weißer Mann zu sein, und ich kann mich nicht von Rassismen aller Art pauschal freisprechen. Ich betrachte es als eine Lebensaufgabe, diesen menschenverachtenden Einstellungen immer und überall auf die Spur zu kommen und sie zu kontrollieren. Die Sedimente, aus denen sowas kommt, sind tief.

Aber was ich nicht akzeptiere, ist das eilfertige Auffinden von vermeintlich anrüchigen Stellen in der Literatur, um sich auf diese Weise, wie ich den Verdacht habe, selbst reinzuwaschen. Wer den Rassismus bei anderen kenntlich machen kann, muß bei sich selbst nicht mehr so genau hinsehen. Das ist mir zu billig. Da mache ich nicht mit.

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