„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. Oktober 2023

Bilder, Zeichen, Wörter, Phänomene

Die ältere der beiden Traditionslinien, die die Semiotik Aleida Assmann zufolge bis heute bestimmen (vgl. „Im Dickicht der Zeichen“ (2023), S.14ff.), beruht auf dem Ähnlichkeitsprinzip und reicht in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurück (vgl. Assmann 2023, S.16). Zu diesen Traditionslinien siehe auch meinen Blogpost vom 03.07.2023.

Die ältere Traditionslinie brachte Schriftsysteme hervor, deren Zeichen Bilder sind, wie etwa die ikonischen Schriftzeichen der Chinesen und Japaner und andere ostasiatische Schriftsysteme. Die Hieroglyphen bilden einen Sonderfall, weil sie zwar auch aus ikonischen Schriftzeichen bestehen, die aber keine Bedeutungsträger sind, sondern Laute, insbesondere Konsonanten codieren. (Vgl. Assmann 2023, S.98f.) Wir haben es also eigentlich mit einer Konsonantenschrift zu tun.

Das Ähnlichkeitsprinzip, das den Zeichengebrauch im weitaus größeren Teil der Menschheitsgeschichte dominierte, bestand in einem tiefverwurzelten, noch heute virulenten Bedürfnis der Menschen, die Welt zu lesen. Die Welt so zu lesen bzw. zu deuten, daß wir etwas über unser unmittelbares Schicksal erfahren, was wir als nächstes tun sollen und wovor wir uns fürchten müssen.

Zeichen waren also anfangs Naturphänomene wie Wettererscheinungen, bestimmte Pflanzen und Tiere und dergleichen mehr. So ist es also kein Wunder, wenn zu den ersten kulturellen Zeugnissen kleine Skulpturen und Höhlenmalereien gehören. Diese Objekte und Bilder waren Zeichen, die Naturgegenstände abbildeten.

Günter Anders schreibt in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956), daß anders als gesprochene Worte und geschriebene Texte Bilder ihre S/P-Struktur verbergen. Mit S/P-Struktur meint er die grundlegende Syntax von Sprache, die darin besteht, daß von etwas (dem Subjekt des Satzes) etwas (ein Prädikat) ausgesagt wird. Auf diese Weise, so Anders, wissen wir bei der Sprache immer, woran wir sind, nämlich daß sie sich nur auf die Wirklichkeit bezieht, aber diese Wirklichkeit nicht ist.

Bei Bildern hingegen ist die Ähnlichkeit zwischen Bild und Wirklichkeit, etwa bei einer Photographie, so groß, daß wir nicht mehr erkennen, daß wir es auch hier mit etwas zu tun haben, das die Wirklichkeit, also das Subjekt, um das es im Bild geht, nur prädiziert. Denn die Photographin wählt ihren Gegenstand und den Blickwinkel und die Blende etc. sehr genau aus, bevor sie auf den Auslöser drückt. Möglicherweise arrangiert sie sogar den Hintergrund so, daß ihr Gegenstand auf die von ihr erwünschte Weise zur Geltung kommt.

Bilder haben also eine S/P-Struktur, auch wenn wir sie nicht ohne weiteres erkennen wie bei der gesprochenen Sprache. Deshalb haben wir es bei Bildern auch mit Sprachzeichen zu tun, es sei denn wir haben es mit einem abstrakten Kunstwerk zu tun, in dem alles Gegenständliche aus der Komposition entfernt wurde und das der erklärten Absicht des Künstlers zufolge niemand mehr etwas ,sagen‛ will.

Zugleich wird noch etwas deutlich. Ich verstehe mich selbst als Phänomenologen. Für mein Denken sind Phänomene wichtig. Sie bilden die Grundlage meines Denkens. Durch die Lektüre von Assmanns Buch habe ich folgendes gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.

Phänomene ,geben‛ sich. Das heißt: sie zeigen sich. Assmann nennt solche Phänomene „indexikalische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54) Wo sich was zeigt bzw. ,gibt‛, befinden wir uns im Bereich der Phänomenologie, und dieser Bereich bildet, richtet man sich nach Assmanns Definition, einen Teilbereich der Semiotik.

Bilder hingegen sind, so Assmann, „Repräsentationen“. Sie zeigen etwas, statt sich. Bilder hat jemand gemalt oder photographiert, um etwas zu zeigen. Sie sind „ikonische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54f.) Assmann zufolge wären also ikonische Zeichen, Bilder, keine Phänomene.

Inwiefern aber können Zeichen Symbole sein? Sie sind es so wenig, wie sie Wörter sind. Symbole können sowohl Wörter wie Bilder sein. Aber immer haben wir es bei Symbolen mit Sprachzeichen zu tun. Denn Bilder sind, obwohl sie ihre S/P-Struktur verbergen, Sprachzeichen. Im Grunde ist alles ein Symbol für irgendetwas, wie wir es von der älteren Traditionslinie der Semiotik kennen: alles hat Bedeutung, vom einfachen Kieselstein bis hin zu den vertracktesten kulturellen Ritualen. Auf sprachlicher Ebene sind Symbole Metaphern. Auf nicht-sprachlicher Ebene kann sich alles in ein Symbol verwandeln, sobald wir etwas in der Natur und in unserer Umwelt mit einer Bedeutung versehen.

So sehe ich das. Aber Assmanns Definition von Zeichen und Symbolen ist das genaue Gegenteil meiner Definition. Assmann dekretiert: „Ihre (die Symbole ‒ DZ) Verbindung zur Sache, die sie vertreten, ist intransparent und beruht ausschließlich auf einem stabilen Code.“ (Assmann 2023, S.55) ‒ Die Bedeutungsebene vom Bild weg auf einen abstrakten Code zu verlagern, entspricht nicht mehr der älteren Traditionslinie, sondern der jüngeren, insbesondere seit dem linguistic turn. Nur Zeichen, nicht Symbole, werden ausschließlich durch Codes begründet, die keinen Referenten mehr haben. Bedeutungen werden hier durch die arbiträre Logik der Zeichendifferenz generiert.

Der Begriff des Symbols, als eine Verbindung zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen (symbállein: zusammenwerfen, vergleichen), enthält immer einen Sinnbezug und ist deshalb referenziell. Das Symbol ist deshalb in erster Linie ein Sprachzeichen und kein Schriftzeichen. Auf der Ebene der Sprache sind Symbole Wörter bzw. Metaphern. Ansonsten sind sie alles, was für uns Bedeutung hat.

Horkheimer/Adorno bringen in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947/69/88) das semiotische Zeichenkonzept in folgendem Zitat auf den Punkt: „Je vollkommener nämlich die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr Worte aus substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchdringlicher werden sie zugleich.“ (DA, S.173)

Mit „Mitteilung“ spielen Horkheimer/Adorno auf den kybernetischen Informationsbegriff an. Sie warnen also vor der Gefahr, daß die Sprache in Informationsverarbeitung aufgeht.

Das ist das Problem mit den Semiotikern und übrigens auch mit den digitalen Technologien bis hin zur KI. Die Semiotiker zweckentfremden Begriffe, die bislang ganz wesentlich als Bewußtseinsbegriffe gedacht gewesen waren, um sie auf bewußtseinsfremde, mechanische Funktionen zu übertragen. So sollen Computerfunktionen eine Semantik haben. Und Computer ,kommunizieren‛ miteinander. Und Algorithmen bestehen plötzlich nicht mehr aus ganz auf ihre logische Funktion beschränkten, bedeutungsleeren Zeichen, sondern aus Symbolen.

Dies jedenfalls habe ich aus meiner Lektüre von Assmanns Buch gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.

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