„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 22. Oktober 2023

„Triggerpunkte“

1. Methoden und Begriffe
2. Ekel und Lebenswelt

Ich kaufte mir das Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, weil ich mir davon erhoffte, einiges über die Erzeugung und die Manipulation des Gruppenbewußtseins zu erfahren. Was das betrifft, wurde ich auch nicht enttäuscht. Darüberhinaus hatte ich beim Lesen aber auch wenig schmeichelhafte Begegnungen mit mir selbst. Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne sich beim Lesen über das übliche Maß hinaus zu engagieren und sich zu identifizieren oder sich zu distanzieren, und sich immer wieder ,getriggert‛ zu fühlen.

Bei mir war das insbesondere bei dem Abschnitt zu „Wir-Sie-Ungleichheiten“ der Fall (vgl. Mau u.a. 2023, S.158ff.), die die Autoren zu den ungesättigten Konflikten zählen, weil sie so neuartig sind, daß es für sie kaum oder keine etablierten Lösungsroutinen gibt. Dazu zählen insbesondere sexuelle Diskriminierungen und ihre Kategorisierung mittels sprachlich korrekter Formulierungen.

Insgesamt zählen die Autoren vier verschiedene Triggerpunkte auf, „neuralgische Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissenz, ja sogar Gegnerschaft umschlagen.“ (Mau u.a. 2023, S.246) Bei diesen Triggerpunkten handelt sich um „spezifische Erwartungen der Egalität, der Normalität, der Kontrolle und der Autonomie“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.248) Wenn diesen Erwartungen widersprochen oder zuwidergehandelt wird, schießen die Emotionen über.

Die vier Triggerpunkte verteilen sich über vier Konfliktfelder, und zwar trotz der Gleichzahl unabhängig vom jeweiligen Konflikt. Bei den vier Konfliktfeldern, die sich die Autoren aus vielen möglichen Konfliktfeldern ausgesucht haben, handelt es sich in ihrer Diktion um „Arenen der Ungleichheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.37ff.): also um die Arena der Oben-Unten-Gleichheiten (Reichtumsverteilung), die Arena der Innen-Außen-Ungleichheiten (Inländer/Migranten), die Arena der Wir-Sie-Ungleichheiten (Anerkennung/Ablehnung) und die Arena der Heute-Morgen-Ungleichheiten (Ökologie). Letztlich handelt es sich also bei allen vier Triggerpunkten um Ungleichheitserfahrungen, auf die Menschen besonders empfindlich reagieren.

Die Autoren zählen drei Methoden auf, mit denen sie ihr Thema bearbeiten. Sie greifen auf eigene empirische Arbeiten zurück und konsultieren darüberhinaus „Studien zur Konfliktstruktur westlicher Gesellschaften“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51) Außerdem haben sie eine bundesweite repräsentative Umfrage zu „Ungleichheit und Konflikt“ erhoben, um mit „strukturentdeckenden statistischen Verfahren ... übergreifende() Einstellungskomplexe hinter den Antworten der Befragten“ offenzulegen. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51f.) Drittens haben sie anhand des Vier-Arenen-Schemas Gruppendiskussionen „mit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen ideologischen Orientierungen“ durchgeführt. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.52f.)

Zwischen der zweiten und der dritten Methode gibt es, wie sich im Verlauf des Buches zeigt, konzeptuelle Unvereinbarkeiten, die etwas mit der methodischen Differenz zwischen Statistik und Phänomenologie zu tun haben. Wenn die Autoren von „strukturentdeckenden statistischen Verfahren“ sprechen, bewegen sich in einem Bereich, der sich, was die Motive betrifft, mit der Psychologie, und, was den Gestaltbegriff betrifft, mit der Phänomenologie überschneidet. Für sich genommen ist es durchaus legitim, mit Hilfe statistischer Methoden bislang unentdeckte Zusammenhänge zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Kontexten aufzuweisen. Mithilfe von Umfragen kann man Präferenzen und Einstellungen in der Bevölkerung belegen oder widerlegen, die für das politische Handeln bedeutsam sind.

Problematisch wird das dann, wenn statistische Aussagen über die Zuordnung von Aussagen zu bestimmten Gruppen (Querdenker, AFD-Wähler, Konservative, Liberale, Ökos, Feministinnen etc.) auf das Diskussionsverhalten einzelner Menschen (Verwendung von Argumenten, Hochschießen von Emotionen) übertragen werden. Das zeigt sich gerade in der Auswertung der von den Autoren durchgeführten Gruppendiskussionen. Im letzten Blogpost habe ich schon auf das von einer Diskussionsteilnehmerin verwendete Argument verwiesen, daß Anders-Sein und Anders-Behandeltwerden zwei verschiedene Dinge sind. Die Diskussionsteilnehmerin führt dieses Argument nicht diskursiv, sondern in emotionalisierter Form aus: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)

Die Emotionalisierung ist kein Grund den diskursiven Gehalt ihres Arguments abzuwerten, wie es die Autoren in der Folge machen. Sie nehmen die Äußerung der Diskussionsteilnehmerin als Beispiel für den Versuch, Abweichungen von der ,Normalität‛ abzuwehren. Es mag sein, daß dieses Argument statistisch gesehen bevorzugt von Menschen verwendet wird, die genau diese Absicht haben. Aber die Motive der Diskussionsteilnehmerin können anderer Art sein. Hinzu kommt, daß dieses Argument dem Artikel 3 des Grundgesetzes entspricht. Auch das Grundgesetz kann ein legitimes Motiv sein, sich so zu äußern.

Worauf ich hinauswill, ist, daß in Gruppendiskussionen verwendete Äußerungen vielfältig motiviert sind und sich nicht statistisch hinsichtlich einer bestimmten Einstellung auflösen lassen. Diesen Umstand haben die Autoren des Buches bei ihrer Auswertung nicht berücksichtigt.

Abgesehen von der Vereinbarkeit unterschiedlicher Methoden gehen die Autoren recht naiv mit grundlegenden Begrifflichkeiten um. Grundlegend für das Buch sind die Begriffe der Gleichheit und Ungleichheit. Diese Begriffe haben sehr unterschiedliche Inhalte, die von den Autoren nicht geklärt werden. Sie haben es versäumt, offenzulegen, in welcher Weise sie diese Begriffe verwenden wollen. Sie weisen zwar darauf hin, daß die verschiedenen Interessengruppen mit diesen Begriffen in sehr verschiedener Weise argumentieren: „Gerungen wird um die Ausdeutung dieser Egalitätserwartungen, die sowohl zur Untermauerung als auch zur Abwehr von Ansprüchen dienen können.“ (Mau u.a. 2023, S.252f.)

Aber dieser Umstand veranlaßt die Autoren leider nicht dazu, grundsätzlich zu klären, auf welcher Ebene eigentlich von Gleichheit und auf welcher Ebene von Ungleichheit die Rede sein soll. Gleichheit kann sowohl auf der Ebene von gleichen Werten (also Gleichheit innerhalb von Gruppen) als auch auf der Ebene von ungleichen Werten (also Gleichheit zwischen verschiedenen Gruppen) die Rede sein. Außerdem kann es bei der Gleichheit um das Verhältnis von Individualrechten und von Gruppenrechten gehen. Das sind drei verschiedene Hinsichten, die die Diskussion um das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit bestimmen können.

Tatsächlich werden diese verschiedenen Ebenen aber immer vermengt, sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft, wie das vorliegende Buch belegt. Aber die aktuell schwerwiegendste Verwirrung besteht in der Ungleichheit der Identitätszuschreibungen und der Gleichheit des Umgangs miteinander. Wenn eine Gesellschaft nicht auseinanderbrechen soll, muß sie bei aller Vielfalt (Ungleichheit) die Gleichheit der Umgangsformen einfordern. Eine Sonderbehandlung aufgrund von Andersartigkeit funktioniert nicht.

Das Beharren auf gleiche Umgangsformen hat nichts mit einem, wie die Autoren es pejorativ nennen, „restriktiv-universalistischen Verständnis von Gleichstellung“ zu tun (vgl. Mau u.a. 2023, S.203); und auch nichts mit einer, nicht minder pejorativ, „Gleichheitssemantik“ (vgl. Mau u.a.2023, S.251). Interessanterweise gibt es am Ende des Buches, buchstäblich auf der letzten Seite, eine Textstelle, wo die Autoren ein universalistisches Grundverhältnis von Gleichheit und Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Sie beschreiben „Medien, die Kommunen, die Zivilgesellschaft und das Vereinswesen“ als Orte, an denen es sich entscheidet, „ob unterschiedliche Gruppen als gleichberechtigt und in ihrer je eigenen Lebensweise als gleichwertig angesehen werden“. Und weiter heißt es: „Hier gestaltet sich das Miteinander der Unterschiedlichen und hier wird die Frage (mit) entschieden, inwieweit aus Unterschiedlichkeit Ungleichheit oder sogar Unwertigkeit hervorgeht.“ (Mau u.a. 2023, S.420)

Das ist die einzige Stelle in diesem Buch, die ich gefunden habe, in der die Gefahr angesprochen wird, die mit der Betonung der Unterschiedlichkeit für die Gleichheit des Umgangs miteinander verbunden sein kann.

Damit komme ich zum Schluß nochmal auf die „Kategorien“ zu sprechen, mit denen wir andere und uns selbst etikettieren. Beim Gendern und beim Versuch, Rassifizierungen zu vermeiden, kommt heute alles darauf an, die korrekten Bezeichnungen zu verwenden. Nun gibt es natürlich Menschen, denen die Autoren „Kategorienblindheit“ vorwerfen (vgl. Mau u.a. 2023, S.193); anderen bescheinigen sie „Kategorienunsicherheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.192). Die einen verweigern also ihren Mitmenschen den ihnen gebührenden Respekt („Respekttoleranz“; vgl. Mau u.a. 2023, S.181ff.), die anderen sind zu bedauern. Vielmehr fällt den Autoren nicht dazu ein.

Interessanterweise wird diese hochpolitisierte Etikettierungsproblematik von den Autoren an anderer Stelle, wo sie mit Bezug auf „Sozialfiguren“ von einer „hochgradig verzerrte(n), ja ,schubladisierten‛“ Denkweise sprechen (vgl. Mau u.a. 2023, S.326), implizit in Frage gestellt. Der Zusammenhang mit der Kategorienproblematik beim Gendern und beim Vermeiden von Rassifizierungen wird von ihnen aber nicht explizit gemacht.

Tatsächlich geht es hier um den Kern dessen, was wir unter Emanzipation verstehen sollen. War Emanzipation einmal mit einem Denken und mit einer Lebensführung verknüpft gewesen, die das Kategorisieren von Menschen und Gruppen vermeiden, so ist heute das Gegenteil der Fall. Es geht hier nicht einfach nur um Psychologie, also um die Frage, ob ich mich in meiner ,Haut‛ wohlfühle. Es geht vielmehr um die Frage, wieweit und aus welchen Gründen ich mich selbst und andere, qua Etikettierung, einzuschränken bereit bin.

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