„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Infrastrukturen sind äußerst effektive Synchronisierungsinstrumente, weshalb sie auch gerne von den verschiedensten politischen Regierungssystemen in Gebrauch genommen werden:
„Ausmaß und Funktionalität der Infrastrukturen werden bis heute mit Ordnung und guter Regierung in Verbindung gebracht, oft sogar damit gleichgesetzt.“ (Van Laak 2018, S.11)
Allerdings haben sie die ambivalente Tendenz, von beiden Seiten, Herrschern und Beherrschten, genutzt werden zu können und so umgekehrt wiederum bestehende Regime zu bedrohen. Letztlich mußte also auch der Gebrauch der Infrastrukturen durch die Nutzer kontrolliert werden. So gab es zwar im real existierenden Sozialismus Telephone, aber nicht sehr viele, und wer telephonieren wollte, mußte dorthin gehen, wo es eins gab:
„Man kann den Eindruck gewinnen, der Ausbau mobilisierender Infrastrukturen wie des Telefonnetzes sei im Realsozialismus künstlich verzögert worden, um die Gesellschaft kontrollierbarer zu halten.“ (Van Laak 2018, S.131)
Telephone waren im Ostblock nicht dazu gedacht, soziale Kommunikation zu ermöglichen, sondern Anweisungen möglichst effektiv und schnell an die Frau oder den Mann zu bringen:
„Schon in den frühen sowjetischen Filmen ist das Telefon zwar allgegenwärtig. Es erscheint aber fast ausschließlich als ein Apparat, um zentral durchgestellte Befehle zu empfangen, nicht als Medium einer selektiven Annäherung und des sozialen Austauschs.()“ (Van Laak 2018, S.82)
Aber auch im kapitalistischen Westen wurde das Telephon anders genutzt, als es die Anbieter ursprünglich vorgesehen hatten. Es waren vor allem die Frauen, die das Telephon für sich in Anspruch nahmen:
„Im Grunde wurde das Telefon jedoch von den Nutzern zu einem großen Teil entgegen den eigentlichen Absichten und Angeboten der Telefongesellschaften angeeignet. Als besonders attraktiv wurde offenbar die gleichsam intime Nähe trotz körperlicher Distanz empfunden. ... Die Möglichkeit zur Kontaktpflege über das Telefon haben wiederum vornehmlich Frauen aufgegriffen. Sie scheinen sich diese Möglichkeit auch deswegen angeeignet zu haben, weil das Telefon quasi aus der Küche heraus die distanzierte Pflege von Kontakten erlaubte.“ (Van Laak 2017, S.81f.)
Damit sind wir beim Thema dieses Blogposts: es geht hier um die divergierenden Interessen der Nutzer, die oft genug auch Nutzer wider Willen sind und sich sogar gelegentlich offensiv ganz verweigern. Ich möchte sie summarisch als ‚Anachronisten‘ bezeichnen, weil es sich, wie eingangs schon erwähnt, bei den Infrastrukturen um Synchronisierungsinstrumente handelt, und diese renitenten ‚Nutzer‘ sich einer solchen Synchronisierung widersetzen.

Von diesen Anachronisten hat es von Anfang an mehr gegeben, als mancher Zeitgenosse heute glauben mag. Allerdings ist ‚Anachronismus‘ ein weitgefaßter Begriff und umfaßt auch solche Leute, die wie die Reichsbürger noch immer am Kaiserreich festhalten wollen. Wenn wir uns in der heutigen sich zunehmend fragmentierenden Gesellschaft umsehen, können wir den Eindruck gewinnen, daß sie praktisch nur noch aus Anachronisten besteht, so daß die reale Gefahr besteht, daß die Gesellschaft völlig auseinanderfällt. Aber wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest, daß dies nur oberflächlich so ist. Tatsächlich benutzen ‚Anachronisten‘ aller Couleur, einschließlich den islamischen Fundamentalisten, Handys und Smartphones und sind deshalb letztlich doch mit der technologisch-wirtschaftlichen Entwicklung synchron.

Immerhin haben diese Fundamentalisten etwas verstanden, was die vorherrschende westliche Wohlstands- und Wachstumsrhetorik immer wieder zu kaschieren versucht. Die Nutzung der westlichen ‚Errungenschaften‘ zerstört alt hergebrachte Lebensformen in den nicht-westlichen Kulturen. Deren ‚Beglückung‘ mit Eisenbahnen und Staudämmen diente im 19. Jahrhundert allererst der Plünderung ihrer Ressourcen, was in Kolonisierungsdiktion auch als „Inwertsetzung“ unproduktiver Gebiete bezeichnet wurde:
„... so verfolgte die imperiale Expansion der Europäer vor allem die Absicht, die fernen Gebiete ‚in Wert‘ zu setzen. Das bedeutete, sie einer Produktivität zu unterwerfen, die dem von Wachstum und Fortschritt geprägten Denken Europas entsprach.“ (Van Laak 2018, S.138)
Der kapitalistisch geprägte Begriff der Produktivität entsprach aber nicht dem, was die indigenen Bevölkerungen unter Produktivität verstanden. Die von den Kolonisatoren angestrebte Inwertsetzung bestand also darin, deren ‚anachronistischen‘ Lebensformen mit der eigenen zu synchronisieren:
„Wer sich nicht beugte, wurde als bedauerliches Opfer am Wegesrand des Fortschritts betrachtet oder gar als Angehöriger einer ‚unproduktiven Rasse‘ dem Aussterben überantwortet.“ (Van Laak 2018, S.138)
Aber nicht nur in der exotischen Fremde galt es, solche Anachronisten zu kolonisieren. Jürgen Habermas spricht auch von einer Kolonialisierung der Lebenswelten mitten in der ‚ersten‘ Welt. Das war schon von Anfang an so: der Kapitalismus begann mit einer ursprünglichen Akkumulation, also mit der räuberischen Aneignung der Allmenden, der Commons, die die Lebensgrundlage der ‚vormodernen‘ Landbevölkerung bildeten. Durch diese räuberische Aneignung heimatlos geworden, mußte die Landbevölkerung sehen, wo sie blieb, und wurde zum Proletariat, das sich nun nach Karl Marxens Auffassung auf der Höhe der Zeit befand und das Subjekt einer radikalen Technisierung der Gesellschaft bilden sollte.

Auch hier verweigerten sich Anachronisten wie die Amish-Peoble, die van Laak auch als „Anabaptisten“ bezeichnet:
„Anabaptisten wie die Amish, die Hutterer, die Mennoniten, aber auch die orthodoxen Juden streben nach einem Leben jenseits weltlicher Annehmlichkeiten.“ (Van Laak 2018, S.142)
Diese Anababtisten bzw. Baptisten verweigerten sich radikal den in den letzten zwei, drei Jahrhunderten entwickelten Technologien. Von hier ist der Weg gar nicht mehr so weit bis zu der „ländlich-isolierte(n) Lebensweise“ von „alternative(n) Lebensformen“ in den USA und in Europa (vgl. van Laak 2018, S.142), deren Technologie-Verweigerung zwar nicht so radikal ausgeprägt ist, die aber an älteres Wissen anknüpfen, „das sich auf ökologische Praxen des vorindustriellen Zeitalters besinnt und sie zeitgemäß interpretiert“. (Vgl. van Laak 2018, S.155) Auch das ist Anachronismus: das Zurückblicken auf früher schon mal Gewußtes und das Vorausblicken auf bevorstehende Herausforderungen, um aus den beharrenden Zwängen der Gegenwart auszubrechen und neue Wege zu eröffnen. Das ist im besten Nietzscheschen Sinne ‚unzeitgemäß‘.

Die Geschichte der Infrastrukturierung der us-amerikanischen und europäischen Gesellschaften wird also von Anfang an von Konflikten begleitet, die potenzielle Nutzer verursachten, die sich dem Anschluß an die infrastrukturelle Moderne zu verweigern suchten. Solche Verweigerungsversuche gingen sowohl von indigenen Bevölkerungen wie auch von Betroffenen in der ‚ersten‘ Welt selbst aus. Die Anbieter (Energiewirtschaft) versuchten solche Widerstände mit der üblichen Rhetorik einzudämmern und mehr oder weniger gewaltförmig mundtot zu machen. (Vgl. van Laak 2018, S.77) Geschickter ging da John D. Rockefeller vor, der bei einer Campagne in China kostenlos Petroleumlampen verteilte, „um die Abnehmer auf eine dauerhafte Belieferung durch seine Standard Oil zu eichen“. (Vgl. van Laak 2018, S.79) Das wurde zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Aktionen bis in die Gegenwart hinein.

Anachronisten gibt es in unserer Gegenwart auf vielen verschiedenen Ebenen, wie etwa die „Maulwurfsmenschen“, die zum Teil freiwillig, zum Teil unfreiwillig in Kanal- und U-Bahnschächten New Yorks leben und so paradoxerweise einerseits die vorhandenen Infrastrukturen, wenn auch zweckentfremdet, nutzen, sich aber andererseits den infrastrukturellen ‚Annehmlichkeiten‘ des oberirdischen Getriebes entziehen. (Vgl. van Laak 2018, S.253) Tatsächlich gibt es inzwischen sogar Cafés, die technikfreie Räume anbieten, in denen gestreßte Zeitgenossen eine Pause machen können vom Druck der permanenten Erreichbarkeit und vom Zwang, ständig Entscheidungen treffen zu müssen:
„Seit 2014 stellt das Café Seymore+ in Paris ein Offline-Versteck ohne Anschluss bereit. Dieses soll eine technikfreie Zone sein, unplugged und ohne Smartphones, in denen inzwischen das gesamte Berufs- und Privatleben zusammenfließt. Als neues Trendwort der digital junkies, an die sich das Angebot hauptsächlich richtet, gilt die mindfulness, also die Achtsamkeit für sich selbst und für andere.()“ (Van Laak 2018, S.253)
Inzwischen bezeichnen Geologen das Industriezeitalter als „Anthropozän“. (Vgl. van Laak 2018, S.271) Die Anachronisten des Anthropozäns, wie ich sie verstehe, sind nicht damit einverstanden, daß der Mensch den Planeten nach seinem Bilde geformt hat. Sie geben sich auch nicht mit der Tatsache ab, daß sich das nicht mehr ändern läßt. Sie wollen der Erde wieder mehr Raum zum Atmen geben, was bedeutet, daß die Menschen lernen, sich in Reservate zurückzuziehen und auf eine umfassende Ausplünderung der planetarischen Ressourcen zu verzichten.

Letztlich hält van Laak fest, daß unsere Gegenwart selbst durch einen fundamentalen Anachronismus gekennzeichnet ist, der darin besteht, „dass unser Erfahrungsraum sich noch in der infrastrukturisierten Hochmoderne bewegt, während unser Erwartungshorizont bereits auf eine Epoche vorausweist, in der wir sehr viel grundlegender umdenken und unsere Routinen nachhaltig ändern müssen“. (Vgl. van Laak 2018, S.276)

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Samstag, 2. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Phänomenologen befassen sich mit dem Sichtbaren und seinen Rückseiten, ohne die es das Sichtbare nicht gibt; und mit den Hintergründen, aus denen es hervortritt und in die es zurückweicht. Es gibt keine Phänomene ohne das Unsichtbare. Und für die lebensweltlichen Phänomene gilt sogar, daß sie immer unsichtbar sind und sich zeigen, indem sie sich auf unterschiedliche Weisen nicht zeigen. Auch für die Thematik von Dirk van Laaks Buch „Alles im Fluss“ (2018), für die „Infrastrukturisierung“ der Hochmoderne (vgl. van Laak 2018, S.154 und S.286), spielen die verschiedenen Varianten des Unsichtbaren eine so gewichtige Rolle, daß es gerechtfertigt ist, die Infrastruktur als das technokratische Gegenstück zum phänomenologischen Begriff der Lebenswelt zu bezeichnen.

Van Laaks Methode weist dem Unsichtbaren eine wichtige Funktion zu. Es geht dem Historiker nicht um die großen Geschichtszeichen von Politikern, Unternehmern, Erfindern oder Gesellschaftsreformern, sondern um die „alltäglichen Routinen“ im Umgang mit Infrastrukturen, deren sich die jeweiligen Zeitgenossen in den verschiedenen geschichtlichen Epochen oft gar nicht bewußt sind, und für diese „Gebrauchsgeschichte“ ist „das Unsichtbare oft wichtiger als das Sichtbare“. (Vgl. van Laak 2018, S.21)

Beides, die Unsichtbarkeit von Gegenständen – Heidegger spricht von der Zuhandenheit des Zeugs – und die Unmerklichkeit des Umgangs mit ihnen, bildet wesentliche Momente einer genuin phänomenologischen Konzeption des Mensch-Weltverhältnisses:
„Es gehört zu den hervorstechenden Merkmalen der Infrastrukturen, dass sie sich meist rasch in die alltäglichen Routinen ihrer Nutzer einschleichen. Insofern stellen sie so etwas wie das kollektive Unterbewusste dar, eine entlastende Voraussetzung für weitergehende kreative und zerstreuende Tätigkeiten.“ (Van Laak 2018, S.284)
Dabei schwankt der phänomenale Status der Infrastrukturen je nach dem, wie gut sie funktionieren, bis hin zu den spektakulären Momenten, wo sie vollständig ausfallen (vgl. van Laak 2018, S.229ff.); ein weiteres Merkmal auch der Lebenswelt, deren wir uns immer erst dann bewußt werden, wenn wir aufgrund von Krisen oder Unglücksfällen aus ihr herausfallen:
„Wenn sie (die Infrastrukturen – DZ) aber sichtbar werden oder ins Bewusstsein treten, ist dies oft mit Ärger verbunden, so wenn das, was fließen soll, ins Stocken gerät, wenn die Preise überhöht erscheinen oder wenn Ressourcen oder Gelder offenkundig verschwendet werden. Die Sichtbarkeit von Infrastrukturen reicht vom Unmerklichen bis zum großen Spektakel, mit sämtlichen Schattierungen dazwischen.()“ (Van Laak 2018, S.185)
Aber nicht nur die ‚Vulnerabilität‘ zusammenbrechender Infrastrukturen trägt zu deren variierenden Sichtbarkeit bei. Infrastrukturen haben darüberhinaus Lebenszyklen. (Vgl. van Laak 2018, S.202ff.) Sie können veralten und werden dann entweder abgebaut und verschwinden vollständig, oder sie werden überbaut und bilden Schichten, quasigeologische Ablagerungen, über die sich immer neue Infrastrukturen legen:
„Neue Technologien legen sich gleichsam über die alten, sie werden ‚überplant‘ und schaffen, wie beim Internet in Bezug zum Telefonnetz, ein Overlay-Netzwerk, bis auch dieses durch ein neues Netz, etwa die Breitband- und Glasfaserkabel, abgelöst wird.()“ (Van Laak 2018, S.208)
Dabei geht das Wissen um die älteren Strukturschichten oft verloren, was dann bei späteren Grabungen entsprechende Überraschungen verursacht:
„Der genaue Verlauf der unterirdischen Leitungen wurde dabei in aller Regel nur unvollständig dokumentiert und noch seltener zentralisiert zugänglich gemacht. Seither kann jede Grabung, jeder Weg in den Untergrund – beziehungsweise das Unterbewusste der Städte – für Überraschungen sorgen.()“ (Van Laak 2018, S.67)
Van Laak spricht hier zurecht vom „Unterbewussten der Städte“, denn auch das menschliche Bewußtsein bildet Schichten, zu denen die verschiedenen biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklungsebenen des Unterbewußten gehören; ein weiterer Grund also, warum das methodische Vorgehen des Historikers van Laak als phänomenologisch bezeichnet werden kann.

Bekannterweise gibt es zahlreiche Nostalgiker, die technische Relikte, wie etwa Oldtimer, aus früheren Zeiten sammeln und restaurieren:
„An ihnen offenbaren sich zeitliche Schichtungen, an sie heften sich nostalgische Erinnerungen an Tempi passati. Alte Bahnhofsgebäude und Oldtimer, die letzten Doppeldeckerbusse Berlins, ältere Computer oder Handys sind sichtbare Relikte einer früheren Zeitschicht.“ (Van Laak 2018, S.203)
Auffällig dabei ist allerdings, daß sich diese Nostalgien selten auf die Infrastrukturen selbst richten, nicht einmal dann, wenn es sich dabei um mal gelbe, mal rote Telephonzellen handelt. Denn bei diesen Telephonzellen handelt es sich wie bei Pilzen nicht um den ‚Pilz‘ selbst, dessen unterirdisches Geflecht unserer Aufmerksamkeit entgeht, sondern um die ‚Fruchtkörper‘, sprich: ‚Endgeräte‘, also um die eigentlichen Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Allenfalls die „Aus- und Einstiege in die Netze“ (van Laak 2018, S.203), also das Verlegen von Kabeln oder der Rückbau von Straßen, erregen punktuell unsere Aufmerksamkeit, werden dann aber auch gleich wieder vergessen.

Noch ein weiterer Aspekt der prekären infrastrukturellen Sichtbarkeit besteht darin, daß Infrastrukturen nicht nur selbst unauffällig sind, sondern auch unsichtbar machen können, wie im Falle der New Yorker „Maulwurfsmenschen“: vorwiegend Obdachlose, aber auch Vietnamveteranen, makrobiotische Hippies, Cracksüchtige, kubanische Flüchtlinge, verurteilte Mörder, Computernerds, philosophierende Einsiedler etc., die sich übergangsweise in die „Gas-, Elektrizitäts-, Kanal- und Eisenbahnschächte() unterhalb New Yorks“ zurückziehen. (Vgl. van Laak 2018, S.253) Wir haben es also bei diesem ‚Untergrund‘ mit einer modernen Version einer ‚Höhle‘ zu tun, was an Platons Höhlengleichnis erinnert und eine Parallele zur Nutzung gewisser ‚Endgeräte‘, wie etwa den Smartphones, erlaubt, die man auch als tragbare Höhlen bezeichnen könnte, die ihre bis in beide Ohren verkabelten Nutzer sogar dann von der Welt abschirmen, wenn diese Nutzer sich draußen durch den Stadtverkehr oder joggend durch die Natur bewegen.

Da fragt man sich, wer die eigentlichen Höhlenbewohner sind: möglicherweise nicht die Maulwurfsmenschen.

Ein letztes Merkmal der prekären Sichtbarkeit von Infrastrukturen, auf das van Laak in seinem Buch zu sprechen kommt, bildet die öffentliche Hand, die an die Stelle der unsichtbaren Hand des Marktes getreten ist, wie sie Adam Smith beschrieben hat. (Vgl. van Laak 2018, S.62) Diese öffentliche Hand finanziert den Ausbau der Infrastruktur und nutzt dabei die Tendenz infrastruktureller Neuerungen, sogleich im ‚Untergrund‘ zu verschwinden und unsichtbar zu werden, zur „Camouflage“, also zur Kaschierung von Partikularinteressen und Korruption, die von der Tendenz unterstützt wird, daß „(i)mmer umfassender zugängliche Infrastrukturen ... immer unmerklicher zur Verfügung gestellt (werden)“. (Vgl. van Laak 2018, S.287)

Neue Infrastrukturen werden selten, eigentlich nie, aufgrund demokratischer Entscheidungen unter Einbeziehung aller vom Bau dieser Infrastrukturen Betroffenen eingeführt. Indigene Bevölkerungen mußten gigantischen Infrastrukturbauten weichen, wie etwa beim Eisenbahnbau in den USA (19.Jhdt.), bei Staudämmen oder bei Straßen durch den Amazonas. Nicht nur in Diktaturen, auch in Demokratien werden Infrastrukturprojekte in dunklen Hinterzimmern beschlossen, wo Profitinteressen ausgehandelt werden. Die Debatten im Bundestag sind dann nur noch Camouflage. So tritt die „öffentliche Hand“ an die Stelle der „unsichtbaren Hand“ des Marktes, ohne dadurch allerdings an Sichtbarkeit (Transparenz) zu gewinnen.

Das Argument ist immer wieder die Fürsorge des Staates. Die sogenannte ‚Daseinsvorsorge‘. Das paternalistisch fürsorgliche Verhalten des Staates ist vorgeblich am Gemeinwohl ausgerichtet. Aber schon von Beginn an betrieb der Kapitalismus (Stichwort ‚ursprüngliche Akkumulation‘) mit diesem Gemeinwohl sein eigenes perfides Spiel. Das ist die bislang letzte Drehung in der Spirale einer durchgehenden Infrastrukturierung, die aufgrund ihrer phänomenalen Eigenschaften zur scheinbar perfekten Falle für das auf seine Souveränität so stolze Bürgerbewußtsein geworden ist, einer Falle, an der die Bürger selbst unbewußt mitarbeiten. Gäbe es nicht Geschichtssignale wie „Greenwich-Village“ in den 1960er Jahren (vgl. van Laak 2018, S.124), die jahrzehntelange, mehrere Generationen umfassende Anti-Atomkraftbewegung oder heute Stuttgart 21 und den Hambacher Forst, möchte man an der Möglichkeit, dieser Falle zu entkommen, verzweifeln. Auf dieses Thema werde ich im dritten und letzten Blogpost noch einmal zurückkommen.

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Freitag, 1. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Dirk van Laak bezeichnet in seinem Buch „Alles im Fluss“ (2018) Infrastrukturen als „Fließräume, in die wir uns im Bedarfsfall einklinken, indem wir das Leitungswasser laufen lassen, den Strom anschalten, die Bahn besteigen und ins Internet gehen“. (Vgl. van Laak 2018, S.13) Das verweist zum einen auf ein wichtiges Funktionsmerkmal von Infrastrukturen, nämlich eine möglichst umfassende Zirkulation von „Menschen, Waren und Ideen“ zu gewährleisten. (Vgl. van Laak, S.51) Zum anderen erinnert das Wort ‚Fließraum‘ an die natürlichen Urbilder der heutigen technischen Infrastrukturen, nämlich Flüsse und Meere:
„Die Seeschifffahrt wird in ihrer Bedeutung für die Zirkulation von Gütern, gerade in der Gegenwart, oft unterschätzt.“ (Van Laak, S.38)
Ähnlich wie Fluglinien und Zugfahrpläne (und parkende PKWs an Straßenrändern und in Garagen) halten das fließende Wasser in den Flüssen und die Winde auf den Weltmeeren Bewegung vor, in die sich Reisende und Güter „im Bedarfsfall einklinken“ können. Dabei prägen diese natürlichen Infrastrukturen ein weiteres Merkmal der heutigen technischen Infrastrukturen vor: sie halten sich nicht an Grenzen. Sie geben an ihre Nutzer einen „grenzüberschreitende(n) Impuls“ weiter, der zum Mantra eines „technokratische(n) Internationalismus“ geworden ist. (Vgl. van Laak 2018, S.102f.) Die heutigen technischen Infrastrukturen stehen im Dienste eines kapitalistisch geprägten Globalismusses, der sich wenig um die regional divergierenden Lebensweisen und Lebensnöte derjenigen schert, die seinen Profitinteressen im Wege stehen, so wenig wie er sich Gedanken über die Begrenztheit von Ressourcen macht, zu deren größtmöglich effektiven Plünderung diese technischen Infrastrukturen ja beitragen sollen.

So steht der grenzüberschreitende Impuls der heutigen technischen Infrastrukturen ineins mit einem globalisierten Kapitalismus für ein uneingeschränktes Wirtschaftswachstum, ein Konzept, das, wie van Laak schreibt, „aber nicht ohne Grund auf dem Prüfstand (steht)“. (Vgl. van Laak 2018, S.12)

Ebenfalls nicht ohne Grund ist hier bisher von den ‚heutigen technischen Infrastrukturen‘ die Rede gewesen. Van Laak macht von Beginn an klar, daß es ihm in seinem Buch nicht um vormoderne Infrastrukturen geht, wie etwa die Fernstraßen Roms und Japans, die chinesischen Kanalnetze, die Bewässerungssysteme in Ägypten, Indien und Mittelamerika oder die zentralasiatische Seidenstraße. (Vgl. van Laak 2018, S.17) Es geht ihm vielmehr um ein bestimmtes neuzeitliches Infrastrukturkonzept, das vor allem der Infrastrukturentwicklung seit dem 18. Jhdt. in Europa und Nordamerika zugrundegelegen hat. Dieses Infrastrukturkonzept weist bestimmte Merkmale auf, an die die Technokraten und mit ihnen die kapitalistische Gesellschaftsordnung – mit durchaus unterschiedlich ausgeprägter ‚Beteiligung‘ der Bevölkerung – geglaubt haben wie an religiöse Dogmen.

Bei diesen Merkmalen handelt es sich allererst um die umfassende Inklusivität von Infrastrukturen:
„Von ‚Infrastrukturen‘ soll hier – gerade in Abgrenzung zu früheren Stadien der Verkehrserschließung, des Informationsaustauschs oder der Fürsorge – daher erst dann gesprochen werden, wenn tendentiell eine Mehrzahl an Menschen im Alltag auf entsprechende Einrichtungen tatsächlich zugreift.“ (Van Laak 2018, S.17f.)
Niemand soll von ihrer Nutzung ausgeschlossen sein, was bei den vormodernen Infrastrukturen van Laak zufolge nicht der Fall gewesen war, da ihre Nutzung „auf repräsentative oder wohlhabende Nutzer beschränkt“ geblieben sei. (Vgl. van Laak 2018, S.80f.) Ein weiteres Merkmal dieses modernen Infrastrukturkonzepts habe ich schon erwähnt: es bildet eigentlich einen Merkmalskomplex, das
  • aus der Vorstellung von der Notwendigkeit einer umfassenden „Zirkulation von Gütern, Menschen und Ideen sowie einer möglichst gleichmäßigen Versorgung und Kommunikation aller Bürger“ (vgl. van Laak 2018, S.17.),
  • aus einer mit den technischen Infrastrukturen verbundenen, gleichermaßen Grenzen überschreitenden wie Grenzen auflösenden Tendenz (vgl. van Laak 2018, S.102ff.)
  • und aus einem mit den Infrastrukturen  verbundenen, ebenfalls unbegrenzten Wirtschaftswachstum (vgl. van Laak 2018, S.12, 14, 59)
besteht, mit dem die europäischen Kolonialmächte meinten – im Glauben, einer „Zivilisierungsmission“ zu folgen –, auch den Rest der Welt beglücken zu müssen (vgl. van Laak 2018, S.138).

Die zunächst innere Infrastrukturierung der nationalen Gesellschaften Europas und dann ihre Ausdehnung auf den ‚Rest‘ der Welt wurde zudem ideologisch mit bis heute immer gleichen und wiederkehrenden Argumenten gerechtfertigt. Demnach ging es im 19. Jhdt. mit den Eisenbahnen und dem Telegraphen, im 20. Jhdt. mit dem Automobil und aktuell im beginnenden 21. Jhdt. mit dem Smartphone vor allem um die Verwirklichung der demokratischen Ideale der Aufklärung und des bürgerlichen Liberalismusses (vgl.i.f. van Laak 2018, S.254):
  • um die „Unabhängigkeit von räumlichen und sozialen Begrenzungen“,
  • um die „Souveränität des Konsumenten“,
  • um die „informationelle Selbstbestimmung“,
  • um die „flexible Entfaltung zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit“
  • und um die Autonomie „sich selbst regulierender Individu(en)“.
Marx hatte in diesem Sinne Wilhelm von Humboldts neuhumanistischen Bildungsbegriff in das Konzept einer polytechnischen Bildung umgemünzt.

Die hier aufgezählten Merkmale des modernen Infrastrukturkonzepts entstanden also zeitgleich „mit der Aufklärung, den Revolutionen in den USA und in Frankreich, mit der industriellen Revolution, mit dem liberalen Wirtschaftsbürgertum und der modernen Massengesellschaft“. (Vgl. van Laak 2018, S.17)

Van Laak zeigt zugleich mit den, mit dem Infrastrukturkonzept und seiner Umsetzung verbundenen, technischen und wohlfahrtsstaatlichen Forschritten deren Schattenseiten auf. Dazu gehört z.B. eine spezifische, der Verknüpfung von Zirkulation und Wachstum geschuldete Blindheit des modernen Infrastrukturkonzepts für die durch Produktion und Konsum erzeugten Gifte, für den Müll und für die Abgase. (Vgl. van Laak 2018, S.149ff.) Diese ‚Ausscheidungen‘ fielen lange Zeit aus der Zirkulation von „Menschen, Waren und Ideen“ heraus und verschwanden im Boden oder in der Luft, ohne daß es jemanden kümmerte:
„Allmenden wie das Wasser, der Boden oder die Luft wurden aber weiterhin ungeniert als Depots für belastende Stoffe benutzt, die dort diffundieren sollten.“ (Van Laak 2018, S.154)
Auf die Problematik eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums wurde schon kurz hingewiesen. Eine fundamentale Frage hinsichtlich der weiteren Entwicklung in den kommenden Jahren wird deshalb sein, wie van Laak in seiner „Zwischenbilanz“ festhält, inwiefern sich die „Verfügbarkeit von Infrastrukturen“ von dem „Konzept der industriellen Wachstumsmoderne“ trennen läßt und inwiefern sich „die globalen Lebensgrundlagen schonendere Alternativen denken und vor allem auch etablieren lassen“. (Vgl. van Laak 2018, S.287)

Zu ergänzen wäre die Frage, ob Infrastrukturen so konzipiert werden können, daß sie weniger inklusiv sind, so daß ‚Nutzer‘ die Chance haben, sich gegen ihre Nutzung zu entscheiden. Denn hier haben wir es mit einer weiteren Schattenseite der modernen Infrastrukturentwicklung zu tun. Van Laak zeigt an zahlreichen Beispielen, wie Infrastrukturen an den Bedürfnissen von Nutzern vorbei und immer wieder auch eindeutig gegen ihre Interessen installiert wurden. Beliebtes ‚Argument‘ bei ihrer Durchsetzung war immer wieder das „Gemeinwohl“-Interesse, dem sich einzelne renitente Bürger zu beugen hätten. (Vgl. van Laak 2018, S.21, 23, 43) Dabei wurde den Infrastrukturen eine ‚neutrale‘, unpolitische Funktion unterstellt, so daß diejenigen, die sich für ihren Ausbau einsetzten, sich selbst den Anschein eines überpolitischen Engagements geben konnten:
„Ansonsten handelt es sich um einen Politikbereich, der sich oft ausdrücklich unhistorisch, ja unpolitisch gibt, weil er für sich beansprucht, keine spezifischen Interessen zu betreffen, sondern der Allgemeinheit und dem Gemeinwohl zu dienen. Dieses zeit- und politikferne Labeling ist ein integraler Bestandteil des Konzepts Infrastruktur.“ (Van Laak 2018, S.21)
Zu den Opfern einer so begründeten Planungs- und Entscheidungshoheit gehörten an prominenter Stelle die Indianer, die dem us-amerikanischen Eisenbahnbau im 19. Jhdt. weichen mußten (vgl. van Laak 2018, S.41f.), und bis heute gehören dazu indigene Bevölkerungen des Amazonas und anderswo auf der Welt, die von gigantischen Staudammbauten entwurzelt werden und deren Lebensräume von Straßenbauprojekten fragmentiert werden. Aber auch in Europa selbst verweigerten sich oft regionale Nutzer dem Anschluß an neue Infrastrukturen, wie z.B. an die Stromversorgung:
„Die Energieanbieter bemühten sich zunächst, Konflikte zu umgehen, indem sie im Vorfeld aufzuklären versuchten. ... Waren die Widerstände renitent, wurde zunächst meist nachverhandelt. Nutzte auch dies nichts, wurden oft unverständlich schwadronierende Experten aufgefahren, die mit Sachzwängen argumentierten. Beeindruckte auch das nicht, drohten die Gesellschaften mit rechtlichen Schritten oder damit, die Widerständigen vom künftigen Strombezug auszuschließen.()“ (Van Laak 2018, S.77)
Während des Nationalsozialismusses wurde ein Energiewirtschaftsgesetz geschaffen, das einen „Anschlusszwang für die Nutzer sowie eine Anschlusspflicht für die Anbieter“ durchsetzte. (Vgl. van Laak 2018, S.111) Noch drastischer wirkt sich eine bis zum Beginn des 19. Jhdts. zurückreichende Reihe von Enteignungsgesetzen aus, auf deren Grundlage im Zuge des Braunkohletagebaus in Nordrhein-Westfalen die Bevölkerungen ganzer Dörfer enteignet und vertrieben wurden, selbstverständlich im besten Gemeinwohlinteresse. Wie üblich begründete der Betreiber RWE die Abholzung des Hambacherforstes zunächst mit dem allgemeinen Interesse an einer gesicherten Stromversorgung und offenbarte dann angesichts eines gerichtlichen Rodungsverbots das eigentliche Motiv, indem er sich öffentlich über die zu erwartenden Gewinnverluste beklagte.

Beeindruckend sind van Laaks Schilderungen der Interessenkonflikte, die bei der Planung und der Realisierung von Infrastrukturen aufeinanderprallen auch deshalb, weil diese Vorzeigeprojekte der industriellen Moderne, diese vielgepriesenen Ingenieursleistungen, viel weniger rational umgesetzt wurden und werden, als die Politik uns gerne glauben machen möchte. Tatsächlich werden mit den üblichen, schon genannten Argumentationsschablonen nur die verschiedenen Partikularinteressieren camoufliert:
„Die heutigen Infrastruktur-Netze sind das Resultat von unzähligen Entscheidungen im Schnittfeld von Technik, Wirtschaft und Politik, von individuellen und partikularen Interessen. Es finden sich außerdem stets Konstellationen des Augenblicks oder des Zufalls darin.“ (Van Laak 2018, S.281)
Die Realisierung von Infrastrukturprojekten ist deshalb ein ständiger Kampf mit divergierenden Partikularinteressen, wofür nicht zuletzt Stuttgart 21 steht. Van Laak verweist auf den erfolgreichen Widerstand der Stadtbevölkerung der Bronx in den 1950er Jahren gegen die ‚Sanierung‘ ihres Stadteils mit Stadtautobahnen (vgl. van Laak 2018, S.123) und auf den ebenfalls erfolgreichen Widerstand der Bevölkerung gegen eine „Flächensanierung des Greenwich Village“ in den 1960er Jahren. (Vgl. van Laak 2018, S.124) Erstmals im 20. Jhdt. mußten Städteplaner und Architekten zur Kenntnis nehmen, daß sie ihre Pläne nicht mehr über die betroffenen Anwohner hinweg umsetzen konnten, die sich an anderen Werten als an denen eines gleichsam naturwüchsigen ‚Fortschritts‘ orientierten, und zwar an den Werten einer „intakten Nachbarschaft, gewachsener sozialer Strukturen und historischer Identitäten“, und die „ökologische Bedenken“ artikulierten. (Vgl. ebenda)

In zweierlei Hinsicht kann man hinsichtlich des modernen Infrastrukturkonzepts von einer Infrastrukturfalle sprechen: zum einen bringt die konzeptionelle Verknüpfung zwischen Infrastruktur und Wohlstand es mit sich, daß jeder Ausstieg aus diesem Konzept Ängste hinsichtlich eines damit einhergehenden Wohlstandsverlustes hervorruft:
„So ist die paradoxe Situation entstanden, dass die Gesamtsituation verändert werden muss, man aber zugleich den einmal erreichten und in die Alltagsroutinen eingeschriebenen Komfort nicht gefährden will.“ (Van Laak 2018, S.286)
Diese Sorge ist der Grund dafür, daß statt der notwendigen grundsätzlichen Kehrtwende zu einem anderen Wohlstands- und Wirtschaftskonzept vor allem an Techniken geforscht wird, die den ‚Verbrauch‘ der bestehenden Technologien reduzieren. Van Laak bezeichnet das als „End-of-pipe-Technologie“:
„Denn verändert wird letztlich nur, was an Emissionen aus den Rohren strömt.“ (Van Laak 2018, S.286)
Zum zweiten wächst mit der zunehmenden Infrastrukturierung der Gesellschaft die Abhängigkeit der Menschen von diesen Infrastrukturen, und das macht jeden Ausfall eines Infrastrukturmoduls, etwa der Stromversorgung, aufgrund der Vernetzung der verschiedenen Infrastrukturen zu einer Katastrophe:
„Eine Falle der heute umfassenden Vernetzung besteht jedoch darin, dass – bei aller durch selbstoptimierte Menschen zur Schau gestellten outdoor- und survival-Kompetenz – solche Praktiken der Improvisation wie etwas das Reparieren von technischen Geräten oder scheinbar überlebte Kulturtechniken wie Feuermachen oder Kochen bei vielen Jüngeren kaum noch abrufbar sind.() ... Je besser eine Gesellschaft in ihren Versorgungseinrichtungen funktioniert, umso stärker wirkt sich jede Störung aus.()“ (Van Laak 2018, S.230)
Van Laaks Buch bietet keine umfassende, systematische Geschichte der Infrastruktur. Sein Interesse gilt vor allem der Perspektve der „Zeitgenossen“ in ihrer jeweiligen Gegenwart, wie sie die Infrastrukturen ihrer Zeit erlebt und als Normalfall wahrgenommen haben. (Vgl. van Laak 2018, S.13) Die von van Laak angeführten Beispiele und Episoden sind „subjektiv gefärbt und werden in fortgesetzten Wechseln zwischen punktuellen Geschichten und globalen Einordnungen vorgestellt, als in einem sehr wörtlichen Sinne miteinander verflochtene Episoden“. (Vgl. van Laak 2018, S.14)

Van Laaks Methode ist deshalb im engeren Sinne phänomenologisch. Es geht nicht einfach um eine systematisch-begriffliche Analyse des von ihm beschriebenen Infrastrukturkonzepts, sondern um die aus Betroffenenperspektive prekäre Sichtbarkeit der Infrastrukturen. Das für Infrastrukturen typische Changieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erinnert an den Begriff der Lebenswelt, so daß man sagen kann, daß es sich bei der Infrastruktur um das technokratische Gegenstück zum phänomenologischen Begriff der Lebenswelt handelt. Dieses prekäre Moment der Infrastruktur, ihre Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, wird so zu einem willkommenen Instrument techno-politischer „Camouflage“, und zwar mit steigender Tendenz:
„Immer umfassender zugängliche Infrastrukturen werden immer unmerklicher zur Verfügung gestellt.“ (Van Laak 2018, S.287)
Van Laaks Buch bietet für die kritische Leserin, den kritischen Leser eine Fülle an Material zu den anstehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen unserer Zeit, ein Buch also, dem der Rezensent eine zahlreiche Leserschaft wünscht.

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