„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 24. Mai 2023

Razzia gegen Letzte Generation

Ausgehend von einem Bundesland, dessen Ministerpräsident sich vor allem durch eine rigorose Verweigerung jeder vernünftigen Klimaschutzpolitik hervorgetan hat, Bayern, geht mit einer Razzia in sieben Bundesländern die Kriminalisierung der Letzten Generation voran. Mit der absurden Begründung, daß man es hier mit einer kriminellen Vereinigung zu tun habe.

Der Verweis auf den zu schützenden Rechtsstaat wird als Schutzbehauptung verwendet, die verbergen soll, daß die Politik gerade parteiübergreifend versagt; und zwar in dem Themenbereich, um den es der Letzten Generation geht. Das ist ein bewährter rhetorischer Kniff: man macht genau die für das Desaster verantwortlich, die verzweifelt darauf aufmerksam zu machen versuchen.

Die Profiteure der allgemeinen Verunsicherung tun alles, um diese Verunsicherung mit Hilfe der rechtsstaatlich legitimierten Übergriffe auf die Letzte Generation und mit gleichzeitigen Attacken auf Gesetzesinitiativen zum Schutz des Klimas möglichst bis zu den nächsten Landtagswahlen zu verlängern. Die nächsten Wahlen zu gewinnen, halten sie für den eigentlichen demokratischen Zweck einer Legislaturperiode, und sie bekennen sich sogar dreist dazu. Denn eine Regierung, an der die CSU nicht beteiligt ist (im Bund) oder die sie nicht anführt (in Bayern), kann ja nicht demokratisch sein. Und eine FDP, die bei jeder Wahl um den Einzug ins Parlament fürchten muß, verwechselt im zunehmendem Maße Liberalismus mit Populismus.

Das Opfer sind die Letzte Generation und die Zukunft. Das Hier und Jetzt hat allemal Vorrang: freie Straßen für Verbrenner auf dem Weg zur Arbeit oder ins wohlverdiente Wochenende und das Recht, so lange wie möglich und vielleicht auch noch länger die eigene Wohnung mit Öl und Gas zu heizen.

Ich fürchte, der Rechtsstaat nimmt immer dann Schaden, wenn Leute wie Dobrindt (CSU), Söder (CSU) oder Buschmann (FDP) von ihm reden.

Dienstag, 23. Mai 2023

Schuld und Unschuld der (russischen) Kultur

Seit Putins Angriffskrieg äußern sich immer wieder Kulturschaffende zur russischen Kultur; insbesondere wenn Musikerinnen oder Musiker oder Schauspielerinnen und Schauspieler in Deutschland auftreten wollen oder aufgetreten sind. Diese Kulturschaffenden vertreten die Ansicht, daß in Zeiten eines völkerrechtswidrigen, mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergehenden Angriffskriegs die russische Kultur als eine Art ‚persona non grata‛ behandelt werden müsse. Eine besondere Äußerung, von wem auch immer, ich habe mir den Namen nicht gemerkt, ging sogar so weit, die russische Kultur, insbesondere die Literatur (Dostojewski etc.) direkt für diesen Angriffskrieg verantwortlich zu machen.

Diese besondere Art von cancel culture, in der nicht nur über einzelne kulturelle Erzeugnisse, sondern über eine ganze Kultur der Stab gebrochen wird, ist der Anlaß für meinen heutigen Blogpost. Mich erinnert das an die Situation in den 1930er Jahren in Deutschland, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, und an den zweiten Weltkrieg. Auch damals fragte sich alle Welt, wie es sein konnte, daß ein gebildetes Volk mit Schiller und Goethe im Gepäck solche Menschheitsverbrechen begehen konnte? ‒ Eine Zeitlang stand summarisch die ganze deutsche Kultur unter Verdacht.

Noch vor kurzem warf Slavoj Žižek in seinem Buch „Disparitäten“ (2016) Schiller, und mit ihm dem Neuhumanismus, einen Protofaschismus vor. Aus dieser Sicht ist es dann nicht mehr verwunderlich, daß ganz Deutschland der faschistischen Barbarei verfiel.

Obwohl ich selbst immer Kultur und Lebenswelt als ein zusammengehöriges soziales Phänomen beschreibe, muß doch zwischen ihnen ein Unterschied gemacht werden. Die Lebenswelt ist das, was wir von Geburt an in jeder Sekunde ein- und ausatmen. Sie ist es, die unser individuelles Bewußtsein hervorgebracht hat und mit jedem Atemzug immer wieder aufs Neue hervorbringt.

Aber was die Kultur betrifft, insbesondere wenn ich dabei an Kunst und Literatur denke, gibt es zwei entscheidende Metamorphosen, die sie von der Lebenswelt abheben: die Metamorphose, die die Künstlerin, der Künstler bewirkt, und die Metamorphosen, die Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer, Betrachterinnen und Betrachter bewirken. Beide Metamorphosen sind individuell und deshalb unkontrollierbar. Vielleicht unterscheidet sich der Individualisierungsgrad. Ich könnte mir vorstellen, daß die Musik am meisten auf die Masse wirkt, wie es große Musikevents vermuten lassen. Aber auch in der Musik wird die Rezeption mit zunehmender Artifizialität immer individueller.

Worauf ich hinauswill: zwar beziehen die Kulturschaffenden ihr Material immer aus der Lebenswelt; aber was sie aus dem Material machen, die kulturellen Erzeugnisse aller Art, transzendiert diese Herkunft. Und was die Konsumenten betrifft, fügen diese den kulturellen Erzeugnissen ihren eigenen Anteil hinzu. Und die Kulturschaffenden haben es nicht in der Hand, das, was aus ihrem Werk gemacht wird, zu kontrollieren.

Das gilt selbst für elementarste Lebensleistungen: Was kann Dietrich Bonhoeffer dafür, wenn er von der Querdenkerszene vereinnahmt wird, oder Sophie Scholl, wenn sich Impfgegnerinnen auf sie berufen?

Wenn also einzelne russische Künstlerinnen und Künstler wegen ihrer positiven Einstellung zu Putins Angriffskrieg boykottiert werden, kann das durchaus seine Berechtigung haben. Der Verdacht, daß ihr Werk mit ihrer Einstellung im Zusammenhang steht, ist naheliegend. Deshalb ist ein entsprechender Boykott, gewissermaßen aus mental-hygienischen Gründen, als politisches Zeichen legitim. Aber die russische Literatur insgesamt stellvertretend für die ganze russische Kultur zu canceln, ist maßlos übertrieben.

Freitag, 12. Mai 2023

Intersubjektivität als Pluralität

In der Wissenschaft wird der Begriff der Intersubjektivität als ein gemeinsames, auf Identität angelegtes Projekt aller Wissenschaftler verstanden: es geht immer um die Wissenschaftsgemeinschaft als Ganzes verpflichtende Erkenntnisse. Dabei handelt es sich zwar immer auch um befristete Erkenntnisse, die durch neue Forschungsergebnisse wieder in Frage gestellt werden können. Aber auch die neuen Forschungsergebnisse werden dann wieder dem Anspruch auf intersubjektive Geltung unterworfen. Das Erkenntnisideal ist die Mathematik.

Dabei wird übersehen, daß der Begriff der Intersubjektivität nicht auf Identität basiert, sondern auf Pluralität und Diversität. Inter-Subjektivität ist nichts anderes als eine Form von Subjektivität, und als solche umfaßt sie alle Subjekte in ihrer Perspektivenvielfalt. Denn Subjektivität ist Perspektivenvielfalt; nichts anderes. Demnach umfaßt also die Intersubjektivität notwendigerweise die gesamte Perspektivenvielfalt subjektiven Erkenntnisstrebens.

Diese Perspektivenvielfalt der Erkenntnissubjekte kann durch keine Intersubjektivität überwunden werden. Die einzige Form des Umgangs mit Subjektivität besteht in einer von Hannah Arendt beschriebenen pluralen Praxis.

Deshalb steht die Wissenschaft nicht jenseits der Politik.

Verwirklicht wird Intersubjektivität in der Wissenschaft als Methodenvielfalt. Es gibt, dem wissenschaftlichen Anspruch nach, keine die anderen Methoden dominierende Methode. Laborexperimente, Feldversuche, Beobachtung, Meditation, Begriffsanalysen, statistische Evidenzbasierung, Textanalysen etc. ‒ irgendeine Methode und irgendeinen Gegenstand von vornherein aus der universitären Praxis des Wissenserwerbs auszuschließen, ist unwissenschaftlich.

Diese Intersubjektivität ist der Grund für die Notwendigkeit von Transdisziplinarität. Die Transdisziplinarität verhindert, daß sich die Wissenschaften in ihre Disziplinarität einigeln und sich auf einen begrenzten Kanon von Methoden beschränken. Sie öffnet die Disziplinen zur Gesellschaft hin und führt zur Übernahme von Verantwortung. Wissenschaft ist kein Elfenbeinturm, sofern sie wirklich intersubjektiv sein will.

Samstag, 6. Mai 2023

Christa Wolf: „Der geteilte Himmel“ (1963/73)

Ich habe jetzt meine Lektüre von „Der geteilte Himmel“ (1963/73) beendet. Ich habe dieses Buch von Christa Wolf zum ersten Mal gelesen. Einer der Sätze, die mich besonders tief getroffen haben: „Nicht vor der Trennung, vor der stumpfen Wiederkehr des Alltags wichen die großen Liebespaare der Dichter in den Tod. Bleierne Nüchternheit lähmte ihre Glieder, schlug ihren Geist nieder, höhlte ihren Willen aus. Der Kreis der Gewißheiten, früher unermeßlich weit, verengte sich auf schmerzliche Weise: Vorsichtig schritt (Rita) ihn ab, immer neuer Einstürze gewärtig. Was hielt stand?“ (Wolf 1963/73, S.226f.)

Die Frage am Schluß des Zitats erinnert an ein anderes Buch: „Was bleibt“ (1990), und dieser Titel klingt wie eine Antwort darauf.

Ich kenne diese „bleierne Nüchternheit“, zu der sich auch meine früheren Gewißheiten verengt haben. Doch für Rita, von der hier die Rede ist, gibt es am Ende, auf der letzten Seite des Buchs, noch Hoffnung: „Sie sieht, wie jeden Abend eine unendliche Menge an Freundlichkeit, die tagsüber verbraucht wurde, immer neu hervorgebracht wird. Sie hat keine Angst, daß sie leer ausgehen könnte beim Verteilen der Freundlichkeit. Sie weiß, daß sie manchmal müde sein wird, manchmal zornig und böse. Aber sie hat keine Angst.“ (Wolf 1963/73, S.238)

Diese kleine Textstelle ist erstaunlich und steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu anderen Stellen in diesem Buch. Vielleicht ist diese Textstelle der Grund, warum es überhaupt in der DDR erscheinen konnte? ‒ Dies und daß Rita sich für das Bleiben entschieden hat, während Manfred in den Westen gegangen ist? Kurz bevor die Mauer gebaut und der Himmel geteilt wurde.

Da ist ein ständiges Schwanken in diesem Buch, ein Hin und Her. Eine offen bleibende Unklarheit im Menschenbild; dem Menschen, wie er für die DDR brauchbar ist, und dem Menschen, wie er für Westdeutschland brauchbar ist. Und dann noch dem Menschen, der überall zurecht kommt, weil es ihm immer nur um sich selbst geht. Der sich, für beide deutsche Staaten, schließlich als der brauchbarste erwiesen hat.

In der Beziehung zwischen Rita und Manfred wird dieser Kampf, dieses Hin-und-Her-Schwanken gelebt und ausgetragen. Manfred verliert diesen Kampf, weil er nicht an den Menschen glauben kann. Am krassesten kommt dieser Widerspruch zwischen Rita und Manfred in zwei Textstellen zum Ausdruck, von denen ich die eine über die Freundlichkeit schon zitiert habe. Die andere stammt von Manfred: „Was heißt hier Gesellschaftsordnung, wenn der Bodensatz der Geschichte überall das Unglück und die Angst des einzelnen ist ...“ (Wolf 1963/73, S.158)

Auch in „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) ist von diesem Bodensatz die Rede. Schon im Geteilten Himmel geht es Christ Wolf, so wie 30 Jahre später in der neuen, größer gewordenen Bundesrepublik, um dasselbe. Der Mensch besteht aus Sedimenten, und das Ich schwimmt haltlos wie eine winzige Nußschale oben auf; den von unten drohenden Monstern schutzlos ausgeliefert.

Der „Bodensatz der Geschichte“ ist die Lebenswelt um und in uns allen. Unser heutiger Bodensatz ist der im 20. Jhdt. gewachsene Konsumismus, der Wachstumsirrglaube, der „das Unglück und die Angst des einzelnen ist“.

Aber auch die Freundlichkeit, der sich Rita am Schluß des Buches anvertraut, ist die Lebenswelt. Habermas bezeichnet sie als symbolische Reproduktion. Diese erneuert täglich in den privaten Lebensverhältnissen, wenn die materielle Reproduktion den Menschen verbraucht hat, die Freundlichkeit, die uns wieder aufleben läßt.

Die Mauer ist gefallen, und der Himmel ist nicht mehr geteilt. Wurden materielle und symbolische Reproduktion versöhnt? ‒ Es ist wohl eher so, daß die materielle Reproduktion universell geworden ist. Es gibt keine privaten Lebensverhältnisse mehr.

Dennoch ist beides Lebenswelt: der Bodensatz und die Freundlichkeit. Das kann man an den Lebensverhältnissen in Rußland sehen. Im Rahmen einer gesellschaftlichen Spaltung zwischen Stadt und Land ‒ Rußlands geteilter Himmel? ‒ haben wir es mit einer Bevölkerung zu tun, die geschichtlich durch ein viele Jahrhunderte umfassendes Zarentum und einen fast achtzig Jahre währenden Sowjetkommunismus geprägt ist. Das ist der Bodensatz, dessen sich Putin für seinen Angriffskrieg in der Ukraine bedient.

Aber nach allem, was ich über die Freundlichkeit der russischen Bevölkerung, über ihre Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft gehört habe ‒ ich selbst bin nie in Rußland gewesen ‒, gibt es auch diese Ebene einer humanen Reproduktion im privaten Lebensbereich.

Bei der Freundlichkeit haben wir es immer noch mit einer elementaren Menschlichkeit zu tun, die sich erst noch individualisieren muß. Und zwar auf der Ebene von Ich = Du, einer Sozialform, die den Vorteil hat, tief in diese elementare Schicht hineinzureichen und gleichzeitig das Gruppen-Wir, den Bodensatz der Geschichte, zu transzendieren.

Dienstag, 2. Mai 2023

Profiteure der Verunsicherung

Manchmal sehe ich sie noch, die Maskenträgerinnen und Träger. Als ich am Sonntagabend den Wagen meines Vaters zur Tankstelle fuhr, stieg dort eine Frau mit Maske aus ihrem Auto. Und vorhin, ich hatte meinen Vater in die Augenklinik nach Münster gefahren, stellte ich mich an der Theke des Krankenhauscafés an. Hinter mir stand eine Frau in der Schlange; mit Maske. Die einzige, sogar hier im Krankenhaus.

Längst ist die Pandemie allseits für beendet erklärt worden, aber immer noch tauchen, wie Gespenster aus der Vergangenheit, einzelne Maskenträger auf. So sah ich auch vor ein oder zwei Wochen einen Radfahrer. Auf dem Fahrrad mit Maske unterwegs zu sein, war mir sogar zu Pandemiezeiten reichlich übertrieben erschienen.

Ich frage mich, wie tief sich wohl die Angst in diesen Menschen eingewurzelt haben mag. Ich frage mich, ob sie vielleicht ein Symptom für eine tiefe Verunsicherung in unserer Gesellschaft sind, die die Politiker (CDU / CSU / FDP / AfD), die ich als Profiteure der Verunsicherung bezeichnen möchte, auszubeuten versuchen, indem sie den Wunsch nach Führung und Entlastung bedienen. Sie profitieren von dieser Verunsicherung, indem sie, anstatt die Ursachen, Klimawandel, Krieg in Europa, einzuhegen und zu bekämpfen, was jetzt insbesondere den Klimawandel betrifft: jeden in diese Richtung gehenden Versuch als Angstmacherei diffamieren.

Indem sie die Letzte Generation, die uns immer wieder daran hindert, uns in der Geborgenheit unserer Alltagsroutinen einzuigeln, zum Schuldigen machen, entlasten sie uns von unserer Verantwortung und lenken unseren Unmut zugleich indirekt auch auf die GRÜNEN, die in den Umfragen auf einen Platz hinter der AfD abrutschen und, so die Hoffnung, auch bei den bevorstehenden Landtagswahlen von den verunsicherten Wählerinnen und Wählern mit abgestraft werden; während jetzt schon Aktivistinnen und Aktivisten als Straftäter abqualifiziert und weggesperrt werden.

Auch dafür, für das Verfehlen der Klimaziele, machen die Profiteure der Verunsicherung diese Letzte Generation verantwortlich. Es ist nicht etwa die Politik der Ampel, die immer wieder, mit ihren Gesetzesvorhaben von der FDP ausgebremst, schwere klimapolitische Versäumnisse zu verantworten hat, sondern die Letzte Generation, die die Bevölkerung verschreckt und so eine effektive Klimaschutzpolitik behindert.

So gewinnt man Landtagswahlen und mittelfristig die nächste Bundestagswahl. Was natürlich der eigentliche Grund für diese Angstkampagne, Verzeihung: für diese Kampagne gegen die Angstmacher ist. Sich selbst bescheinigen die Profiteure der Verunsicherung in ihrem leichtfertigen Spiel mit der Angst per grüngefärbtem Grundsatzprogramm (CDU) eine vernünftige Klimapolitik und versprechen deren Vereinbarkeit mit Marktwirtschaft und immerwährendem Wachstum.

Masken für Mund und Nase. Scheuklappen für die Augen. Kopfhörer in die Ohren eingestöpselt. Das sind die Bürger, wie sie sich die Profiteure der Verunsicherung wünschen.