„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 6. Mai 2023

Christa Wolf: „Der geteilte Himmel“ (1963/73)

Ich habe jetzt meine Lektüre von „Der geteilte Himmel“ (1963/73) beendet. Ich habe dieses Buch von Christa Wolf zum ersten Mal gelesen. Einer der Sätze, die mich besonders tief getroffen haben: „Nicht vor der Trennung, vor der stumpfen Wiederkehr des Alltags wichen die großen Liebespaare der Dichter in den Tod. Bleierne Nüchternheit lähmte ihre Glieder, schlug ihren Geist nieder, höhlte ihren Willen aus. Der Kreis der Gewißheiten, früher unermeßlich weit, verengte sich auf schmerzliche Weise: Vorsichtig schritt (Rita) ihn ab, immer neuer Einstürze gewärtig. Was hielt stand?“ (Wolf 1963/73, S.226f.)

Die Frage am Schluß des Zitats erinnert an ein anderes Buch: „Was bleibt“ (1990), und dieser Titel klingt wie eine Antwort darauf.

Ich kenne diese „bleierne Nüchternheit“, zu der sich auch meine früheren Gewißheiten verengt haben. Doch für Rita, von der hier die Rede ist, gibt es am Ende, auf der letzten Seite des Buchs, noch Hoffnung: „Sie sieht, wie jeden Abend eine unendliche Menge an Freundlichkeit, die tagsüber verbraucht wurde, immer neu hervorgebracht wird. Sie hat keine Angst, daß sie leer ausgehen könnte beim Verteilen der Freundlichkeit. Sie weiß, daß sie manchmal müde sein wird, manchmal zornig und böse. Aber sie hat keine Angst.“ (Wolf 1963/73, S.238)

Diese kleine Textstelle ist erstaunlich und steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu anderen Stellen in diesem Buch. Vielleicht ist diese Textstelle der Grund, warum es überhaupt in der DDR erscheinen konnte? ‒ Dies und daß Rita sich für das Bleiben entschieden hat, während Manfred in den Westen gegangen ist? Kurz bevor die Mauer gebaut und der Himmel geteilt wurde.

Da ist ein ständiges Schwanken in diesem Buch, ein Hin und Her. Eine offen bleibende Unklarheit im Menschenbild; dem Menschen, wie er für die DDR brauchbar ist, und dem Menschen, wie er für Westdeutschland brauchbar ist. Und dann noch dem Menschen, der überall zurecht kommt, weil es ihm immer nur um sich selbst geht. Der sich, für beide deutsche Staaten, schließlich als der brauchbarste erwiesen hat.

In der Beziehung zwischen Rita und Manfred wird dieser Kampf, dieses Hin-und-Her-Schwanken gelebt und ausgetragen. Manfred verliert diesen Kampf, weil er nicht an den Menschen glauben kann. Am krassesten kommt dieser Widerspruch zwischen Rita und Manfred in zwei Textstellen zum Ausdruck, von denen ich die eine über die Freundlichkeit schon zitiert habe. Die andere stammt von Manfred: „Was heißt hier Gesellschaftsordnung, wenn der Bodensatz der Geschichte überall das Unglück und die Angst des einzelnen ist ...“ (Wolf 1963/73, S.158)

Auch in „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) ist von diesem Bodensatz die Rede. Schon im Geteilten Himmel geht es Christ Wolf, so wie 30 Jahre später in der neuen, größer gewordenen Bundesrepublik, um dasselbe. Der Mensch besteht aus Sedimenten, und das Ich schwimmt haltlos wie eine winzige Nußschale oben auf; den von unten drohenden Monstern schutzlos ausgeliefert.

Der „Bodensatz der Geschichte“ ist die Lebenswelt um und in uns allen. Unser heutiger Bodensatz ist der im 20. Jhdt. gewachsene Konsumismus, der Wachstumsirrglaube, der „das Unglück und die Angst des einzelnen ist“.

Aber auch die Freundlichkeit, der sich Rita am Schluß des Buches anvertraut, ist die Lebenswelt. Habermas bezeichnet sie als symbolische Reproduktion. Diese erneuert täglich in den privaten Lebensverhältnissen, wenn die materielle Reproduktion den Menschen verbraucht hat, die Freundlichkeit, die uns wieder aufleben läßt.

Die Mauer ist gefallen, und der Himmel ist nicht mehr geteilt. Wurden materielle und symbolische Reproduktion versöhnt? ‒ Es ist wohl eher so, daß die materielle Reproduktion universell geworden ist. Es gibt keine privaten Lebensverhältnisse mehr.

Dennoch ist beides Lebenswelt: der Bodensatz und die Freundlichkeit. Das kann man an den Lebensverhältnissen in Rußland sehen. Im Rahmen einer gesellschaftlichen Spaltung zwischen Stadt und Land ‒ Rußlands geteilter Himmel? ‒ haben wir es mit einer Bevölkerung zu tun, die geschichtlich durch ein viele Jahrhunderte umfassendes Zarentum und einen fast achtzig Jahre währenden Sowjetkommunismus geprägt ist. Das ist der Bodensatz, dessen sich Putin für seinen Angriffskrieg in der Ukraine bedient.

Aber nach allem, was ich über die Freundlichkeit der russischen Bevölkerung, über ihre Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft gehört habe ‒ ich selbst bin nie in Rußland gewesen ‒, gibt es auch diese Ebene einer humanen Reproduktion im privaten Lebensbereich.

Bei der Freundlichkeit haben wir es immer noch mit einer elementaren Menschlichkeit zu tun, die sich erst noch individualisieren muß. Und zwar auf der Ebene von Ich = Du, einer Sozialform, die den Vorteil hat, tief in diese elementare Schicht hineinzureichen und gleichzeitig das Gruppen-Wir, den Bodensatz der Geschichte, zu transzendieren.

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