„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 31. Dezember 2019

„Gib mir Musik“

Ich habe bisher immer den Standpunkt vertreten, daß Mathematik keine Sprache ist, weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind. Echte Sprache ist niemals eineindeutig definiert. Es gibt immer eine Differenz zwischen Meinen und Sagen. Diese Differenz ist der Sprache so wesentlich, daß ihre Zeichen aus dieser Differenz heraus Bedeutung gewinnen. Und gerade weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind, sind sie bedeutungslos.

Jetzt habe ich mir mal wieder von Reinhard Mey „Gib mir Musik“ angehört, und da gibt es diese wunderbaren, leicht variierten Refrains:
„Gib mir Musik, um mir ein Feuer anzuzünden,
Um die dunklen Tiefen meiner Seele zu ergründen,
Meine Lust und meine Schmerzen, Narben, die ich mir selbst verschwieg.
Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik!“
Es sind die dunklen Tiefen der Seele, die sich dem gesprochenen Wort entziehen. Die Sprache erreicht sie nicht, sie transportiert sie nicht wie eine Informationsmaschine, die Informationen transportiert. Aber durch Musik werden wir in diesen Tiefen unmittelbar berührt, ohne daß unsere Seele an dieser Berührung Schaden nimmt. Kann die Musik also, wie manche Mathematiker glauben, ein mathematisches System mit eineindeutig definierten Zeichen sein?

Allerdings gibt es ein schönes Gegenstatement von Adrian Leverkühn, dem Protagonisten in Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo Leverkühn mit Verweis auf Beethoven die Nähe zwischen Musik und Wortsprache behauptet:
„‚Was schreibt er (Beethoven) da in sein Tagebuch?‘ habe es geheißen. ‚Er komponiert.‘ – ‚Aber er schreibt Worte, nicht Noten.‘ – Ja das war so seine Art. Er zeichnete gewöhnlich in Worten den Ideengang einer Komposition auf, indem er höchstens ein paar Noten zwischenhinein streute. – Hierbei verweilte Adrian, sichtlich davon angetan.“ (Dr. Faustus, S.218)
Demnach wäre die Musik wie die Sprache in erster Linie expressiv und kein mathematisches System, und Leverkühn/Beethovens musikalische Auffassung von Sprache unterstützt Plessners Begriff der Expressivität.

Wie auch immer: mit der Behauptung, Mathematik sei Sprache, wird eine Differenz unterschlagen: Mathematik schließt mit ihren eineindeutigen Zeichen Bedeutung aus. Musik ist mehr als ein Notationssystem. Ihre scheinbare Bedeutungsleere ist eine Einladung an den Hörer, die Hörerin, zu hören, was sie empfinden. Es sind die Hörer, die die Musik mit Bedeutung erfüllen. Deshalb ist Musik anders als die Mathematik nicht keine Sprache, sondern mehr als Sprache.

Es gibt also nicht nur ein vorsprachliches Bewußtsein, ‚prälingual‘, sondern auch ein übersprachliches Bewußtsein: translingual.

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Freitag, 13. Dezember 2019

Freiheitsverluste

In zunehmendem Maße geht seit einiger Zeit dem Gewinn von neuen Freiheitsgraden durch die Entwicklung und Einführung neuer Technologien ein fundamentaler Freiheitsverlust voraus: das, was man vorher selbst geleistet hatte, jetzt nur noch mit Hilfe von Maschinen tun zu können.

Ich habe gestern eine Petition zur Gewährleistung eines „Rechts auf ein Offline-Leben“ (Nr. 103875) beim deutschen Bundestag eingereicht. Sobald sie von der Bundestagsverwaltung geprüft, angenommen und online gestellt worden ist, kann sie von jedem Interessierten mitgezeichnet werden.

Petition in der Mitzeichnungsfrist

Die Petition ist jetzt online erreichbar und kann bis zum 03.02.2020 mitgezeichnet werden.


PS (06.01.2021):
Heute erhalte ich einen Brief vom Petitionsausschuß vom 11.12.2020, in dem mir mitgeteilt wird, daß das Petitionsverfahren (Pet 1-19-06-2005-027804) abgeschlossen sei, mit dem Ergebnis, daß „dem Anliegen entsprochen worden ist“.

Zum Anliegen der Petition führt der Petitionsausschuß aus: „Mit der Petition wird ein Gesetz gefordert, dass das Führen eines Offline-Lebens hinsichtlich der Kommunikation mit Behörden gewährleistet. Zu dieser Thematik liegen dem Petitionsausschuss eine auf der Internetseite des Deutschen Bundestages veröffentlichte Eingabe mit 3526 Mitzeichnungen und 84 Diskussionsbeiträgen sowie weitere Eingaben mit verwandter Zielsetzung vor, die wegen des Sachzusammenhangs einer gemeinsamen parlamentarischen Behandlung zugeführt werden. ... Zur Begründung des Anliegens wird im Wesentlichen ausgeführt, dass das Recht auf Führen eines Offline-Lebens aus dem Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) abzuleiten sei. Aus diesem Grundrecht folge auch das ‚Recht auf informationelle Selbstbestimmung‘, das durch das alle Lebensbereiche umfassende Digitalisierungsprojekt der Bundesregierung verletzt werde. Das ‚Recht auf ein Offline-Leben‘ beinhalte, dass die gesellschaftliche Infrastruktur nicht vollständig digitalisiert werde, sondern Strukturen zur Verfügung stelle, die Verwaltungsakte, Eingaben, Steuererkärungen etc. nach wie vor auf Papiergrundlage ermöglichten. Es gehe also um die Verhinderung des vollständigen Rückbaus von Offline-Infrastrukturen.“

Zur Begründung, inwiefern dem Anliegen des Petenten schon entsprochen worden sei, verweist der Petitionsausschuß auf die Broschüre „Digitalisierung gestalten - Umsetzungsstrategie der Bundesregierung“:


Desweiteren führt der Petitionsausschuß aus: „Bei den elektronischen Informations-, Kommunikations- und Transaktionsangeboten der Verwaltung für Bürgerinnen und Bürger wird eine Multikanalstrategie verfolgt. Neben neuen digitalen Zugängen werden weiterhin auch die etablierten Zugänge (insbesondere persönliche Vorsprache, Telefon, Telefax oder Schreiben) angeboten. Ferner stellt der Ausschuss fest, dass auch im Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) keine Begrenzung auf bestimmte Kommunikationsarten zwischen Bürger und Verwaltung erfolgt. Die Nutzung der elektronischen Kommunikations ist freiwillig.“

So weit so gut. Aber entspricht das auch der Realität? Meines Wissens gibt es zumindestens einige Finanzämter, die den Bürgerinnen und Bürgern keineswegs die Wahl lassen, ihre Steuererklärung auf Papier abzugeben, und die sie auf die elektronische Steuererklärung verpflichten. Zumindestens aber scheint es auf der Grundlage dieses Briefes möglich zu sein, dagegen Widerspruch einzulegen.

PPS (17.04.2021)

Mittwoch, 4. Dezember 2019

Johann Baptist Metz

Letzten Montag starb Johann Baptist Metz. Ich hatte bei ihm einen Teil meines Philosophierigorosums, für das er mich, von Tiemo Rainer Peters herkommend, annahm.

Ich erlebte Metz als freundlich und zugewandt. Seine Definition von Religion als Unterbrechung prägt mich bis heute, wo ich diese ‚Unterbrechung‘ vor allem als Auf-Brechen von lebensweltlichen Verstrickungen verstehe. Letztlich aber führte mich mein Theologiestudium zur Ab-Brechung meiner Kirchenzugehörigkeit: ich trat aus.

Aber ich trat aus, ohne der Kirche meinen Rücken zuzuwenden. Bis heute verstehe ich nicht, wie ein einfacher bürokratischer Akt – das Nichtzahlen der Kirchensteuer – einen Kirchenaustritt bedeuten kann. Die Taufe ist ein Sakrament. Was hat die Kirchensteuer damit zu tun?

Der Glaube hat für mich längst nicht mehr die Form eines Bekenntnisses, sondern die Form einer Erinnerung; mit Metz gesprochen: ich vermisse ihn. Und in der Form dieses Vermissens glaube ich.

Metz ist also gestorben. Es gibt verschiedene Formen des Todes. Eine davon ist, daß niemand mehr an uns denkt. Diesen Tod ist Metz nicht gestorben. Noch lange nicht.

Sonntag, 1. Dezember 2019

Cogito und Blick

Vor vielen, sehr vielen Jahren hatte ich bei Kant gelesen, daß das „Ich denke“ alle unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen begleiten können muß, damit sie unsere, also je meine Erfahrungen und Wahrnehmungen sein können. Bei Descartes hatte ich gelesen, daß wir alles anzweifeln können, nur nicht, daß wir denken; und daß darin unsere Seinsgewißheit besteht. Erst spät, eigentlich erst vor knapp anderthalb Jahren, habe ich begriffen, daß Kants „Ich denke“, also die transzendentale Apperzeption, eine Variation oder auch eine Interpretation der Kartesianischen Formel „cogito ergo sum“ bildet.

Darüber hinaus glaube ich inzwischen, daß Plessners Definition der Seele als „noli me tangere“ eine Weiterentwicklung des Kantischen und des Kartesianischen ‚cogito‘ bildet. Denn das ‚Ich denke‘ bildet eine Abspaltung von und eine Hinzufügung zu den Erfahrungen und Wahrnehmungen, die es begleitet bzw. begleiten können muß. Und als diese Verdopplung des ‚Ich‘, als denkendes und als wahrnehmendes Ich, wird es zwiespältig. Es schillert zwischen dem einen und anderen hin und her und läßt sich nicht in eine Identität überführen. Es ist gleichzeitig ein subjektives und ein objektives Ich.

Genau das bringt Plessner in dem „noli me tangere“ auf den Punkt. Indem die Seele sich gleichzeitig zeigen und verbergen will, kommt darin die Zwiespältigkeit des ‚Ich denke‘ der transzendentalen Apperzeption zum Ausdruck. Wer die Seele dingfest machen will, zwingt sie zur Flucht und gerät in eine Aufholjagd ohne Ende: regressus ad infinitum.

Dieser Regreß hat die logische Form eines sich selbst denkenden Denkens, also eines Denkens, das unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht länger begleitet. Aber das ist ein logischer Irrtum. Man läuft weder dem Denken noch der Seele hinterher, sondern ins Leere. Seele gibt es nur als Expression, und das Denken gibt es nur als Apperzeption, als Begleitung unserer Wahrnehmungen oder gar nicht.

Eine weitere Variation des Kantischen cogito, also der Apperzeption, habe ich in einem Text von Charlotte Bretschneider (2015) gefunden, den ich auch in diesem Blog besprochen habe. In diesem Text geht es darum, daß Montaigne den Menschen als aus losen, im Wind flatternden Fetzen bestehend beschreibt, die sich zu keiner Einheit bündeln lassen. Es ist lediglich der jeweilige Blick auf sich selbst, der diese flatternden Fetzen für einen kurzen Moment zu einem Individuum zusammenfügt. Schon beim nächsten Blick aber sieht alles wieder ganz anders aus.

Dieser individualisierende Blick auf sich selbst ist nichts anderes als Kants „Ich denke“, das alle unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen begleiten können muß. Und weder in Kants ‚cogito‘ noch in Montaignes Blick auf sich selbst gibt es einen Altersunterschied, so daß wir immer, als wie verschieden wir uns auch immer erleben mögen, ein- und derselbe bleiben.

Helmuth Plessner wendet sich übrigens gegen eine bestimmte Form des Anticartesianismus, die das ‚cogito‘ als fehlgeleiteten Idealismus verwirft, weil sie dieses cogito mit Descartes’ tatsächlich problematischer dualistischer Spaltung des Menschen in Geist und Körper, res cogitans und res extensa, verwechselt. Tatsächlich handelt es sich bei Kants transzendentaler Apperzeption um den Versuch, die Trennung zwischen dem ‚subjektiven‘ (denkenden) Ich und dem ‚objektiven‘ (wahrnehmenden) Ich zu überwinden. Der von Plessner monierte Anticartesianismus aber versucht sich Plessner zufolge der komplexen Leib-Seeleproblematik zu entziehen und sich „in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückzuziehen. (Vgl. Plessner, „Lachen und Weinen“ (1950/1941), S.39) Eine solche simplifizierende Vereinfachung bildet auch Hermann Schmitzens „Neue Phänomenologie“. (Vgl. meine Posts vom 01.11. und 02.11.2019)

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Samstag, 2. November 2019

Stimmungen und Atmosphären

Stimmungen und Atmosphären sind von konkreten Intentionen weitgehend unabhängig. Was das betrifft, stimme ich Hermann Schmitz zu. Allerdings heißt das nicht, daß Intentionalität keine Bedeutung hat und daß es so etwas wie ein Bewußtsein nicht gibt. Genau das, also daß es Bewußtsein nicht gibt, behauptet Hermann Schmitz. Es ist aber vielmehr so, daß Stimmungen und Atmosphären bestimmte Intentionen (auf andere Menschen gerichtete Erwartungen und Verhaltensdispositionen) und mit ihnen Intentionalitätsstrukturen (soziale Praktiken und gesellschaftliche Institutionen) mehr unterstützen als andere. Es gibt eine zumindest einseitig bedingende Abhängigkeit, also des Bewußtseins von Stimmungen und Atmosphären. Tatsächlich ist es aber noch etwas komplizierter.

Abhängigkeiten konkreter Intentionalität von Stimmungen und Atmosphären: vor fünfzig Jahren in Woodstock bewirkte die Atmosphäre des dreitägigen Events eine friedliche und liebevolle Zugewandtheit bei den Teilnehmern. Die Anwohner der nahegelegenen Ortschaften waren hingerissen von dem respektvollen und höflichen Verhalten und dem Charme der Hippies und ‚Freaks‘. Heute: bei Aufmärschen von Pegida und Identitären ist ein anderes Verhalten üblich. Deren Atmosphären unterstützen Gewalttätigkeit, Haß und Mißtrauen gegenüber anderen Menschen.

Bei Stellenausschreibungen werden oft atmosphärische Qualitäten abgefragt: Erfolgsorientierung und Flexibilität beispielsweise. Und auf ‚Firmenkultur‘, also wiederum Atmosphäre, wird vor allem deshalb wertgelegt, weil sonst die konkrete Intentionalitätsstruktur der Firma – also ihre Produktivität (Autos, Smartphones, Altenpflege etc.) – nicht effektiv realisiert werden könnte.

Aber konkrete Intentionen und ihre sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen, also die konkrete Intentionalität (erkennen und befriedigen von Bedürfnissen), gehen mit einem Bewußtsein einher, das sich deutlich von vagen Stimmungen und Atmosphären unterscheidet. Letztere unterstützen dieses Bewußtsein, das sich zu einem Selbstbewußtsein entwickeln will, nicht, sondern behindern es. Zwar unterstützen Stimmungen und Atmosphären generell zu ihnen passende Bewußtseinsakte, also auch konkrete Intentionalität mit ihrer reflexiven Komponente, aber nur unterhalb der Bewußtseinsschwelle.

Stimmungen und Atmosphären decken sich weitgehend mit dem, was Blumenberg „Lebenswelt“ nennt. Und diese Lebenswelt fungiert ausschließlich unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Das hat einige Neurowissenschaftler zu der Annahme verleitet, daß es so etwas wie einen freien Willen, also wiederum ein Selbstbewußtsein, nicht gibt. In dieser Hinsicht befinden sie sich auf einer Linie mit Hermann Schmitz.

Aber obwohl diese unterbewußten Prozesse unserem Bewußtsein entzogen sind und es sogar behindern, ermöglichen sie es auch. Denn ohne diese teils psychosozialen, teils physiologischen Prozesse könnte es seine Aufmerksamkeit nicht anderen Dingen in der Welt zuwenden. Es ist das Unterbewußtsein, das das Bewußtsein für die Welt freistellt.

Die Grenze zwischen beidem, zwischen Lebenswelt und Physiologie einerseits und dem Bewußtsein andererseits, ist allerdings beweglich, und beide Seiten kämpfen darum, sie zu ihren Gunsten zu verschieben. Früher, vor den PISA-Studien, nannte man das mal Bildung, nämlich die Erhöhung der Freiheitsgrade von Individuen im Laufe ihres Lebens. Man könnte auch von ‚Seele‘ sprechen, denn die unterbewußten Prozesse, Stimmungen und Atmosphären wollen sich ‚ausdrücken‘ (Expressivität), also zu Bewußtsein kommen; sie können sich aber im Bewußtsein nicht halten und sinken wieder unter die Schwelle zurück.

Das Bewußtsein mit seiner reflexiven Komponente ist atmosphärischen Prozessen nicht zuträglich. Diese behindern also nicht nur das Bewußtsein, sondern das Bewußtsein behindert auch sie. Letztlich kann man also festhalten: wenn Stimmungen und Atmosphären bestimmte Bewußtseinsakte (konkrete Intentionalität) unterstützen (oder behindern) – soziale Zuwendung, Hilfsbereitschaft, Zweitpersonalität in Woodstock; Haß, Menschenverachtung, Gruppenidentität auf Pegidaveranstaltungen –, dann unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Umgekehrt unterstützt (oder behindert) ein ausgebildetes Selbstbewußtsein unterschwellige Stimmungen und Atmosphären nur oberhalb der Bewußtseinsschwelle, nämlich in Form von Bildung. Beide Bewußtseinsebenen begegnen und formen sich gegenseitig auf der Ebene von Meditationen, sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen.

Noch ein Letztes: Toni Morrison bezeichnet in ihrem Essayband „Die Herkunft der Anderen“ (2018/2017) die Globalisierung als eine „Verwischung von Drinnen und Draußen“; und zwar auf drei Ebenen: der politischen, der metaphorischen und der psychologischen. (Vgl. Morrison 2017, S.95f.) So gesehen ist Schmitzens „Neue Phänomenologie“ mit ihrer Ersetzung der Innenwelt durch Atmosphäre eine Globalisierungsideologie.

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Freitag, 1. November 2019

„Neue Phänomenologie“

Als ich vor etwas mehr als einem Jahr Svenja Flaßpöhlers „Die potente Frau“ (2018) las (vgl. meine Rezension vom 01.09. bis 03.09.2018), stieß ich dort nach meiner damaligen Meinung zum ersten Mal auf den Begriff der Neuen Phänomenologie und konnte nicht viel damit anfangen. Inzwischen bin ich in meinem eigenen Bücherregal auf zwei Bücher von Hermann Schmitz gestoßen: auf „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ (1998) und auf „Der unerschöpfliche Gegenstand“ (2007/1990). Als ich in die Bücher reinschaute, stieß ich dort wieder auf den genannten Begriff und mußte vor mir selbst gestehen, daß ich ihn schon gekannt, aber dann vollständig wieder vergessen hatte.

In beiden Büchern befinden sich Unterstreichungen und Randbemerkungen, aber beide Bücher habe ich nicht vollständig gelesen. „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ hatte ich vor ca. 20 Jahren angefangen zu lesen, wie gesagt nur auszugsweise. Obwohl es thematisch voll auf meiner Denklinie liegt, hatte ich mit dem Buch nichts anfangen können. Sonst hätte ich diesen Lektüreversuch wohl auch kaum so vollständig vergessen, wie übrigens auch den von „Der unerschöpfliche Gegenstand“, worin ich vor rund zehn Jahren zum ersten Mal gelesen hatte und dann am Ontologiekapitel gescheitert war.

Viele Philosophen, die ihre Ideen ausdrücken und sich dabei möglichst verständlich ausdrücken wollen, entwickeln einen eigenen unverwechselbaren Sprachstil. Wenn man sich als Leser in diesen Sprachstil einarbeitet, bereitet es keine Mühe mehr, zu verstehen, was der Philosoph einem mitteilen will. Andere Philosophen wiederum entwickeln einen eigenen Sprachstil und kümmern sich dabei nicht darum, ob irgendjemand sie versteht. Typische Vertreter dieser Spezies sind die Poststrukturalisten. Sie bilden eine regelrechte Schule der Unverständlichkeit. Zu diesen Philosophen, also nicht zu den Poststrukturalisten, aber zu den gestelzt Unverständlichen, gehört auch Hermann Schmitz. Übrigens ist es interessant, wie Hartmut Rosa in „Resonanz“ (2018) mit Hermann Schmitz umgeht. Er bezieht sich zwar einige Male auf ihn, bleibt dabei aber sehr allgemein. Wenn es um Details der Schmitzschen Neuen Phänomenologie geht, bezieht sich Rosa nicht direkt auf Schmitz, sondern auf den Psychiater Thomas Fuchs, der ihm als Vermittler dient. Mit anderen Worten: Rosa hat Schmitz wohl auch nicht verstanden.

Zu den Philosophen, die sich nicht verständlich ausdrücken (können oder wollen), gehört also auch Hermann Schmitz, obwohl er kein Poststrukturalist, sondern ein Phänomenologe ist. Allerdings haben die Phänomenologen ihre eigenen Esoteriker: allen voran Edmund Husserl; also jetzt insbesondere der Husserl der Wesensanschauungsphänomenologie, nicht der Intersubjektivitäts- und Lebenswelttheoretiker. Und auch Hans Blumenberg hat seine unverständlichen Momente, in denen er sich eines von Husserl geprägten phänomenologischen Jargons bedient, der den darin nicht eingeweihten Leser außen vor läßt.

Jetzt habe ich jedenfalls vor, meine damaligen unvollständig gebliebenen Lektüren nachzuholen, um doch noch so etwas wie eine Rezension zustandezubringen. Dabei werde ich mich vor allem auf „Der unerschöpfliche Gegenstand“ (2007) und auf den von Hermann Gausebeck und Gerhard Risch herausgegebenen Sammelband „Leib und Gefühl“ (2/1992) konzentrieren, der einige leichter verständliche Texte von Schmitz enthält. Aber auch hier werde ich wieder nur auszugsweise vorgehen, indem ich mich auf das Thema ‚Seele‘ und ‚Introjektion‘ beschränke. Letztlich handelt es sich mit diesem Blogpost nicht um eine gründliche Rezension, sondern um eine Meinungsäußerung, die ich aber gerne zur Diskussion stellen möchte.

Gleich auf den ersten Seiten von „Der unerschöpfliche Gegenstand“ wird klar, daß Schmitz die Seele, ganz anders als Plessner, als bloße „Innenwelthypothese“ in Frage stellt. (Vgl. Schmitz 2007, S.17ff.) Schmitz bezeichnet die Seele als ein „alle Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Impulse, Entschlüsse usw. eines Menschen umfassende(s) Sammelbecken()“, und führt sie im wesentlichen auf zwei Bedürfnisse zurück: auf das „Bedürfnis nach Zentrierung“, was Schmidt zufolge zu der „widerspruchsvollen Doppelansicht der Seele als Subjekt und Rahmen des Erlebens, Herr im Haus und Haus, worin jener Herr ist“, führt (vgl. Schmitz 2007, S.18); und auf das Bedürfnis, „die Welt möglichst weitgehend so zu vergegenständlichen, daß man sich dabei an nur wenige, intermomentan und intersubjektiv gut identifizierbare Merkmale ... zu halten braucht“, womit die sogenannten primären Qualitäten des Raums, der Zeit und der Quantität gemeint sind, während die ‚sekundären‘ Qualitäten der ‚Seele‘, also alle weiter oben aufgezählten subjektiven Empfindungen, vorbehalten bleiben (vgl. ebenda).

An anderer Stelle spricht Schmitz von drei „Motiven“ für die Vorstellung von einer Seele, die er als Quellen eines „grandiosen Selbstmißverständnisses der Menschheit“ bezeichnet: das „praktisch-pädagogische (Motiv – DZ) der Selbstermächtigung des Menschen als mündige Person“, den „Physiologismus der Wahrnehmungslehre“ und die „Objektivierung der Außenwelt“. (Schmitz 2/1992, S.291) Mit dem praktisch-pädagogischen ‚Motiv‘ suggeriert Schmitz, daß die Vorstellung von einer Seele nicht anthropologisch und moralphilosophisch, sondern bloß ideologisch begründet sei. Mit dem Physiologismusvorwurf unterstellt er, daß es keine ‚inneren‘ seelischen Vorgänge gibt, die sich auf physiologischer Ebene beschreiben ließen. Und mit der Objektivierung der Außenwelt wird Schmitz zufolge alles, was sich dieser Objektivierung entzieht, der ‚Seele‘ zugeschrieben.

Mit diesen ‚Motiven‘ verwirft Schmitz in einem Aufwasch den Humanismus der Aufklärung (Autonomie/Mündigkeit) und die Möglichkeit eines Bewußtseins (Differenz von Innen und Außen), die er beide zugleich mit dem Reduktionismus der Naturwissenschaften, insbesondere der Neurophysiologie, in einen Topf wirft, die alle Bewußtseinsakte mit physiologischen Prozessen gleichsetzen. Es ist nicht nur die ‚Seele‘ – wie auch immer man sie sich vorstellen mag –, sondern mit ihr auch das Bewußtsein selbst, das Schmitz aus seiner Neuen Phänomenologie wegdefiniert, was dann auch schon das Neue an seiner ‚Phänomenologie‘ wäre. Denn eine Phänomenologie, die das Bewußtsein für irrelevant erklärt, gab es bislang noch nicht.

Letztlich hält sich Schmitz bei seiner Kritik des Seelenbegriffs an einem historischen Popanz fest, an dem sich heute in dieser Form sowieso kaum noch jemand orientiert. Er verweist auf den traditionellen Sprachgebrauch:
„Die Seelenvorstellung ist heute im üblichen Sinn eines dem Körper an Einheitlichkeit mindestens gleichkommenden Verbandes aller Erlebnisse eines Menschen, oder gar im Sinne eines substantiellen ‚Trägers‘ dieses Verbandes, ein Erbe der griechischen Philosophie des 5. Jahrhunderts v.Chr. und konsolidiert sich erst an der Wende zum 4. Jahrhundert, während sie für Platon schon selbstverständlich ist ... .“ (Schmitz 2007, S.17f.)
Schmitz geht also davon aus, daß die Seele auch heute noch als eine Art innerer Körper bzw. inneres ‚Ding‘ verstanden wird (vgl. Schmitz 2007, S.36f.), und er verwirft mit dieser Seelenvorstellung gleich den ganzen Seelenbegriff und die damit verbundene Vorstellung von einer sich von der Außenwelt unterscheidenden Innenwelt, was er als „Innenwelthypothese“ bezeichnet, die sich aufgrund der Introjektion der durch die Mathematisierung der Außenwelt entstandenen ‚Abfälle‘, also den nicht-mathematisierbaren sekundären Qualitäten herausgebildet hat. (Vgl. Schmitz 2007, S.18f.)

Auf den Dingbegriff, im Sinne eines Außenweltphänomens, bin ich schon in meinem letzten Blogpost zu Harmut Rosa eingegangen. (Vgl. meinen Post vom 01.10.2019) Hier möchte ich nur nochmal kurz auf die Relevanz von Körperdingen auch für innere Prozesse des menschlichen Bewußtseins hinweisen. Da für Schmitz das Bewußtsein kein Thema ist, ist es insofern nicht erstaunlich, wenn er ineins damit auch die phänomenologische Bedeutung von Körperdingen leugnet, um an deren Stelle atmosphärische Ausdehnungen wabern zu lassen. Das Ding, das die Engländer ‚Thing‘ nennen, bildet eine ‚Ratsversammlung‘, im Sinne eines Sinnzentrums, das die Vielheit von Erscheinungen zu einer Einheit (Gestalt) zusammenfaßt. Der Raum, in dem sich diese Einheit formt, ist das Bewußtsein. Das Bewußtsein, das selbst eine Einheit bildet, wird durch das Ding als Einheit von Erscheinungen möglich, so wie es wiederum das Ding möglich macht. Könnte das Bewußtsein sich beim Ding als dieses Ding erlebendes Subjekt nicht mitdenken, gäbe es kein Ding und somit auch kein Bewußtsein. Kant bezeichnet diese Bewußtseinsleistung auch als „Apperzeption“. Letztlich haben wir es mit Gestaltwahrnehmung zu tun, welche Kant als „Apprehension“ bezeichnet.

Mit der Verwerfung des Seelischen – an ihre Stelle setzt Schmitz eine bewußtseinsunabhängige, frei schwebende, sich bei Gelegenheit in Leibesregungen einbettende Subjektivität – disqualifiziert Schmitz sich wie schon erwähnt als Phänomenologe. Zwar spricht er noch von dem „affektiven Betroffensein“ von „Bewußthabern“; aber von ihnen schließt Schmitz nicht auf ein Bewußtsein, sondern auf Subjektivität.

Wenn man mit Hans Blumenberg davon ausgeht, daß die „Phänomenologie als eine Beschreibung von Vorkommnissen des Bewußtseins“ zu verstehen sei (vgl. „Beschreibung des Menschen“ (2006), S.329), fragt man sich, was an Schmitzens Neuer Phänomenologie dann noch phänomenologisch genannt werden könne. Antwort: vor allem die Methode. Ein Phänomenologe ist Schmitz zufolge jemand, der gegenüber allzu hohen Erwartungen hinsichtlich der Definierbarkeit philosophischer Begriffe skeptisch ist. (Vgl. Schmitz 2007, S.32) Der Phänomenologe bleibt Schmitz zufolge in dieser Hinsicht begrifflich geerdet, indem er auf der „relativ trivialen Lebenserfahrung“, die „jedermann“ zugänglich ist, aufbaut. (Vgl. Schmitz 2007, S.33). Mit ‚relativ trivialer Lebenserfahrung‘ ist offensichtlich die Lebenswelt gemeint. Man könnte auch sagen, daß Phänomenologen auf ihren gesunden Menschenverstand setzen. Ohne dabei allerdings unkritisch zu werden, versteht sich.
„Dieses Verfahren soll gewährleisten, daß der Philosoph stets sich verstehen und verstanden werden kann, damit er sich nicht selbst betrügt, wie leicht geschieht, wenn er sich auf dem schwankenden Meer überkommener Begriffe oder prophetenhaft expektorierter Redensarten (‚Jargon der Eigentlichkeit‘) treiben läßt.“ (Schmitz 2007, S.33)
Nun richtet sich allerdings diese überaus gelungene Beschreibung eines Phänomenologen gegen Schmitz selbst. Denn ausgerechnet dieser Verteidiger des gesunden Menschenverstandes leugnet das Vorhandensein von Innenwelten, und die Seele soll nur ein Müllabladeplatz für sekundäre Qualitäten sein. (Vgl. Schmitz 2007, S.18f., 21f., 199ff.) Dennoch soll es eine Subjektivität geben, in Form eines affektiven Betroffenseins, nur eben nicht als Seele oder als Bewußtsein, sondern als Atmosphäre. Diese Verleugnung der Innen-Außen-Differenz ist keineswegs trivial und bedarf eines aufwendigen Begründungsverfahrens, das wiederum viel Vertrauen in die Definierbarkeit philosophischer Begriffe voraussetzt. Wer aber so argumentiert, mißachtet die (lebensweltlichen) Phänomene, die der Phänomenologe mit seiner Skepsis gegenüber Begriffskonstruktionen Schmitz zufolge doch eigentlich ernst nehmen sollte. Immerhin behält Schmitz gegen sich selbst recht, wenn er schreibt, „daß man (trotz großer Evidenz in vielen trivialen und nicht-trivialen Fällen), nie ganz sicher wissen kann, was gerade Phänomen für einen ist“. (Vgl. Schmitz 2007, S.34) – Das trifft wohl allererst auf Schmitz selbst zu.

Auch der gesunde Menschenverstand kann einen also in die Irre führen. Aber gilt das auch für alle Vorstellungen von der Seele, so daß es sich verbietet, künftig weiterhin von ihr zu reden? – Es ist nunmal so, daß wir uns selbst allererst als Körper erleben. Unser Körper ist kein Gas und keine Flüssigkeit. Deshalb ist es Teil unserer trivialen Lebenserfahrung, daß wir uns an die Grenze unseres Körpers gestellt sehen, als Haut und als Gesicht. Die Erfahrung einer Innen-Außen-Differenz ist für uns fundamental. So sehr Gefühle also etwas Atmosphärisches (Gasähnliches) haben – hier stimme ich Schmitz zu –, so sehr stehen diese Gefühle doch an dieser Grenze und durchdringen sie nur expressiv, als Mimik, als Laut und als Wort. Genau das ist Seele!

Indem Hermann Schmitz die ‚Seele‘ – natürlich nicht die Seele, sondern die Gefühle – als etwas atmosphärisch Ausgedehntes beschreibt, beraubt er sie der Fähigkeit des Rückzugs aus der Außenwelt (Extrojektion) in ein abgeschlossenes Inneres – es gibt ja keinen Innenraum –, in das bzw. in den sie sich zurückziehen könnte, wenn sie nicht berührt werden will. Sogar die Scham bezeichnet Schmitz als etwas in erster Linie Atmosphärisches, so daß sie nicht länger auf die Entblößung reagiert, die jemandem widerfährt. Die ‚Seele‘, die es nicht gibt, dieses angeblich grandiose Selbstmißverständnis, ist als bloß atmosphärisches Gefühl dem „Gegenstoß einer von allen Seiten zentripetal auf den Exponierten eindringenden und ihn durchbohrenden atmosphärischen Macht“ nackt und hilflos ausgesetzt. (Vgl. Schmitz 2/1992, S.112) – Dabei haben sogar Gefolterte als letzte Rückzugsmöglichkeit eine innerste Zuflucht, aus der sie kein Folterknecht mehr herauszuholen vermag.

Hermann Schmitz legt die Subjekte darauf fest, affektiv betroffen zu sein. (Vgl. Schmitz 2/1992, S.34f.) Affektiv betroffen sind sie aufgrund von atmosphärisch bedingten Gefühlen. Diese Subjekte kennen keine exzentrische Position, in der sie sich und der Welt gegenüberstehen können. Wenn Gefühle nicht mehr an Körper, sondern an Atmosphären gebunden sind, wird auch der Blick, der sich auf Körper richtet, gegenstandslos. Er löst sich im Atmosphärischen auf und kann keine Gemeinschaft zwischen Ich und Du begründen. Zweitpersonalität und eine in ihr gründende Ethik werden unmöglich. Worauf es ankommt, sind die Kollektive und die Atmosphären, die sie erzeugen.

Atmosphärisches von dieser Art kennt man auch aus anderen Zusammenhängen. Ich hatte in diesem Blog schon mal die „morphogenetischen Felder“ von Rupert Sheldrake diskutiert. Oder man denke an die „Zwischenleiblichkeit“ von Maurice Merleau-Ponty. Nicht zuletzt Edmund Husserls Begriff der „Lebenswelt“ deckt weite Teile dessen ab, was Schmitz als „Atmosphäre“ bezeichnet. Wir haben es hier mit notwendigen Begriffen zu tun. Abgesehen von Sheldrakes „morphogenetischen Feldern“ haben wir es aber immer auch mit Bewußtseinsbegriffen zu tun. Ohne (einzelmenschliches, individuelles) Bewußtsein keine Zwischenleiblichkeit und keine Lebenswelt.

Ein weiterer Begriff, der im Bedeutungsfeld des Atmosphärischen eine Rolle spielt, ist das altgriechische „Pneuma“ (Atem, Hauch) (vgl. hierzu auch meinen Post vom 01.02.2013); und es ist bezeichnend, daß Schmitz dieses Wort vermeidet und lieber von „Klima“, also von Wetterphänomenen spricht als vom Pneuma. Es ist eng mit dem Begriff der Seele verbunden.

Immer wieder stoße ich in der Philosophie und in der Politik auf die Behauptung, daß es auf den einzelnen Menschen nicht ankommt. In der Philosophie ist Erkenntnis bzw. ‚Wahrheit‘ mit dem Allgemeinen, mit der Gattung verknüpft. Und in der Politik lohnt es angeblich das Handeln nicht, wenn nicht alle mitmachen, wie man es zur Zeit insbesondere mit Blick auf den Klimawandel immer wieder hören kann. Es sind insbesondere die klassischen Bildungsphilosophen, die das Individuum ins Zentrum stellen. Sie sind es, die mich gelehrt haben, vom Individuum her und auf das Individuum hin zu denken. Deshalb bin ich immer verärgert, wenn ich bemerke, wie jemand versucht, Individualität zu dekonstruieren und damit auch zu delegitimieren.

Auch Hermann Schmitz gehört zu solchen Verächtern von Individuen und von Individualität. Schmitzens Definition von Gefühlen als von leiblichen Regungen unabhängigen Atmosphären bewegt sich mehr auf der Ebene von Pflanzen und Tieren als auf der Ebene des Menschen. (Vgl. Schmitz 2007, S.304) Wir haben es hier mit einem primären In-der-Welt-sein zu tun, zu dem es keine exzentrische Positionierung gibt. Für Schmitzens Atmosphäre gilt, was ich schon zu Sheldrakes morphogenetischen Feldern festgestellt hatte: beide dezentrieren das Subjekt und entlasten es so von Schuld und Verantwortung. (Vgl. meine Blogposts vom 01.02. und 08.02.2013) Das ist keine Anthropologie, für die ich mich begeistern kann.

Es ist tatsächlich nicht nur der Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand, wenn Schmitz gegen die Introjektion, also gegen die Vorstellung von Innenwelten polemisiert, den ich ihm vorwerfe. Seine Position ist darüberhinaus inkonsistent. Tatsächlich führt Schmitz selbst die Innen-Außen-Differenz unter dem Stichwort „personale Emanzipation“ wieder ein. (Vgl. Schmitz 2007, S.153ff.) Hier beschreibt er ausdrücklich, wie sich die Person (= Seele!) von der objektiven Umwelt als Subjekt abgrenzt:
„Mit dem Rückzug vom Objektivierten beginnt die Ausbildung des personalen Subjekts, das sich im subjektiv bleibenden Rest eine Domäne (= Innenwelt – DZ) verschafft und von dem, was nicht zu ihm gehört, abhebt.“ (Schmitz 2007, S.154)
Das personale Subjekt ist also genau das, was die Seele nicht sein darf. Schmitz geht sogar so weit, der Person ein Bewußtsein von subjektiver Dauer, also von einer sich in der Zeit durchhaltenden Identität zuzubilligen. (Vgl. Schmitz 2007, S.154) Damit bekommt das personale Subjekt fast schon etwas Dingliches. An dieser Stelle wird Schmitzens Polemik gegen die Seele gegenstandslos.

Darauf, daß Schmitz zufolge Gefühle „nicht als dessen (des Körpers – DZ) Zustand gespürt“ werden (vgl. Schmitz 2007, S.304), hatte ich schon hingewiesen. Noch deutlicher wird Schmitz im nächsten Satz: „Nicht das Gefühl ist eine leibliche Regung, wohl aber das Ergriffensein, das affektive Betroffensein vom Gefühl ...“ (Schmitz 2007, S.304)

Etwas sträubt sich in mir, Gefühle nicht als körperliche Zustände bzw. leibliche Regungen verstehen zu dürfen. Und ebenso sträubt sich etwas in mir, Gefühle und Ergriffensein für zwei verschiedene Phänomene zu halten. Diese Differenzierungen sind für meine Empfindung begriffliche Haarspaltereien. Sie widersprechen auch Antonio Damasios Feststellung, daß jedes Gefühl mit physiologischen Veränderungen im Organismus einhergeht, und jede physiologische Veränderung geht mit Emotionen bzw. mit Gefühlen einher. Helmuth Plessner bezeichnet die von Damasio beschriebenen physiologischen Prozesse als „Zustandssinne“, zu denen er neben Geruch, Geschmack und Getast auch die Eingeweide zählt. (Vgl. „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes“ (1980/1923), S.267f., S.289f.) Diese Zustandssinne decken den Bereich des Atmosphärischen bei Schmitz ab. Auch hier also zeigt sich, daß Schmitzens Thematisierung dieses Bereichs historisch gar nicht so einzigartig ist, wie er meint.

Damasio differenziert übrigens nochmal zwischen (unbewußten) Emotionen und (bewußten) Gefühlen; eine Differenzierung, der ich folgen kann. Möglicherweise läßt sich Damasios Differenzierung zwischen Emotionen und Gefühlen mit Schmitzens Formulierung vereinbaren, daß Gefühle nicht als konkret verortbare körperliche Zustände „gespürt“ werden. Daß sie aber keine leiblichen Regungen sind, ist mit Damasio nicht vereinbar.

Abgesehen von der ethischen Problematik (Schuld, Verantwortung) stört es mich auch, daß Gefühle, die keine leiblichen Regungen sind, argumentationsstrategisch Wasser auf die Mühlen der KI-Forscher sind, die von einer substratunabhängigen Super-Intelligenz träumen.

Trotzdem ist etwas dran am Begriff der Atmosphäre. Schmitzens Definitionen machen insofern einen Sinn, als er zwischen Gefühlen unterscheidet, die andere haben und die wir lediglich mitempfinden, und Gefühlen, von denen wir selbst ergriffen sind. Allerdings würde ich dann den Begriff der Atmosphäre für solche mit anderen geteilten Gefühlen, die wir nicht unbedingt selbst haben müssen, reservieren. Gefühle von denen wir auf spezifische Weise selbst ergriffen sind, sind leiblich gebunden und nicht atmosphärisch ausgedehnt.

Die leiblichen Regungen, also unsere physiologischen Bedürfnisse, zu denen ich auch das sexuelle Begehren zähle, sind zwar auch Gefühle; aber von ihnen wissen wir genau, woher sie kommen. Die Gefühle als Atmosphäre hingegen durchdringen uns von allen Seiten, ohne daß wir sie immer einem Ausgangspunkt zuordnen können.

Ich würde deshalb zwischen drei Arten von Gefühlen unterscheiden: a) den körperleiblichen Regungen; b) die Gefühle, die wir empathisch an anderen wahrnehmen und mitempfinden können, ohne von ihnen ergriffen zu sein; c) die Gefühle, von denen wir gemeinsam mit anderen, als Gruppe, ergriffen werden. Die letzten beiden, b und c, sind atmosphärischer Natur.

„Leibliche Regungen“ ist mißverständlich; denn anders als Schmitz meint, sind auch die atmosphärischen Gefühle mit leiblichen Regungen verbunden. Deshalb verwende ich lieber das Wort ‚körperleiblich‘. Es ist enger an die individuelle Körperleiblichkeit des Einzelnen gebunden.

Mit gefällt diese Differenzierung zwischen körperleiblichen und atmosphärischen Gefühlen so gut, weil sie es erlaubt, zwischen sexuellem Begehren und Liebe zu unterscheiden. Das sexuelle Begehren ist eine körperleibliche Regung. Die Liebe hingegen ist atmosphärisch, weil sie an einen anderen Menschen gebunden ist und sie uns überkommt wie eine Krankheit. Tatsächlich beschreibt Schmitz selbst das Atmosphärische als Krankheitsherd, also als einen viralen Effekt, der in uns von außen eindringt. (Vgl. Schmitz 2007, S.18, 200 u.ö.)

Wir fühlen uns der Liebe mehr ausgeliefert als dem sexuellen Begehren, das schnell und restlos befriedigt werden kann wie andere physiologischen Bedürfnisse auch. Kommt aber die Liebe hinzu, dauert sie an und läßt sich durch einzelne Akte des Gebens und Nehmens nicht befriedigen. Aufgrund der engen Beziehung zwischen sexuellem Begehren und Liebe bleibt deshalb nach dem Orgasmus, wo die Liebe fehlt, trotz der physiologischen Befriedigung oft ein schales Gefühl der Leere zurück, weil man sich unwillkürlich fragt, ob das denn schon alles gewesen ist.

Abschließend halte ich fest, daß Hermann Schmitzens „Neue Phänomenologie“ thematisch von der üblichen phänomenologischen Praxis abweicht, das Bewußtsein ins Zentrum unseres Interesses zu stellen. ‚Phänomenologisch‘ ist sein Ansatz nur in dem Sinne, als er sich methodisch an der phänomenologischen Skepsis gegenüber anschauungsfernen Begriffskonstruktionen orientiert. An die Stelle des Bewußtseins und klassischer Vorstellungen von einer substantiellen Seele setzt Schmitz Gefühle, die er als leiblich ungebundene ‚Atmosphären‘ beschreibt. Denn mit der Verabschiedung einer körperlich-dinglichen Seele geraten alle leiblichen Regungen als bloß physiologische Funktionen unter den Verdacht eines naturwissenschaftlichen Reduktionismusses, der Körperdinge als mathematisch abbildbare Quantitäten definiert und alle ‚Qualia‘ als bloß ‚sekundär‘ im Abfallbehälter ‚Seele‘ deponiert.

Helmuth Plessner bezeichnet diese Ablehnung des Seelenbegriffs als „Anticartesianismus“ und beschreibt diesen als Versuch, „in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückzugehen. So lasse sich der „Anschein einer ursprünglichen Problemlosigkeit der menschlichen Seinssituation erzeugen, jedenfalls im Hinblick auf das Verhältnis der Psyche bzw. des Menschen zum Körper.“ (Vgl „Lachen und Weinen“ (1950 (1941), S.39)

Schon Schmitzens phänomenologische Vorläufer hatten durchaus darauf hingewiesen, daß „Daten des inneren Sinnes“, wie Blumenberg in „Beschreibung des Menschen“ (2006) festhält, „keine räumliche Bestimmtheit haben müssen“, also nicht als Dinge aufzufassen sind. (Vgl. Blumenberg (2006), S.233) Dennoch haben wir es bei der „inneren Erfahrung“, so Blumenberg weiter, mit einem „Etwas“, also mit einem Phänomen, „im vollen Verstande“ zu tun. Mit anderen Worten: anders als Schmitz meint, stoßen wir bei inneren Erlebnissen nicht auf lauter Hirngespinste. Ähnlich wie Schmitz spricht Helmut Plessner im Zusammenhang mit dem „präsentativen Bewußtsein“ von den „Zustandssinnen“, die nicht auf Gegenstände ausgerichtet sind, was dem Atmosphärischen entspricht, ohne dabei aber den Begriff der Intentionalität als irrelevant zu verabschieden. (Vgl. meine Posts vom 30.01.2012) Letztlich reicht Schmitzens Begriff der „Atmosphäre“ weit in die abendländisch-griechische Begriffstradition zurück, bis hin zum „Pneuma“ der alten griechischen Philosophen. Schmitz kann also für sein phänomenologisches Konzept nicht in Anspruch nehmen, ‚neu‘ zu sein.

Letztlich gibt Schmitz meiner Ansicht nach – obwohl er den Begriff der Seele ablehnt – vor allem bei der Differenzierung zwischen Gefühlen, von denen wir selbst ergriffen sind, und Gefühlen, die wir an anderen Menschen wahrnehmen, ohne von ihnen ergriffen zu sein, einen neuen Ausblick auf das Verhältnis von physiologischen und seelischen Bedürfnissen wie etwa bei der Sexualität und der Liebe. Vielleicht ist Schmitz deshalb bei Psychologen und in der Therapieszene so beliebt. Allerdings haben die Psychologen ihren eigenen Reduktionismus, da sie seltsamerweise – ähnlich wie Schmitz – von der Psyche nichts wissen wollen.

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Dienstag, 1. Oktober 2019

Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018 (2016)

Eine Freundin fragte mich vor einigen Monaten, ob ich Hartmut Rosa kenne, was ich verneinen mußte. Die Freundin, wohl wissend, daß ich seit über neun Jahren einen Blog mit Rezensionen zu Büchern quer durch die Wissensgebiete fülle, brachte mit unverhohlener Schadenfreude ihr Erstaunen über meine Unbedarftheit zum Ausdruck. Das war’s dann auch schon. Ich nahm ihr das nicht weiter übel. Unser Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Aber den Namen merkte ich mir.

Jetzt habe ich mir Rosas Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (3/2018) zugelegt, und ich möchte hiermit auch gleich meine Eindrücke zum Besten geben, um zu zeigen, daß die von meiner Freundin aufgedeckte Wissenslücke nicht mehr besteht.

Das erste, was mir auffällt, ist der Optimismus des Professors für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Rosa geht es um eine Soziologie des gelingenden Lebens. Trotzdem stellt er sich gleichzeitig in die Tradition der Kritischen Theorie. (Vgl. Rosa 2018, S.36) Ein natürlicher Partner in dieser Traditionslinie ist Jürgen Habermas mit seiner Konsensorientierung, ein natürlicher Gegner Theodor W. Adorno mit seinem bekannten Ausspruch, daß es kein richtiges Leben im falschen geben könne.

Nun hat Adorno, wie ich glaube, diesen Ausspruch getan, damit ihm widersprochen werde. So ein Satz kann einfach nicht unwidersprochen bleiben. Wo es keine Lebensmöglichkeit mehr gibt, bleibt nur noch der Strick. Hartmut Rosa widerspricht also und setzt seine Resonanztheorie dagegen. Er behauptet, daß es ein gelingendes Leben gebe – im Sinne einer ‚Resonanz‘ zwischen Mensch und Welt – und daß man sogar wissen könne, wie es aussieht. Allerdings verfährt er dabei nach einem schwarz-weiß-Schema, in dem das gelingende Leben kein Mißlingen kennt und das mißlingende Leben kein Gelingen. Seine Beispiele, Anna (gelingendes Leben) und Hannah (mißlingendes Leben), sind allzu einfach gestrickt. (Vgl. Rosa, S.20ff.) Zwar korrigiert Rosa später dieses starre Schema, indem er auf die Notwendigkeit von Entfremdungserfahrungen verweist, die die totalitäre Tendenz einer auf Gelingen fixierten Lebensführung brechen (vgl. Rosa S.59f.u.ö); aber die Entfremdung wird dadurch bestenfalls zum Instrument einer sozialen Gelingensbildung, die den anthropologischen Einsichten von Denkern wie Helmuth Plessner oder Hans Blumenberg in die Entfremdungsstrukturen des Mensch-Weltverhältnisses nicht gerecht wird. Wie übrigens Rosa selbst implizit eingesteht, wenn er sein Unverständnis für Plessners ‚einseitige‘ Fixierung „auf die Aspekte der Störung und Irritation in der Weltbeziehung“ zum Ausdruck bringt. (Vgl. Rosa 2018, S.134)

Auch ich widerspreche Adornos Postulat zum notwendigerweise falschen Leben, begründe meinen Widerspruch aber anders: es gibt die Chance auf ein gelingendes, richtiges Leben, weil der Mensch ein Anachronismus ist. Er paßt nie genau in die Zeit, in der er lebt; und wenn er aus dem (falschen) Zeitgeist herausfällt, wird gelingendes Leben möglich. Mein Begriff des Anachronismusses entspricht dem Adornoschen Begriff der Nicht-Identität.

Sogar Rosa spricht von „Rissen und Brüchen des gesellschaftlichen Denkens, Handelns und Erlebens“, in denen sich die „primordiale Resonanzfähigkeit des Menschen und der Welt“ zeigt. (Vgl. Rosa 2018, S.582) Aber, anders als Rosa meint, scheint in diesen „Rissen und Brüchen“ nicht einfach nur geradehin eine Möglichkeit auf. Wir haben es bei ihnen vielmehr mit einer grundlegenden Brechung unserer individuellen Intentionalität zu tun, die sich nicht einfach harmonisierend überwinden läßt, sondern bestenfalls zu einer zweiten Naivität führt, in der wir um ihre Gebrochenheit wissen. Bei dieser zweiten Naivität geht es eben nicht mehr um eine undifferenzierte, pauschal angesetzte „primordiale Resonanzfähigkeit“, sondern um die Entwicklungsebene von Individuen. Aber der Soziologe Rosa vernachlässigt diese Ebene. Ihm zufolge kommt es auf die Individuen nicht an, sondern nur auf die Kultur bzw. auf die Gesellschaft. (Vgl. Rosa 2018, S.33f., 43, 58, 70 u.ö.)

Dazu paßt, daß Identität für Rosa ein zweifelhafter Begriff ist, der Dauerhaftigkeit vortäuscht, wo Wandel die Regel ist. (Vgl. Rosa 2018, S.43) Unter diesen Zweifel fällt dann auch die Vorstellung von einer ‚Seele‘ als einer geistigen Substanz, wie sie seit Platon das christliche Abendland prägt. Aber es ist nicht phänomenologisch, die Vorstellung von einer ‚Seele‘ damit gleich in Bausch und Bogen zu verwerfen. Wir müssen nicht gleich an eine unvergängliche seelische Substanz glauben, wenn wir uns selbst als Körperdinge erleben und es vor allem die Dinge um uns herum sind, denen wir eine zeitliche Dauer ansehen, die dem Wandel zumindestens für einen begrenzten Zeitraum zu widerstehen scheinen.

Im Gegensatz zu diesen Dingen sind es die Flüssigkeiten und Gase, denen wir Vergänglichkeit und Unbeständigkeit ansehen; eine Option, für die sich Hermann Schmitz, mit dem ich mich im nächsten Blogpost befassen werde, entschieden hat. An uns selbst haben wir die Anschauung eines festen Körpers und die Erfahrung einer Dauer unseres Ichs, woraus sich wiederum die Vorstellung einer Ich-Identität ergibt. Das hat etwas Dinghaftes. Die Vorstellung einer dinglichen Seele ist also lebensweltlich begründet. Und mehr braucht ein Phänomenologe nicht, um dieses Thema ernstzunehmen.

Ich selbst bin der Meinung, daß die Seele ihre Herkunft aus der Lebenswelt hat und sich an der Grenze zwischen Innen und Außen individualisiert. Deshalb definiere ich sie mit Plessner nicht als Ding, sondern als ein Verhalten auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Die Vorstellung einer fortdauernden Ich-Identität verbinde ich mit der exzentrischen Positionalität des Menschen. Sie ist außerzeitlich und nicht-örtlich und deshalb andauernd.

Bei aller Wandelbarkeit unseres Auftretens bleibt die Ich-Identität immer dieselbe, ohne daß wir von einer Ich-Substanz ausgehen müssen. ‚Transzendental‘ meint nicht ‚transzendent‘. Es handelt sich hier lediglich um eine Bewußtseinsfunktion. Das hat nichts mit irgendeinem „Authentizitätsterror“ zu tun, wie Rosa Michel Foucault zitiert. Gerade weil wir raumlos und zeitlos hinter (und neben) uns stehen und deshalb auch nicht authentisch sein können, sondern exzentrisch zu uns und der Welt positioniert sind, bleiben wir immer ‚dieselben‘: nämlich als diejenigen, die sich, mit Plessner gesprochen, zu allem, was ihnen widerfährt, ‚positionieren‘ können. Das ist eine Bewußtseinsleistung. Kant bezeichnet das mit Bezug auf René Descartes als das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption.

In „Beschreibung des Menschen“ (2006) hält Hans Blumenberg fest, daß „Daten des inneren Sinnes ... keine räumliche Bestimmtheit haben müssen“ – also auch im Sinne von Rosas Hinweis darauf, daß wir ständigem Wandel unterliegen und es keine dauerhafte Identität (und deshalb auch keine Seele) gebe –, sei kein Beleg dafür, daß das „physische Körperding“ für die (innere) Bestimmung des Menschen keine Bedeutung hat:
„Die Gegebenheiten des inneren Sinnes, der inneren Erfahrung, sind Etwas im vollen Verstande, nicht nur so etwas wie Etwas für das, was in der Welt vorkommt.“ (Blumenberg 2006, S.333)
Mit anderen Worten: Unsere inneren Bewußtseinsprozesse beinhalten selbst Phänomene, die wir als solche ernstzunehmen haben, und sie bilden nicht nur Außenweltphänomene ab. Es gibt eine von der Außenwelt sich unterscheidende innere Welt. Und diese innere Welt ist individuell oder sie ist nicht innen. Kollektiv geteilte Welten mögen vielleicht subjektiv sein, aber sie sind immer nur außen. Zwischen innen und außen verläuft dieselbe Grenzlinie wie zwischen privat und öffentlich.

Für die gesellschaftliche Perspektive sind Individuen wie überhaupt das Scheitern und der Tod des Einzelnen wenig relevant. Im Grunde ist Rosas Resonanztheorie nur eine aufwendig begründete, mit Entfremdungsmomenten angereicherte Wohlfühlphilosophie. Was Rosa als Resonanzphänomene beschreibt, ist letztlich nichts anderes als die gute alte Lebenswelt (Husserl/Blumenberg), ohne daß Rosa ihrem Höhlencharakter gerecht wird.

Tatsächlich erwähnt Rosa selbst die Kritik an der Harmonielastigkeit seiner Resonanztheorie. (Vgl. Rosa 2018, S.740) Er erwidert, daß auch Adorno von „Mimesis“ spricht, und Mimesis meine auch nichts anderes als Resonanz. (Vgl. Rosa 2018, S.584f.) Ich würde sogar ergänzen, daß es Parallelen zwischen Rosas Resonanz und Michael Tomasellos Rekursivität gibt, die in meinem Blog eine wichtige Rolle spielt. Allerdings beinhaltet diese Rekursivität, wie ich sie verstehe, eine Sphären bzw. Ebenen des Bewußtseins überschreitende Dynamik; ein Aspekt, der der Rosaschen Resonanz fehlt. Doch abgesehen von diesen (eingeschränkten) Parallelen zur Mimesis und zur Rekursivität fehlt dem Rosaschen Konzept ein gewisser anthropologischer Realismus, so daß man es eben doch als harmonistisch bezeichnen muß.

Rosa verortet die Entfremdung nicht anthropologisch, sondern beschreibt sie lediglich als sozialen Prozeß. (Vgl. Rosa 2018, S.741) Tatsächlich ist sie, auch als soziohistorisches Phänomen, aber in der exzentrischen Positionalität des Menschen begründet. Rosas Verbindung des Entfremdungsphänomens mit der „Fähigkeit zur Resonanzverweigerung“ (vgl. ebenda) läßt sich auch als eine Form des Herausfallens aus der Lebenswelt beschreiben. Wir haben es hier insofern mit einem anthropologisch begründeten Anachronismus zu tun, als er dem Menschen schon immer innewohnte und frühestens mit der Einführung der Schrift vor 5000 Jahren zum Vorschein und in der Moderne zur vollen Entfaltung kam.

Rosa verfehlt die individuelle Entwicklungsebene, weil er die Resonanzverweigerung nur als gegenseitige Abgrenzung von Gruppen beschreibt, nicht aber als individuelle Option. (Vgl. Rosa 2018, S.742) In dem Beispiel mit den beiden Nachbarn, die sich grüßen und der eine den anderen auf das heiße Wetter anspricht, während der andere kontert, daß die Juden daran schuld seien, was wiederum eine Abwendung des einen zu Folge hat, versucht zunächst der andere seinen Nachbarn für sein antisemitisches Gruppen-Wir zu vereinnahmen. Dieser Nachbar aber, der nur über das Wetter hatte reden wollen und im übrigen nichts anderes als einfach nur nett sein wollte, grenzt sich jetzt verständlicher Weise gegen dieses ihm zugemutete antisemitische Gruppen-Wir ab, um, wie Rosa schreibt, seine intersubjektiven Resonanzbeziehungen zu „anderen (‚belebten‘) Weltausschnitten“ (Rosa 2018, S.742), sprich Gruppen-Wirs, nicht zu gefährden.

An keiner Stelle haben wir es hier mit der zweitpersonalen Beziehung zwischen Ich und Du zu tun, und deshalb auch nicht mit einer individuellen Entwicklungs- bzw. Prozeßebene. Der Soziologe Hartmut Rosa kennt nur die drittpersonale Ebene von Kultur und Gesellschaft. Dem Menschen, in dem immer drei Entwicklungsebenen, die Biologie, die Kultur und das Individuum, zusammenkommen müssen, um als Mensch in Erscheinung zu treten, wird Rosa mit seiner Resonanztheorie nicht gerecht.

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Sonntag, 1. September 2019

Kinderwunsch

Svenja Flaßpöhlers und Florian Werners Buch „Zur Welt kommen. Elternschaft als philosophisches Abenteuer“ (2019) ist geistreich und amüsant. Es regt gleichermaßen zum Nachdenken und Schmunzeln an und widerlegt en passant am Beispiel der eigenen Kinder des Autorenpaares den Poststrukturalismus und den Genderfeminismus. In folgender Textstelle hebt Flaßpöhler die überragende Bedeutung der Mutterschaft im Vergleich zur Vaterschaft hervor:
„Denn ja, es gibt in sexueller Hinsicht eine Unwucht durch die kaum zu leugnende, ungleich größere und – schnallt euch an, liebe Postfeministinnen – biologisch begründete körperliche Nähe zwischen Kind und Mutter in den ersten Lebensjahren.“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.67)
Aufgrund dieser biologisch begründeten Unwucht zwischen Mutterschaft und Vaterschaft plädiert Flaßpöhler sogar für eine symbolische Aufwertung des Vaters, der den Kindern wenigstens seinen Namen überlassen können soll, um auch eine gewisse Rolle im Leben der Kinder zu spielen. Dieser Vater, Florian Werner, will diese Notwendigkeit allerdings nicht so recht einsehen, was Flaßpöhler zu dem Stoßseufzer veranlaßt: „Versteh einer die Männer.“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.87)

Was würde Judith Butler dazu sagen? In ihrem Essay „Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?“ in „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (Frankfurt a.M. 2009, S.167ff.) verweist sie auf die französische Philosophin Sylviane Agacinsky, die in einem Leitartikel im „Le Monde“ den Geschlechtsunterschied ganz ähnlich wie Flaßpöhler als „unwiderlegbar biologisch“ bezeichnet hatte. (Vgl. Butler 2009, S.194) Agacinsky wertet allerdings gleichzeitig nicht-heterosexuelle Verwandtschaftsstrukturen ab, indem sie Homosexuellen die Befürwortung „‚unnatürliche(r)‘ Praktiken“ vorwirft, insbesondere was die positive Bewertung biotechnologischer Reproduktionsmethoden betrifft. (Vgl. Butler 2009, S.205f.) Das macht es Butler wiederum leicht, Agacinsky vorzuwerfen, an der „Wiederkehr des Faschismus“ beteiligt zu sein. (Vgl. ebenda)

Geht’s auch eine Nummer kleiner? Dieser automatische Reflex, alle möglichen Formen der Technologieverweigerung dem Faschismusverdacht auszusetzen, ist weniger ideologiekritisch begründet, als vielmehr Symptom einer Diskussionsverweigerung. Mir geht es hier nicht darum, Agacinskys Position gegenüber der Homosexualität zu verteidigen. Aber nicht alles, was der Durchsetzung von wie auch immer begründeten ‚Rechten‘ zu dienen scheint – wie etwa die biotechnologisch ermöglichte Bereitstellung von Nachkommenschaft, damit auch Homosexuelle in den Genuß einer durch Blutsbande gestifteten Familie gelangen können –, ist politisch und moralisch tatsächlich auch begrüßenswert.

Judith Butler macht es sich allzu leicht, Agacinskys Position politisch zu verwerfen und einen Nexus zwischen der zwangsheterosexuellen Matrix, der Technologieskepsis und der Homosexuellenfeindlichkeit zu unterstellen. Wozu dann auch die skeptische Haltung von Flaßpöhler und Werner gegenüber reproduktionstechnologischen Eingriffen zu zählen wäre. Als die beiden sich ein zweites Kind wünschen und dieses Kind auf sich warten läßt, verweigern sie sich der technologischen Option:
„Ich wollte mich nicht auf einen Frauenarztstuhl setzen und von einer Spritze befruchten lassen. Allein die Vorstellung empfand ich als erniedrigend, demütigend, würdelos.“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.112)
Dieser für mich sehr nachvollziehbaren Einstellung zum Kinderwunsch als etwas, dessen Erfüllung letztlich dem Zufall überlassen bleiben sollte – als eine natürliche Grenze jeder Familienplanung –, entspricht Agacinskys Festellung, daß es „kein absolutes Recht auf ein Kind gibt“. (Vgl. Butler 2009, S.194) – Um dieser Meinung zu sein, muß man nicht homosexuellenfeindlich sein. So wenig wie Flaßpöhlers Ansicht, daß Mutterliebe das Normale sei und die Ablehnung des eigenen Kindes eine Abweichung von diesem Normalfall bilde, frauenfeindlich ist:
„Ist es wirklich überzeugend, im Zuge postmoderner Hegemoniekritik jede Abweichung nachgerade reflexhaft zu entpathologisieren?“ (Flaßpöhler/Werner 2019, S.50)
Ich denke schon, daß es Formen des Begehrens gibt, die als pathologisch begriffen werden sollten. Was ist z.B. von ‚Müttern‘ zu halten, die gemeinsam mit ihren Partnern die eigenen Kinder für Sex verkaufen? Oder man denke an die 1980er Jahre, als die Parteitage der Grünen von Vertretern der Pädophilenbewegung, die für ein Recht auf Sex mit Kindern eintrat, gekapert wurden? Von hier läßt sich die Linie weiterziehen zu den Mißbrauchsfällen in der Odenwaldschule: es waren maßgebliche Persönlichkeiten der sogenannten Landerziehungsheimbewegung, die Pädophilie als Qualifikationsmerkmal von Erziehern und Lehrern einstuften. – Zu den pathologischen sexuellen Orientierungen zählt auf jeden Fall der Mißbrauch von Kindern.

Für die meisten Formen des Begehrens jenseits der zwangsheterosexuellen Matrix gilt allerdings die Gleichwertigkeit. Davon bin ich überzeugt. Zu diesen einander gleichwertigen sexuellen Orientierungen gehört aber auch die Heterosexualität selbst, solange sie sich nicht als Teil der zwangsheterosexuellen Matrix zu erkennen gibt.

Ansonsten stimme ich Agacinsky ausdrücklich darin zu, daß es kein absolutes Recht auf Kinder gibt. Wenn Menschen, insbesondere Männer, unbedingt und um jeden Preis Kinder haben wollen, frage ich mich, welches Konzept von Selbsthabe dahintersteht; welches Verständnis von Eigentumsverhältnissen. Es gibt kein Recht auf Kinder, weder für homosexuelle noch für heterosexuelle Paare. Nicht in dem Sinne, daß sich daraus ein Recht auf die Bereitstellung und Bezahlung von Reproduktionstechnologien ableiten ließe. Allenfalls ließe sich für Frauen ein Recht auf Kinder begründen; aber auch hier kann es nur eingeschränkt gelten und nicht absolut. Es kann beim Kinderwunsch nicht um die Durchsetzung eines Willens um jeden Preis gehen! – Es gibt ‚Wunschkinder‘, die als Instrumente zur Kinderwunscherfüllung der Eltern dienen. Auch das ist Mißbrauch.

Es gibt so wenig ein Recht auf Kinder, wie es überhaupt ein Recht auf andere Menschen gibt. Wenn sich mir ein Mensch ‚gibt‘, so ist das eine Gabe. Aber es ist kein Recht! Dasselbe gilt für den Kinderwunsch.

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Montag, 5. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Den Begriff „Expressivität“ verwendet Judith Butler in dem Sinne, wie Molekularbiologen von „Genexpression“ sprechen: als ursächliche Verbindung von biologischen Anlagen und Persönlichkeitsentwicklung. So heißt es z.B. über die Geschlechtsidentität (Gender):
„Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, die als expressive Attribute des biologischen ‚Männchens‘ (male) und ‚Weibchens‘ (female) verstanden werden.“ (Butler 1991, S.38)
Dabei gibt es bei Butlers kategoralen Bestimmungsversuchen eines Kollektivsubjekts „Frau(en)“ durchaus Parallelen zu Plessners Version von Expressivität als der Differenz zwischen Sagen und Meinen:
„Es wäre falsch, von vornherein anzunehmen, daß es eine Kategorie ‚Frau(en)‘ gibt, die einfach mit verschiedenen Bestandteilen wie Bestimmungen der Rasse, Klasse, Alter, Ethnie und Sexualität gefüllt werden muß, um vervollständigt zu werden. Wenn man dagegen die wesentliche Unvollständigkeit dieser Kategorie voraussetzt, kann sie als stets offener Schauplatz umkämpfter Bedeutungen dienen. Die definitorische Unvollständigkeit der Kategorie könnte dann als normatives Ideal dienen, das von jeder zwanghaften Einschränkung befreit ist.“ (Butler 1991, S.35)
Diese definitorische Unvollständigkeit überträgt Butler dann in ihrem Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009) auch auf die „Kategorie des Menschlichen“:
„... die Geschichte der Kategorie ist nicht abgeschlossen, und das ‚Menschliche‘ ist nicht ein für alle Mal erfasst.“ (Butler 2009, S.28)
Diese definitorische Unvollständigkeit der Kategorien „Frau(en)“ und des „Menschlichen“ steht für Plessners Differenz zwischen Sagen und Meinen: wenn wir vom Menschen reden, meinen wir stets mehr, als wir sagen. Humanität beinhaltet eine Perspektive auf eine offene, unabschließbare Zukunft.

An die Stelle des Begriffs „Expressivität“, auf den Judith Butler verzichtet, treten Begriffe wie „Repräsentativität“ und „Performativität“. Mit beiden Begriffen sind nicht Einzelsubjekte gemeint, sondern Kollektivsubjekte, die politische Forderungen stellen und auf der gesellschaftlichen Bühne agieren. Von diesen beiden Begriffen interessiert mich vor allem der Begriff der „Performativität“. Damit ist gemeint, daß Geschlechtsidentitäten Inszenierungen bilden, die durch rituelle Wiederholung Normativität erlangen:
„In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht. Die Forderung, die Kategorie der Geschlechtsidentität außerhalb der Metaphysik der Substanz neu zu überdenken, muß auch die Tragweite von Nietzsches These in Betracht ziehen, daß es kein Seiendes hinter dem Tun gibt, daß die ‚Täter‘ also bloß eine Fiktion (sind), die Tat dagegen alles ist.“ (Butler 1991, S.49)
Butlers Konzeption der Performativität entspricht der Plessnerschen Vorstellung von der Gesellschaft als Bühne. (Vgl. Helmuth Plessner: „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924)) Beide beschreiben die gesellschaftliche Praxis als eine Maskerade, und bei beiden hat diese Maskerade ein subversives bzw. emanzipatorisches Potential. Allerdings geht Butler beim Träger dieser subversiven Praxis von einem Kollektivsubjekt aus, das sich aus den verschiedenen Milieus von Schwulen, Lesben und anderen sexuell und anderweitig diskriminierten Gruppen hinsichtlich Rasse, Klasse und Ethnie zusammensetzt. (Vgl.u.a. Butler 1991, S.35)

Indem die diskriminierten Milieus mit den Geschlechtsnormen der zwangsheterosexuellen Gesellschaft spielen, unterminieren sie deren starre Struktur und entlarven sie als arbiträren Effekt:
„Die Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität sind gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten zu sehen, d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt.“ (Butler 1991, S.207)
Dabei ist es weniger das einzelne Individuum, das sich hinter diesen Masken verbirgt – „Täter“ sind eine bloße „Fiktion“ (vgl. Butler 1991, S.49) –, als vielmehr die „parodistische Vervielfältigung“ und das „subversive() Spiel der kulturell erzeugten Bedeutung“, von denen die befreiende Wirkung ausgeht und die die Partizipationsmöglichkeiten am „Feld der Macht“ erweitern. (Vgl. Butler 1991, S.190)

Bei Plessner hingegen ist es das Individuum, das sich emanzipiert, weil es auf der gesellschaftlichen Bühne Rollen spielen und Masken tragen kann, die es vor dem totalisierenden Zugriff der Gesellschaft schützen. Zugleich kann es sich in diesem Rollenspiel ausprobieren und sein individuelles Potential entwickeln und entfalten. Für diese Sichtweise auf das gesellschaftliche Rollenspiel ist aber die Differenz zwischen Sagen und Meinen unerläßlich. Denn sie schützt die Seele als „noli me tangere“ vor dem kalten Licht der Öffentlichkeit. Das Individuum spielt seine gesellschaftlichen Rollen, ohne sich mit ihnen identifizieren zu müssen.

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Sonntag, 4. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Die Kategorie „Frau(en)“ wie auch die „Kategorie des Menschlichen“ sind in Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) beide durch Abwesenheit gekennzeichnet. Wobei sie auf verschiedene Weise ‚abwesend‘ sind, denn für die Kategorie des Menschlichen muß ich mich auf Butlers Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009/2004, S.28) beziehen. In „Das Unbehagen der Geschlechter“ kommt sie schlicht nicht vor.

Die Kategorie „Frau(en)“ hingegen ist selbst auch auf verschiedene Weise abwesend; ihre Abwesenheit ist aber explizites Thema. Zum einen ist sie bei Lévi-Strauss abwesend, weil sie zwar als „Braut“ vorkommt, aber nur als Tauschobjekt. (Vgl. Butler 1991, S.69) Als solches wird sie von ihrer Herkunftssippe zur Sippe ihres künftigen Mannes weitergereicht. Bis in unsere heutige Zeit ist es üblich, daß Frauen deshalb auch den Namen ihrer Männer annehmen müssen, wodurch sie als Individuen unsichtbar gemacht werden.

Eine weitere Form ihrer Abwesenheit ist sprachlicher Natur. Luce Irigaray verweist auf den „Phallogozentrismus“ der französischen, englischen und deutschen Sprachen, in denen die Frau als Substantiv – grammatisches Substitut für ‚Substanz‘ – nicht vorkommt. ‚Phallogozentrismus‘ setzt sich zusammen aus Phallus und Logos. Die Sprache setzt Menschsein mit Mannsein gleich, was impliziert, daß die Frau durch die Sprache nicht ‚repräsentiert‘ wird:
„In einer durchgängig maskulinen, phallogozentrischen Sprache stellen sie (die Frauen – DZ) das Nichtrepräsentierbare dar. Anders formuliert: Sie repräsentieren das Geschlecht, das nicht gedacht werden kann – eine sprachliche Abwesenheit oder einen dunklen Fleck in der Sprache.“ (Butler 1991, S.28)
Eine dritte Form der Abwesenheit besteht in der Gleichsetzung des Weiblichen mit Körper bzw. Körperlichkeit. Das männliche Subjekt ist abstrakt und universell, das Weibliche ist partikular und körperlich:
„Dieses (männliche – DZ) Subjekt ist insofern abstrakt, als es seine gesellschaftlich markierte Leiblichkeit verleugnet und weiterhin diese verleugnete und verworfene Leiblichkeit in das weibliche Subjekt projiziert, indem es den Körper gleichsam zu etwas Weiblichem umtauft.“ (Butler 1991, S.30)
Nun bildet aber das Körperliche Butler zufolge eine leere Hülle (Oberfläche) und wird nur zum Zwecke der Stabilisierung der zwangsheterosexuellen Matrix mit einer Seele begabt, die Butler als „machtvolle Unsichtbarkeit“ bezeichnet, die den Körper in ein „vitales, heiliges, eingezäuntes Gebiet“ verwandelt:
„Die Seele ist gerade das, was dem Körper fehlt; d.h., der Körper präsentiert sich selbst als ein Bedeutungs-Mangel (signifying lack): Dieser Mangel, der der Körper ist, bezeichnet die Seele als das, was nicht erscheinen kann.“ (Butler 1991, S.199)
Auch hier wird also das Weibliche bzw. die Frau via Körper/Körperlichkeit mit einer Kategorie verglichen, die durch einen Mangel, eine Abwesenheit gekennzeichnet ist und gerade dadurch die heterosexuellen Machtstrukturen stabilisiert.

Vom Menschlichen ist, wie gesagt, nicht die Rede und vom Humanismus nur als etwas, das als vergangen und abschaffenswert gilt. Anders als Monique Wittig geht Butler davon aus, „daß es keinen ‚Täter hinter der Tat gibt‘“. (Vgl. Butler 1991, S.49f. und S.209) Nun ist es aber interessant, daß Butler in ihrem schon erwähnten Buch über die „Macht der Geschlechternormen“ (2009) die „Kategorie des Menschlichen“ für überdenkenswert hält, wenn auch nicht ohne den Zusatz, daß es „keine Rückkehr zum Humanismus“ geben könne bzw. dürfe. (Vgl. Butler 2009, S.27f.) Immerhin gesteht sie ein, daß es „schwer, wenn nicht gar unmöglich“ sei, die Freiheit und Unversehrtheit sexuell divergenter Menschen zu fordern, „ohne sich dabei auf die Autonomie zu berufen, insbesondere auf einen Sinn von körperlicher Autonomie“. (Vgl. Butler 2009, S.40) – Mit diesem Eingeständnis steht Butler im Zentrum eines Humanismusses, den sie zugleich hartnäckig zu leugnen versucht.

Insgesamt wird in diesem Buch ein neuer Ton hörbar, der in „Das Unbehagen der Geschlechter“ völlig fehlt. So spricht Judith Butler von der fundamentalen Bedeutung der „Trauer“, als einem Gefühl, das unsere Beziehung zu Menschen betrifft, die von uns gegangen sind und die wir schmerzlich vermissen. (Vgl. Butler 2009, S.36ff.) Butler versucht, die politische Dimension dieses Trauergefühls zu erschließen, stößt dabei aber auf das Problem, daß der Mensch, den wir vermissen, nur im Singular vorkommt und außerhalb der Gemeinschaft steht. Butler versucht deshalb eine andere Form der Gemeinschaft zu denken, eine Gemeinschaft, die nicht inklusiv ist:
„Ich denke, wenn ich immer noch zu einem ‚wir‘ sprechen kann, in das ich mich selbst einschließen kann, spreche ich zu denjenigen unter uns, die in bestimmten Hinsichten außer sich leben, sei es in sexueller Leidenschaft, emotionaler Trauer oder politischem Zorn. In einem gewissen Sinne besteht die Schwierigkeit darin, zu verstehen, welche Art von Gemeinschaft diejenigen bilden, die außer sich sind.“ (Butler 2009, S.39)
Was bedeutet es, Menschen einzuschließen, die „außer sich“ sind? Ist das ein Paradox oder eine Aporie? Ich habe den Eindruck, daß es Butler hier gar nicht um Gemeinschaftbildung geht, schon gar nicht um politische Gemeinschaftsbildung, sondern um Zweitpersonalität, also um die Beziehung zwischen Ich und Du. So formuliert sie z.B. das Begehren nicht mehr im „Feld der Macht“, sondern als Ohnmacht dem anderen Menschen gegenüber:
„Man bleibt nicht immer intakt. Vielleicht will man das oder bleibt es, aber es kann auch so sein, dass man trotz aller Anstrengungen aufgelöst wird, beim Anblick des Anderen, durch die Berührung, den Duft, das Gefühl, durch die Aussicht auf Berührung, durch die Erinnerung an das Verspürte.“ (Butler 2009, S.38)
An dieser Stelle wird es, wie ich finde, doch recht offensichtlich, daß es hier nicht mehr um ein Kollektivsubjekt geht, sondern um den einzelnen Menschen, dem wir begegnen; und daß es hier um eine Begegnung geht, die wir nicht mehr politisch instrumentalisieren können, um die Partizipation am „Feld der Macht“ zu erweitern. In ihrer Kritik an Monique Wittigs Humanismus (vgl. Butler 1991, S.50) übersieht Butler, daß Wittigs Versuch, über den sprachlichen Universalismus „jeder Person dieselbe Möglichkeit“ zu gewährleisten, „ihre Subjektivität zu begründen“ (vgl. Butler 1991, S.173), letztlich genau auf diese zweitpersonale Ebene des wechselseitigen Austausches zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘ abzielt. Meiner Überzeugung nach begründet sich der Begriff der „Menschheit“ nicht etwa in einem möglichst inklusiven Kollektivsubjekt, also in einem möglichst umfassenden Gruppen-Wir, sondern in der Begegnung zwischen Ich und Du. Die zweitpersonale Ebene grenzt niemanden aus.

Dieser zweitpersonale Universalismus beruht auf einem transzendentalen Moment: alle Menschen nehmen, wenn sie ‚Ich‘ sagen, für sich in Anspruch, einzigartig zu sein, und akzeptieren gleichzeitig, daß auch alle anderen Menschen ‚Ich‘ sagen können. Auf dieser Voraussetzung beruht die Möglichkeit, ‚Du‘ zu sagen. Denn nur jemand, der ‚Ich‘ sagen kann, kann gleichzeitig für einen anderen Menschen ‚Du‘ sein. Ich kann nur Ich sein, wenn ich zugleich Du bin. Du kannst nur Du sein, wenn du zugleich Ich bist.

Deshalb sprengt die Zweitpersonalität auch den strukturalen Totalitarismus: die Zweitpersonalität ist nicht binär! Du ist nicht Nicht-Ich, und Ich ist nicht Nicht-Du. Wir haben es hier weder mit einem Algorithmus noch mit Macht zu tun. Der zweitpersonale Humanismus ist nicht die Vergangenheit, sondern unsere Zukunft.

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Samstag, 3. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Judith Butlers eigener Totalitarismus, der den zwangsheterosexuellen Totalitarismus wiederholt, besteht darin, alle Lebensäußerungen als machtförmig zu beschreiben; sogar auch ihre eigene genealogische Methodik als Infragestellung der Legitimationsstrategien der Macht. (Vgl. Butler 1991, S.20f.) Parodistische Widerstandsformen spielen mit denselben normativen Versatzstücken, die sie der zwangsheterosexuellen Matrix entnehmen, und delegitimieren sie auf diese Weise. Damit erweitern sie die Repräsentation, als „Feld der Macht“, im Dienste eines problematischen „höchsten Kandidaten der Repräsentation“, von dem auch im Falle des Kollektivsubjekts „Frau(en)“ fraglich bleibt „was denn die Kategorie ‚Frau(en)‘ konstituiert oder konstituieren sollte“. (Vgl. Butler 1991, S.16) Individuelle Subjekte, deren subjektives Begehren außerhalb politischer Strategien zur Erweiterung politischer Partizipation steht, sind nicht vorgesehen.

Der Körper kommt bei Butler nur als „Komplex individueller und gesellschaftlicher Schranken“ vor, „der politisch bezeichnet und aufrechterhalten wird“. (Vgl. Butler 1991, S.61) Damit richtet sie sich ideologiekritisch gegen die Vorstellung von „Anlagen“ als „innere Wahrheit“. (Vgl. ebenda) Außerdem verweist Butler auf die Sozialanthropologin Mary Douglas, die den Körper als „Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann“, bezeichnet. (Vgl. Butler 1991, S.195) Dieser Modellcharakter wird nicht im Sinne einer Stoffwechselmetapher verwendet, wie bei Plessner, der von diesem physiologischen Modell die exzentrische Position des menschlichen Subjekts zwischen Innen und Außen ableitet. Statt um Stoffwechsel geht es hier um Immunologie, also um Eingrenzung und Ausgrenzung:
„Wenn der Körper als Synekdoche für das Gesellschaftssystem per se oder als Schauplatz, an dem sich offene Systeme überschneiden, gelesen werden kann, stellt jede Art von unregulierter Durchlässigkeit einen Ort der Verunreinigung und Gefährdung dar.“ (Butler 1991, S.195)
Vom Körper zu reden ist also immer verdächtig: entweder versuchen Agenten der Zwangsheterosexualität, mit seiner Hilfe innere Wahrheiten zu postulieren, oder er dient als Modell repressiver Exklusionen. Damit ist auch jede Differenzierung zwischen Innen und Außen ideologieverdächtig.

Butler beschreibt die Vorstellung eines körperlichen „Innenraums“ als eine rein räumliche Phantasie, als einen Ort, in den ‚Objekte‘ „hineingenommen“ und wo sie „aufbewahrt“ werden können. Sie glaubt, daß hier lediglich Oberflächenbezeichnungen, wie z.B. Geschlechtsmerkmale, ‚einverleibt‘ werden, also Merkmale, die sich auf dem Körper befinden und nicht in ihm. (Vgl. Butler 1991, S.107) Wir haben es mit einer Einverleibung zu tun, bei der es sich eigentlich um eine „Einschreibung“ handelt, nämlich in der Art einer Tätowierung auf dem Körper. (Vgl. Butler 1991, S.199)

Expressivität kann es deshalb für Butler nicht geben. Die Vorstellung von Expressivität liegt unter Ideologieverdacht, weil sie Butler zufolge versucht, ursächliche Verbindungslinien „zwischen dem biologischen Geschlecht“ und „den kulturell konstituierten Geschlechtsidentitäten“ zu ziehen, die angeblich im sexuellen Begehren zum „Ausdruck“ bzw. zur „Darstellung“ kommen. (Vgl. Butler 1991, S.38)

Das hat Konsequenzen für das, was Butler als „Seele“ bezeichnet:
„Die Figur der inneren Seele, die ‚innerhalb‘ des Körpers liegen soll, wird also gerade durch ihre Einschreibung auf dem Körper bezeichnet, auch wenn ihre primäre Bezeichnungsweise umgekehrt über ihre Abwesenheit, ihre machtvolle Unsichtbarkeit verläuft.“ (Butler 1991, S.199)
Wir haben es bei der Seele im Butlerschen Sinne mit einer seltsamen „Figur“ zu tun, die einerseits sehr an Plessners Seele als „noli me tangere“ erinnert, aber andererseits ohne die Differenz von Innen und Außen auszukommen versucht, also in der strukturalistischen Denkweise verbleibt, die sich auf Sprache und Schrift beschränkt. Ähnlich wie Plessners Seele ist die Seele bei Butler gleichzeitig abwesend und präsent, als Schrift bzw. als Einschreibung, ohne daß aber in dieser Schrift irgendetwas zum „Ausdruck“ käme. Wir haben es also bei der Butlerschen Seele mit einer bloßen kulturellen Inszenierung zu tun, und die Seele verweist vor allem auf einen Mangel, einen „Bedeutungs-Mangel“:
„Dieser Mangel, der der Körper ist, bezeichnet die Seele als das, was nicht erscheinen kann. In diesem Sinne ist die Seele eine Oberflächenbezeichnung, die die Innen/Außen-Unterscheidung selbst anficht und verschiebt, eine Figur des psychischen Innenraums, die als ständig verleugnende Bezeichnung auf den Körper eingeschrieben ist.“ (Butler 1991, S.199)
Letztlich ist der eigentliche Grund für diesen Bedeutungsmangel ein Verbot, was zum psychoanalytischen Diskurs paßt, der Butlers Argumentation zugrundeliegt. Denn letztlich ist die Seele nicht einfach das, wie es im letzten Zitat heißt, „was nicht erscheinen kann“, sondern was nicht erscheinen darf. Das Verbot richtet sich auf den Menschen, der das begehrende Subjekt ist bzw. sein will. Es darf ihn schlicht nicht geben, weil auch er unter Ideologieverdacht steht. Die Praxis des Begehrens bleibt leer.

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Freitag, 2. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Ich vertrete in meinem Blog den anthropologischen Grundsatz, daß drei Entwicklungsebenen zusammenkommen müssen, um einen Menschen zu ergeben: die biologische, die kulturelle und die individuelle Entwicklungsebene. Zwischen der biologischen und der kulturellen Entwicklungsebene gibt es eine fundamentale Diskontinuität: die biologische Entwicklungsebene bildet eine Stammesgeschichte, die zwischen den verschiedenen biologischen Gattungen eine genetische Verwandtschaft begründet. Es gibt keine Monstren in der Biologie. Die kulturelle Entwicklungsebene hingegen ist katastrophenanfällig. Kulturelle Traditionen brechen abrupt ab, neue Traditionen entstehen, ohne daß irgendeine das Überleben sicherstellende Rationalität erkennbar wäre. Die individuelle Entwicklungsebene bildet das Schlachtfeld, auf dem die gegensätzlichen biologischen und kulturellen Tendenzen um die Dominanz kämpfen, und sie versucht, den Zufällen der Stammes- und Kulturgeschichte einen individuellen Sinn zu geben.

Judit Butler eröffnet gleich auf der ersten Seite des ersten Kapitels fünf verschiedene thematische Ebenen. In der Überschrift ist von „Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren“ die Rede und weiter unten im Text auf derselben Seite von den „feministischen Interessen und Zielsetzungen in der Welt des Diskurses“ und von einem Kollektivsubjekt, „dessen politische Repräsentation angestrebt wird“. (Vgl. Butler 1991, S.15) Diese fünf Ebenen lassen sich der Reihe nach in folgenden Stichworten auf den Punkt bringen:
  • Biologie (Geschlecht)
  • Kultur (Geschlechtsidentität bzw. Gender)
  • Individualität (Begehren)
  • Kultur (Diskurse)
  • Kultur (Macht/Politik)
Im Vergleich meiner drei Entwicklungsebenen mit Butlers fünf thematischen Ebenen kommt die Biologie bei ihr einmal vor, als anatomisches Geschlecht, die Kultur dreimal, als Geschlechtsidentität, gesellschaftlicher Diskurs und als Frage der politischen Repräsentation; und das Begehren bildet als Modus der menschlichen Intentionalität ein Moment des individuellen Bewußtseins. Aber diese scheinbare thematische Vielfalt schrumpft im Verlauf der folgenden Diskussion auf lediglich eine einzige Ebene: die des gesellschaftlichen Diskurses als Macht und als Wissen. Das anatomische Geschlecht wird für die Geschlechtsidentität und für das Begehren als irrelevant dargestellt, weil es im epistemischen und deshalb auch politischen Diskurs unvermeidlich verzerrt wiedergegeben (und wiederholt) wird:
„Die Mechanismen aufzuweisen, durch die das anatomische Geschlecht (sex) in die Geschlechtsidentität (gender) verwandelt wird, bedeutet nicht nur, die Konstruiertheit der Geschlechtsidentität, ihren nicht-natürlichen, nicht-notwendigen Status darzulegen, sondern auch die kulturelle Universalität der Unterdrückung in nicht-biologischen Termini zu behaupten.“ (Butler 1991, S.67)
Es gibt also keinen unmittelbaren Zugang zum anatomischen Geschlecht; auch nicht über die Wissenschaft. Und das Begehren ist Butler zufolge nicht expressiv, also kein Ausdruck seelischer Not, sondern gebunden an Effekte öffentlicher Inszenierungen. Wenn bei Butler von Expressivität die Rede ist, dann nur in dem Sinne, daß in den Geschlechtsmerkmalen irgendeine verborgene Identität oder Substanz zum Ausdruck kommen könnte. Butler sieht darin eine politische Strategie des zwangsheterosexuellen Diskurses:
„Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, die als expressive Attribute des biologischen ‚Männchens‘ (male) und ‚Weibchens‘ (female) verstanden werden.“ (Butler 1991, S.38)
Es gibt also kein individuelles Begehren und somit auch keine Individualität. Übrig bleiben von den fünf Ebenen nur drei; bzw. in meiner Terminologie verbleibt nur eine einzige Entwicklungsebene: die kulturelle.

Die Reduktion der drei Entwicklungsebenen auf eine einzige Ebene ist nach meiner Auffassung der Fragestellung geschuldet, an der sich Butler orientiert:
„Wenn ‚Identität‘ ein Effekt diskursiver Praktiken ist, inwiefern ist dann die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) – als Verhältnis zwischen biologischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender), sexueller Praxis und Begehren verstanden – der Effekt einer regulierenden Praxis, die als Zwangsheterosexualität identifiziert werden kann?“ (Butler 1991, S.39)
Der Fehler dieser im ideologiekritischen Sinne durchaus berechtigten Fragestellung liegt darin, daß sie das Verhältnis zwischen den drei Entwicklungsebenen Biologie/Kultur/Individuum zur kulturellen Seite hin, nämlich Biologie und Individualität als Effekte der Kultur, auflöst. Berücksichtigt wird nur noch die kulturelle Ebene der „regulierenden Praxis“, also die Zwangsheterosexualität. Dabei hätte Judith Butler die biologische Entwicklungsebene durchaus als Teil ihrer ideologiekritischen Fragestellung verstehen können. Denn daß die Biologie keine der Gesellschaft enthobene, gleichsam freischwebende Erkenntnisform bildet, bedeutet ja nicht automatisch, daß die biologische Entwicklungsebene überhaupt keine Relevanz für das individuelle Begehren hätte. Das gleiche gilt für den Bruch (Diskontinuität) zwischen biologischer und kultureller Entwicklungsebene. Gerade der Antagonismus zwischen diesen beiden Ebenen bedarf einer eigenen anthropologisch begründeten Aufmerksamkeit.

An anderer Stelle verweist Butler selbst auf die Relevanz der biologischen Entwicklungsebene, wenn sie hervorhebt, „daß der Körper“ nicht der Grund für das Begehren sei „oder seine Ursache, sondern sein Anlaß und Objekt“:
„Teilweise besteht die Strategie des Begehrens gerade in der Verwandlung des begehrenden Körpers selbst.“ (Butler 1991, S.111f.)
Hier bringt Butler die Wechselseitigkeit zwischen biologischer und individueller Entwicklungsebene auf angemessene Weise zum Ausdruck; denn „Anlaß“ bzw. „Objekt“ des Begehrens zu sein, ist ja nicht nichts! Zum einen beinhaltet diese Wechselseitigkeit, daß es, was die Veranlassung betrifft, gar kein Begehren ohne den Körper gäbe; zum anderen beinhaltet die Objekthaftigkeit des Körpers, daß dieser den subjektiven Projektionen als Projektionsfläche dient. In diesem Sinne muß also durchaus auch die biologische Entwicklungsebene in den Fokus eines ideologiekritischen, emanzipatorischen Diskurses genommen werden.

Darüberhinaus möchte ich ergänzen, daß es transzendentale Konzeptionen des Körpers gibt, die dieser sexuellen Bestimmung von Oberflächenmerkmalen (Geschlechtsmerkmalen) noch vorausliegen. Dazu gehören der Körperleib von Helmuth Plessner, der aufrechte Gang bei Hans Blumenberg und die mit dem aufrechten Gang zusammenhängende Verhältnisbestimmung von Hand und Wort von André Leroi-Gourhan. Die transzendentale Qualität dieser anatomischen Bestimmungen liegt darin, daß sie völlig unabhängig von sexuellen Geschlechtsmerkmalen vorgenommen wurden. Das Bewußtsein, das der Körperleib ermöglicht, ist, mit Plessner gesprochen, zu seinen Geschlechtsmerkmalen exzentrisch positioniert. Erst die individuelle Ontogenese führt zu einer sexuellen Orientierung, die die Geschlechtsmerkmale mit einer bestimmten sexuellen Bedeutung auflädt.

Zu dieser sexuellen Bedeutung kann durchaus auch gehören, daß sich Individuen von diesen Geschlechtsmerkmalen abwenden und sich im Widerstreit zu ihnen orientieren. Und dieser Widerstreit ist genau das, was Plessner zufolge den Körperleib ausmacht: wir liegen mit unserem Körper im Streit. (Vgl. Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne. Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369)

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Donnerstag, 1. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)


1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Judith Butler verweist mit dem Titel ihres Buches „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) auf Freuds Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930). Entsprechend dieser Selbstverortung in einem insgesamt psychoanalytisch geprägten Diskursrahmen führt Butler die scheinbar biologischen Begriffe des Geschlechtsunterschieds und der Geschlechtsidentität auf kulturelle Praktiken und Strukturen zurück. Das zugrundeliegende methodische Verfahren bezeichnet Butler als Genealogie:
„Die grundlegenden Kategorien des Geschlechts, der Geschlechtsidentität (gender) und des Begehrens als Effekte einer spezifischen Machtformation zu enthüllen, erfordert eine Form der kritischen Untersuchung, die Foucault in Anschluß an Nietzsche als ‚Genealogie‘ bezeichnet hat.“ (Butler 1991, S.9)
Die kulturellen Praktiken, die zu einer binär strukturierten Heterosexualität führen, die als Normalität behauptet wird und jedes individuelle Begehren in diese Struktur zwingt, sind Ausdruck eines hierarchischen Machtverhältnisses, das Feministinnen und Feministen im Namen eines emanzipatorischen Kollektivsubjekts ‚weibliches Wir‘, das sich auch gegen andere Formen der Diskriminierung wie Klasse, Rasse, Ethnie usw. richtet, überwinden wollen. Butler spricht hier von der Notwendigkeit eines sektorenübergreifenden Bündnisses, das die Grenzen eines bloßen feministischen ‚Wir‘ sprengt. Butler bewertet diese politische Brechung der weiblichen Kategorie „Frau(en)“ als positiv, weil sie deren inneren Widersprüchlichkeiten offenlegt, die mit dem Beharren auf einer bestimmten Version weiblicher Identität und in der Ausgrenzung anderer Identitätsauffassungen, auch heterosexueller Formen des Begehrens, einhergehen:
„Vielleicht ist es für ein Bündnis gerade notwendig, die eigenen Widersprüche anzuerkennen und mit diesen ungelösten Widersprüchen zum Handeln überzugehen. Vielleicht gehört es auch zur dialogischen Verständigung, daß man die Divergenzen, Brüche, Spaltungen und Splitterungen als Teil des oft gewundenen Demokratisierungsprozesses akzeptiert.“ (Butler 1991, S.35)
Es ist bemerkenswert, daß Judith Butler sich entschieden gegen einen die zwangsheterosexuelle Matrix wiederholenden feministischen Totalitarismus wendet, der die weibliche Sexualität auf die simple Ablehnung von Heterosexualität zu reduzieren versucht:
„Frauen, die diese (‚weibliche‘ – DZ) Sexualität nicht als ihre eigene anerkennen oder ihre Sexualität als partiell durch die phallische Organisation bedingt betrachten, werden im Rahmen dieser Theorie als ‚männlichkeitsidentifiziert‘ oder ‚unaufgeklärt‘ ausgegrenzt.“ (Butler 1991, S.56)
Heterosexuelle und phallische Kulturkonventionen, so Butler, die „in lesbischen, bisexuellen und heterosexuellen Zusammenhängen aufkommen“, sind „kein Zeichen für eine Identifikation mit dem männlichen System in irgendeinem herabsetzenden Sinne“. (Vgl. Butler 1991, S.56)

Dennoch scheint mir Butlers von Foucault übernommene Fixierung auf die Macht selbst einen solchen Totalitarismus zu beinhalten, wenn sie schreibt:
„... die Rechtsstrukturen von Sprache und Politik bilden das zeitgenössische Feld der Macht, das heißt: Es gibt keine Position außerhalb dieses Gebiets, sondern nur die kritische Genealogie seiner Legitimationspraktiken.“ (Butler 1991, S.20)
Wenn es nämlich keine Position außerhalb des Gebiets der Macht gibt, gibt es auch keine Beziehung zwischen den Menschen, die nicht als machtförmig verzerrt und verunstaltet wahrgenommen werden kann. Mit anderen Worten: es gibt keine Zweitpersonalität. Die Sozialperspektiven ‚Ich‘ und ‚Du‘ fallen unter den Tisch. – Darauf wird in einem späteren Blogpost zurückzukommen sein.

Allerdings verführt der Strukturalismus selbst schon zu einer solchen totalitaristischen Denkweise, wie Butler festhält:
„Alle sprachlichen Termini setzen eine linguistische Totalität der Strukturen voraus, deren Ganzheit unterstellt und implizit erfordert ist, damit jeder Term eine Bedeutung tragen kann. Diese gleichsam Leibnizsche Sichtweise, in der die Sprache als systematische Totalität erscheint, unterdrückt jedoch das Moment der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, indem es dieses Moment der Arbitrarität in ein totalisierendes Feld einbindet und vereinheitlicht.“ (Butler 1991, S.70)
Butler meint aber, sie könne mit einer poststrukturalistischen Verflüssigung der binären Zwänge diesem strukturalistischen Totalitarismus entgehen:
„Der poststrukturalistische Bruch mit Saussure und mit den identitätslogischen Tauschstrukturen bei Lévi-Strauss weist sowohl die Totalitäts- und Universalitätsansprüche als auch die Annahme von binären strukturalen Gegensätzen zurück, die implizit bewirken, daß die bestehende Ambiguität und Offenheit der sprachlichen und kulturellen Bedeutung eingeschränkt wird.() Durch diese Kritik verwandelt sich die Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat in die operativ uneingeschränkte différance() der Sprache, die alle Referentialität zu einer potentiell schrankenlosen Verschiebung macht.“ (Butler 1991, S.70)
Butler glaubt, die parodistische Verschiebung sexueller Identitätsmerkmale in lesbischen, schwulen und queeren Milieus führe zu einer Sprengung der starren heterosexuellen Matrix. Letztlich besteht diese spielerische Praxis im Umgang mit Geschlechtsidentitäten aber nur in der Verschränkung und Überlagerung von Symptomen und Praktiken des Begehrens; was vielleicht eine gewisse gesellschaftspolitische Relevanz haben mag, aber die einzelnen ‚Subjekte‘ des sexuellen Begehrens bleiben sich selbst überlassen und gegenseitig isoliert. Denn Butler interessiert sich nicht für sie, sondern nur für den prekären Status des Kollektivsubjekts, das seine politische Agenda umzusetzen versucht:
„Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion, die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses ‚Wir‘ verleugnet und nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht. Freilich ist der schwache oder phantasmatische Status dieses ‚Wir‘ kein Grund zur Verzweiflung – oder besser gesagt: nicht nur ein Grund zur Verzweiflung. Die radikale Instabilität dieser Kategorie stellt die grundlegenden Einschränkungen der feministischen Theorie in Frage und eröffnet damit andere Konfigurationen, nicht nur für die Geschlechtsidentitäten und für die Körper, sondern auch für die Politik selbst.“ (Butler 1991, S.209)
Die befreiende Praxis der Parodie instrumentalisiert das Begehren im Dienste dieses Kollektivsubjekts und verbleibt damit im alles umfassenden „Feld der Macht“. Diese Macht wird nicht etwa abgeschafft, sondern lediglich repräsentativ erweitert:
„Deshalb kann die geschlechtlich bestimmte Identität, statt als ursprüngliche Identifizierung, die als determinierende Ursache dient, neu als persönliche/kulturelle Geschichte übernommener Bedeutungen begriffen werden.“ (Butler 1991, S.203)
Hier steht das Persönliche auf der Ebene des Kulturellen; ein reflektierter Umgang mit kulturellen Bedeutungen des Geschlechtlichen in einer zweiten Naivität, also in der individuellen Praxis begehrender Einzelsubjekte, die niemandem gegenüber verpflichtet sind außer ihren Partnern, ist nicht vorgesehen.

Dazu paßt Butlers Kritik an Monique Wittigs Humanismus, der von der Notwendigkeit eines „absoluten“ Subjekts ausgeht. (Vgl. Butler 1991, S.167ff.) Monique Wittig kritisiert, daß das sprechende Subjekt in der (französischen) Sprache immer nur als männliches Subjekt in Erscheinung tritt. Die Frauen hingegen werden von der Grammatik nur als relative Subjekte berücksichtigt. Das führt aber keineswegs dazu, daß Wittig die Sprache als solche kritisiert. Sie vertritt vielmehr den Standpunkt, daß allein schon zu sprechen, also das Wort zu ergreifen, eine absolute Subjektposition voraussetzt. Zu sprechen bedeutet also, ein absolutes Subjekt zu sein. Alles andere liefe darauf hinaus, zu sprechen, ohne zu sprechen, also auf einen performativen Widerspruch. (Vgl. Butler 1991, S.172f.)

Allerdings macht Wittig den Fehler, den Begriff des Absoluten zu ontologisieren. Schon der Begriff des Absoluten selbst ist problematisch, weil er Relationen ausschließt und mit den Relationen das Mensch-Mensch- und das Mensch-Weltverhältnis. Wittig spricht darüberhinaus von der Notwendigkeit einer „Ontotheologie“ des absoluten Subjekts:
„Wittig setzt ihre Überlegungen mit einer überraschenden Spekulation über das Wesen der Sprache und des ‚Seins‘ fort, die ihr eigenes politisches Projekt in den Kontext des traditionellen Diskurses der Ontotheologie einordnet. Ihrer Ansicht nach bietet die primäre Ontologie der Sprache jeder Person dieselbe Möglichkeit, ihre Subjektivität zu begründen.“ (Butler 1991, S.174)
Obwohl Butler Wittig zurecht wegen dieser Ontotheologie kritisiert, begehen beide denselben Fehler: beide gehen davon aus, daß es ein relatives Subjekt nicht geben könne, also auch kein Mensch-Weltverhältnis, wobei Butler noch einen Schritt weiter geht und behauptet, daß es außerhalb bzw. ‚vor‘ der Sprache kein Subjekt geben könne. Butler entgeht in dieser Kritik das Moment, mit dem Monique Wittig mit ihrer Behauptung eines absoluten Subjekts recht behält. ‚Absolut‘ steht nämlich letztlich für ‚transzendental‘. Daß der Sprechakt ein sprechendes Subjekt voraussetzt, bedeutet nämlich nicht, daß dieses Subjekt dem Sprechakt zeitlich vorhergeht oder ihm ontisch irgendwie zugrundeliegt. Es bedeutet lediglich die Denknotwendigkeit eines Subjekts, das spricht, mag es auch bloß aus dem Sprechakt hervorgehen; denn transzendental ist seine Qualität in dem Sinne, als es zugleich mit seinem Hervorgehen aus dem Sprechakt diesem Sprechakt vorhergeht.

Helmuth Plessner nannte diese transzendentale Qualität des Subjekts „exzentrische Positionalität“. Das Subjekt, das spricht, blickt in beide Richtungen: auf den Sprechakt voraus und auf das, was es damit meint, zurück.

Wenn Butler an anderer Stelle den „Zwang“ thematisiert, über ein „Subjekt des Feminismus“ nachdenken zu müssen (vgl. Butler 1991, S.21), dann versäumt sie es an dieser Stelle und auch sonst in ihrem Buch, die problematische Kategorie der „Frau(en)“ mit ihrer „wesentliche(n) Unvollständigkeit“ (vgl. Butler 1991, S.35) durch den Begriff „Mensch“ zu ersetzen. Denn die Kategorie „Mensch“ mit ihrer ebenfalls wesentlichen Unvollständigkeit steht durchaus zur Verfügung, alle Menschen jenseits von Rasse, Geschlecht, Herkunft und Religion zu bezeichnen. Die Herkunft dieses Wortes ist keineswegs einfach auf ‚Mann‘ zurückzuführen, so wenig wie ‚Mann‘ und ‚Frau‘ ursprünglich Geschlechtsbezeichnungen gewesen sind. Mit ‚Mensch‘ verwandt ist das lateinische ‚mens‘, Bewußtsein, und verweist schon mit dieser Etymologie auf seine transzendentale Qualität. Das Subjekt ‚Mensch‘ ist zum einen transzendental, im Sinne einer Ich-Identität, die sich durch die Zeit durchhält, unabhängig von Prädikaten wie ‚jung‘, ‚erwachsen‘ und ‚alt‘, und es bezeugt im Sprechakt diese Identität des Sprechenden; zum anderen ist die Bezeichnung ‚Mensch‘ auch offen für individuelle Verschiedenheit im Namen einer Humanität, die nicht reguliert oder normiert.

Das ist der nicht-machtförmige, humane Sinn von Universalität, den sogar Butler – allerdings wieder nur mit Bezug auf Wittig und damit offenlassend, ob sie dem zustimmt – positiv hervorhebt:
„Den Standpunkt der Frauen universalisieren bedeutet, die Kategorie ‚Frau(en)‘ zu zerstören und gleichzeitig die Möglichkeit eines neuen Humanismus zu schaffen.“ (Butler 1991, S.177)
In diesem Zitat referiert Butler Monique Wittigs Standpunkt nur, ohne ihn zu teilen. Die Textstelle bleibt zwar insgesamt im Ungewissen, weil Butler sich an dieser Stelle nicht deutlich von Wittigs Standpunkt distanziert. An anderen Stellen nimmt Butler aber eindeutig Position gegen den Humanismus, weil sie ihm vorwirft, nur auf europäische weiße Männer beschränkt zu sein; an einer Stelle übrigens in Übereinstimmung mit Monique Wittigs Kritik am Humanismus, an einer anderen Stelle wiederum in Form einer Kritik an der Wittigschen Adaption des Humanismus. (Vgl. Butler 1991, S.50, 172)

Butler gesteht also im Unterschied zu Wittig dem Menschenrechts-Humanismus nicht zu, daß er sich weiterentwickelt hat und sich im Laufe der Geschichte faktisch universalisiert hat, also alle Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, Hautfarbe etc. umfaßt. Butler verwirft also den Humanismus als politische Option und damit auch Wittigs Universalisierungsthese. An die Stelle des Humanismus soll eine alle heutigen und künftigen Genderpraktiken umfassende Zukunftsoffenheit treten, die durch nichts, also auch durch keinen Humanismus, begrenzt ist. Butler gerät damit in einen performativen Widerspruch: es sind wesentlich der Humanismus und die Menschenrechte, die sich gegen Diskriminierungen aller Art richten. Wenn der Humanismus aber selbst diskriminierend ist, wie Butler behauptet, dann gibt es auch keine Instanz, die vorkommende Diskriminierungen feststellen und verurteilen könnte.

Monique Wittigs Perspektive auf das Universalisierungspotential des Humanismus kann ich mich vorbehaltlos anschließen. Sogar Judith Butler verwendet in ihrem Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009/2004) tatsächlich wieder den Begriff des Menschlichen und ‚Mensch‘. (Vgl. Butler 2009, S.26ff.) Allerdings schränkt sie die Notwendigkeit, den „Status eines menschlichen Lebens“ neu zu ‚überdenken‘, mit dem Hinweis ein, daß das „keine Rückkehr zum Humanismus“ beinhalte. (Vgl. Butler 1991, S.27) – Vielleicht keine Rückkehr. Aber vielleicht doch die Möglichkeit eines Ausblicks auf eine humane Zukunft.

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