„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 31. Dezember 2019

„Gib mir Musik“

Ich habe bisher immer den Standpunkt vertreten, daß Mathematik keine Sprache ist, weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind. Echte Sprache ist niemals eineindeutig definiert. Es gibt immer eine Differenz zwischen Meinen und Sagen. Diese Differenz ist der Sprache so wesentlich, daß ihre Zeichen aus dieser Differenz heraus Bedeutung gewinnen. Und gerade weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind, sind sie bedeutungslos.

Jetzt habe ich mir mal wieder von Reinhard Mey „Gib mir Musik“ angehört, und da gibt es diese wunderbaren, leicht variierten Refrains:
„Gib mir Musik, um mir ein Feuer anzuzünden,
Um die dunklen Tiefen meiner Seele zu ergründen,
Meine Lust und meine Schmerzen, Narben, die ich mir selbst verschwieg.
Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik!“
Es sind die dunklen Tiefen der Seele, die sich dem gesprochenen Wort entziehen. Die Sprache erreicht sie nicht, sie transportiert sie nicht wie eine Informationsmaschine, die Informationen transportiert. Aber durch Musik werden wir in diesen Tiefen unmittelbar berührt, ohne daß unsere Seele an dieser Berührung Schaden nimmt. Kann die Musik also, wie manche Mathematiker glauben, ein mathematisches System mit eineindeutig definierten Zeichen sein?

Allerdings gibt es ein schönes Gegenstatement von Adrian Leverkühn, dem Protagonisten in Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo Leverkühn mit Verweis auf Beethoven die Nähe zwischen Musik und Wortsprache behauptet:
„‚Was schreibt er (Beethoven) da in sein Tagebuch?‘ habe es geheißen. ‚Er komponiert.‘ – ‚Aber er schreibt Worte, nicht Noten.‘ – Ja das war so seine Art. Er zeichnete gewöhnlich in Worten den Ideengang einer Komposition auf, indem er höchstens ein paar Noten zwischenhinein streute. – Hierbei verweilte Adrian, sichtlich davon angetan.“ (Dr. Faustus, S.218)
Demnach wäre die Musik wie die Sprache in erster Linie expressiv und kein mathematisches System, und Leverkühn/Beethovens musikalische Auffassung von Sprache unterstützt Plessners Begriff der Expressivität.

Wie auch immer: mit der Behauptung, Mathematik sei Sprache, wird eine Differenz unterschlagen: Mathematik schließt mit ihren eineindeutigen Zeichen Bedeutung aus. Musik ist mehr als ein Notationssystem. Ihre scheinbare Bedeutungsleere ist eine Einladung an den Hörer, die Hörerin, zu hören, was sie empfinden. Es sind die Hörer, die die Musik mit Bedeutung erfüllen. Deshalb ist Musik anders als die Mathematik nicht keine Sprache, sondern mehr als Sprache.

Es gibt also nicht nur ein vorsprachliches Bewußtsein, ‚prälingual‘, sondern auch ein übersprachliches Bewußtsein: translingual.

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