„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. Dezember 2019

Cogito und Blick

Vor vielen, sehr vielen Jahren hatte ich bei Kant gelesen, daß das „Ich denke“ alle unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen begleiten können muß, damit sie unsere, also je meine Erfahrungen und Wahrnehmungen sein können. Bei Descartes hatte ich gelesen, daß wir alles anzweifeln können, nur nicht, daß wir denken; und daß darin unsere Seinsgewißheit besteht. Erst spät, eigentlich erst vor knapp anderthalb Jahren, habe ich begriffen, daß Kants „Ich denke“, also die transzendentale Apperzeption, eine Variation oder auch eine Interpretation der Kartesianischen Formel „cogito ergo sum“ bildet.

Darüber hinaus glaube ich inzwischen, daß Plessners Definition der Seele als „noli me tangere“ eine Weiterentwicklung des Kantischen und des Kartesianischen ‚cogito‘ bildet. Denn das ‚Ich denke‘ bildet eine Abspaltung von und eine Hinzufügung zu den Erfahrungen und Wahrnehmungen, die es begleitet bzw. begleiten können muß. Und als diese Verdopplung des ‚Ich‘, als denkendes und als wahrnehmendes Ich, wird es zwiespältig. Es schillert zwischen dem einen und anderen hin und her und läßt sich nicht in eine Identität überführen. Es ist gleichzeitig ein subjektives und ein objektives Ich.

Genau das bringt Plessner in dem „noli me tangere“ auf den Punkt. Indem die Seele sich gleichzeitig zeigen und verbergen will, kommt darin die Zwiespältigkeit des ‚Ich denke‘ der transzendentalen Apperzeption zum Ausdruck. Wer die Seele dingfest machen will, zwingt sie zur Flucht und gerät in eine Aufholjagd ohne Ende: regressus ad infinitum.

Dieser Regreß hat die logische Form eines sich selbst denkenden Denkens, also eines Denkens, das unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht länger begleitet. Aber das ist ein logischer Irrtum. Man läuft weder dem Denken noch der Seele hinterher, sondern ins Leere. Seele gibt es nur als Expression, und das Denken gibt es nur als Apperzeption, als Begleitung unserer Wahrnehmungen oder gar nicht.

Eine weitere Variation des Kantischen cogito, also der Apperzeption, habe ich in einem Text von Charlotte Bretschneider (2015) gefunden, den ich auch in diesem Blog besprochen habe. In diesem Text geht es darum, daß Montaigne den Menschen als aus losen, im Wind flatternden Fetzen bestehend beschreibt, die sich zu keiner Einheit bündeln lassen. Es ist lediglich der jeweilige Blick auf sich selbst, der diese flatternden Fetzen für einen kurzen Moment zu einem Individuum zusammenfügt. Schon beim nächsten Blick aber sieht alles wieder ganz anders aus.

Dieser individualisierende Blick auf sich selbst ist nichts anderes als Kants „Ich denke“, das alle unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen begleiten können muß. Und weder in Kants ‚cogito‘ noch in Montaignes Blick auf sich selbst gibt es einen Altersunterschied, so daß wir immer, als wie verschieden wir uns auch immer erleben mögen, ein- und derselbe bleiben.

Helmuth Plessner wendet sich übrigens gegen eine bestimmte Form des Anticartesianismus, die das ‚cogito‘ als fehlgeleiteten Idealismus verwirft, weil sie dieses cogito mit Descartes’ tatsächlich problematischer dualistischer Spaltung des Menschen in Geist und Körper, res cogitans und res extensa, verwechselt. Tatsächlich handelt es sich bei Kants transzendentaler Apperzeption um den Versuch, die Trennung zwischen dem ‚subjektiven‘ (denkenden) Ich und dem ‚objektiven‘ (wahrnehmenden) Ich zu überwinden. Der von Plessner monierte Anticartesianismus aber versucht sich Plessner zufolge der komplexen Leib-Seeleproblematik zu entziehen und sich „in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückzuziehen. (Vgl. Plessner, „Lachen und Weinen“ (1950/1941), S.39) Eine solche simplifizierende Vereinfachung bildet auch Hermann Schmitzens „Neue Phänomenologie“. (Vgl. meine Posts vom 01.11. und 02.11.2019)

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