„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. November 2019

Stimmungen und Atmosphären

Stimmungen und Atmosphären sind von konkreten Intentionen weitgehend unabhängig. Was das betrifft, stimme ich Hermann Schmitz zu. Allerdings heißt das nicht, daß Intentionalität keine Bedeutung hat und daß es so etwas wie ein Bewußtsein nicht gibt. Genau das, also daß es Bewußtsein nicht gibt, behauptet Hermann Schmitz. Es ist aber vielmehr so, daß Stimmungen und Atmosphären bestimmte Intentionen (auf andere Menschen gerichtete Erwartungen und Verhaltensdispositionen) und mit ihnen Intentionalitätsstrukturen (soziale Praktiken und gesellschaftliche Institutionen) mehr unterstützen als andere. Es gibt eine zumindest einseitig bedingende Abhängigkeit, also des Bewußtseins von Stimmungen und Atmosphären. Tatsächlich ist es aber noch etwas komplizierter.

Abhängigkeiten konkreter Intentionalität von Stimmungen und Atmosphären: vor fünfzig Jahren in Woodstock bewirkte die Atmosphäre des dreitägigen Events eine friedliche und liebevolle Zugewandtheit bei den Teilnehmern. Die Anwohner der nahegelegenen Ortschaften waren hingerissen von dem respektvollen und höflichen Verhalten und dem Charme der Hippies und ‚Freaks‘. Heute: bei Aufmärschen von Pegida und Identitären ist ein anderes Verhalten üblich. Deren Atmosphären unterstützen Gewalttätigkeit, Haß und Mißtrauen gegenüber anderen Menschen.

Bei Stellenausschreibungen werden oft atmosphärische Qualitäten abgefragt: Erfolgsorientierung und Flexibilität beispielsweise. Und auf ‚Firmenkultur‘, also wiederum Atmosphäre, wird vor allem deshalb wertgelegt, weil sonst die konkrete Intentionalitätsstruktur der Firma – also ihre Produktivität (Autos, Smartphones, Altenpflege etc.) – nicht effektiv realisiert werden könnte.

Aber konkrete Intentionen und ihre sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen, also die konkrete Intentionalität (erkennen und befriedigen von Bedürfnissen), gehen mit einem Bewußtsein einher, das sich deutlich von vagen Stimmungen und Atmosphären unterscheidet. Letztere unterstützen dieses Bewußtsein, das sich zu einem Selbstbewußtsein entwickeln will, nicht, sondern behindern es. Zwar unterstützen Stimmungen und Atmosphären generell zu ihnen passende Bewußtseinsakte, also auch konkrete Intentionalität mit ihrer reflexiven Komponente, aber nur unterhalb der Bewußtseinsschwelle.

Stimmungen und Atmosphären decken sich weitgehend mit dem, was Blumenberg „Lebenswelt“ nennt. Und diese Lebenswelt fungiert ausschließlich unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Das hat einige Neurowissenschaftler zu der Annahme verleitet, daß es so etwas wie einen freien Willen, also wiederum ein Selbstbewußtsein, nicht gibt. In dieser Hinsicht befinden sie sich auf einer Linie mit Hermann Schmitz.

Aber obwohl diese unterbewußten Prozesse unserem Bewußtsein entzogen sind und es sogar behindern, ermöglichen sie es auch. Denn ohne diese teils psychosozialen, teils physiologischen Prozesse könnte es seine Aufmerksamkeit nicht anderen Dingen in der Welt zuwenden. Es ist das Unterbewußtsein, das das Bewußtsein für die Welt freistellt.

Die Grenze zwischen beidem, zwischen Lebenswelt und Physiologie einerseits und dem Bewußtsein andererseits, ist allerdings beweglich, und beide Seiten kämpfen darum, sie zu ihren Gunsten zu verschieben. Früher, vor den PISA-Studien, nannte man das mal Bildung, nämlich die Erhöhung der Freiheitsgrade von Individuen im Laufe ihres Lebens. Man könnte auch von ‚Seele‘ sprechen, denn die unterbewußten Prozesse, Stimmungen und Atmosphären wollen sich ‚ausdrücken‘ (Expressivität), also zu Bewußtsein kommen; sie können sich aber im Bewußtsein nicht halten und sinken wieder unter die Schwelle zurück.

Das Bewußtsein mit seiner reflexiven Komponente ist atmosphärischen Prozessen nicht zuträglich. Diese behindern also nicht nur das Bewußtsein, sondern das Bewußtsein behindert auch sie. Letztlich kann man also festhalten: wenn Stimmungen und Atmosphären bestimmte Bewußtseinsakte (konkrete Intentionalität) unterstützen (oder behindern) – soziale Zuwendung, Hilfsbereitschaft, Zweitpersonalität in Woodstock; Haß, Menschenverachtung, Gruppenidentität auf Pegidaveranstaltungen –, dann unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Umgekehrt unterstützt (oder behindert) ein ausgebildetes Selbstbewußtsein unterschwellige Stimmungen und Atmosphären nur oberhalb der Bewußtseinsschwelle, nämlich in Form von Bildung. Beide Bewußtseinsebenen begegnen und formen sich gegenseitig auf der Ebene von Meditationen, sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen.

Noch ein Letztes: Toni Morrison bezeichnet in ihrem Essayband „Die Herkunft der Anderen“ (2018/2017) die Globalisierung als eine „Verwischung von Drinnen und Draußen“; und zwar auf drei Ebenen: der politischen, der metaphorischen und der psychologischen. (Vgl. Morrison 2017, S.95f.) So gesehen ist Schmitzens „Neue Phänomenologie“ mit ihrer Ersetzung der Innenwelt durch Atmosphäre eine Globalisierungsideologie.

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