„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 3. Januar 2025

Unterm See


Seelen sind die unterm See,
die einst von uns gingen,
wo zu ihnen Glück noch Weh
jemals wieder dringen.

Steigen nachts die Nebel auf,
sind das nur Schimären
von der Seelen frührem Lauf
und ihrem Begehren.

Nichts mehr drückt sich darin aus,
Dampf nur steigt empor
von dem nassen Totenhaus
mit verschloßnem Tor.

Freitag, 20. Dezember 2024

Subjektlose Prädikationsmechanismen

Differantialsemantiken wie etwa der Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus von Denkerinnen und Denkern wie Jacques Lacan, Jacques Derrida oder Judith Butler beschreiben letztlich bloß Prädikationsmechanismen ohne Subjekt. Als solche stehen sie auf der Stufe von ChatGPT.

Schriftliche Texte (Derrida hat ein Buch über die Schrift und die Differenz (1972) geschrieben) sind zunächst nichts anderes: Prädikationen, zu denen ein Subjekt, die Leserin und der Leser, noch hinzutreten muß, um mit ihren/seinen Wahrnehmungen, Empfindungen, Erfahrungen die Referenz einzubringen, ohne die diese Texte, trotz all ihren internen Differenzierungen, bedeutungslos wären.

Was Judith Butler betrifft, befindet sie sich mit ihrer differentialsemantischen Auffassung des Feminismus im Widerspruch zu Luise F. Pusch, für die der Feminismus vor allem referentialsemantisch orientiert ist. In „Das Deutsche als Männersprache“ (1984) schreibt Pusch, daß sich weder Saussure noch überhaupt die von ihr als „struktural-funktionale Semantik“ bezeichnete Differentialsemantik jemals ernsthaft mit Fragen der „Referenzsemantik“, wie sie vor allem Frauen betreffen, auseinandergesetzt hat. (Vgl. Pusch 1984, S.32ff.)

Das Setzen von Differenzmarkern ist nur ein differentialsemantisches Hilfsmittel, das innerhalb der Grenzen der Sprache bleibt. Schlimmer noch: vor dem dekonstruktivistischen Hintergrund von Denkerinnen und Denkern wie Derrida oder Butler verschwindet das Subjekt in der Lücke zwischen den Zeichen und taucht hinter ihrem Rücken als ein Super-Subjekt wieder auf, als Semiozentrismus (Derrida) bzw. als subversive Alternativen (Butler) zum ,Phallogozentrismus‛. Wesentlich ist, daß nicht mehr das Subjekt spricht, sondern die Sprache anstelle des Subjekts, oder irgendein Kollektiv, sei es auch ein solidarisches, spricht anstelle der Individuen. Auf technologisch fortgeschrittener Ebene tritt das ChatGPT an die Stelle des Menschen.

Etwas zu meinen bzw. gemeint zu sein, ist vor allem eine Frage der Referenz: wer oder was wird hier und jetzt als Subjekt gemeint? Wenn die Frage nach diesem Subjekt nicht mehr gestellt werden kann, weil es von Super-Subjekten aller Art umzingelt ist, verliert auch der Feminismus seine Legitimation.

Dienstag, 10. Dezember 2024

Ein Wort zum Advent ...

... erlaube ich mir. Es beginnt mit einem Geständnis: als ich von den wirklich historischen Ereignissen in Syrien hörte, war die erste Reaktion Freude, Erleichterung und Hoffnung, daß es den Menschen dort ohne Assad jetzt besser gehen wird.

Die zweite Reaktion war: endlich können die syrischen Flüchtlinge wieder nach Hause.
Ich weiß nicht so recht, warum ich das gedacht habe. Warum sollten sie zurückgehen? Warum wünsche ich mir überhaupt irgendetwas, das nur die Syrerinnen und Syrer betrifft? Die zweite Reaktion vergiftete die erste.

Als dann Politiker wie Jens Spahn (CDU) und Markus Söder (CSU), von anderen schweige ich lieber, anfingen, das deutsche Volk mit ihren populistischen Sprüchen zur baldigen Rückkehr der Syrerinnen und Syrer nach Syrien zu beglücken, und als die Einwanderungsbehörden verkündeten, die Asylanträge von Syrerinnen und Syrern ,auf Eis‛ zu legen, weil die ,Entscheidungsbasis‛ nicht mehr ,gegeben‛ sei, und als kurz darauf die Nachbarländer, Dänemark, Österreich u.a., dem deutschen Beispiel folgten ‒ da hatte ich schon längst begonnen, mich zunächst für mich selbst und dann für all die anderen fremd zu schämen.

Wie war das noch mit Betlehem? Waren die Eltern von Jesus nicht auch Flüchtlinge gewesen? Waren sie nicht von all den wenig gastlichen Herbergen abgewiesen worden? Sind Spahn oder Söder, Mitglieder einer christlichen Partei, eigentlich Christen?

Für mich selbst kann ich letzteres verneinen. Trotzdem schäme ich mich.

Samstag, 30. November 2024

Individuelles Allgemeines: Manfred Frank

Nachdem ich die beiden Blogposts zu Cornelia Funke geschrieben hatte, habe ich mich nochmal mit Manfred Franks Begriff des individuellen Allgemeinen befaßt. Da sich sein Buch „Das individuelle Allgemeine“ für mich als nicht lesbar erwiesen hatte und ich mich mit Pratchetts und Funkes Büchern von einem unmittelbaren Verständnis dieses Begriffs hatte leiten lassen, wollte ich es dann doch noch einmal genau wissen und versuchte es noch einmal mit seiner Einleitung zu „Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik“ (1977). Diese Einleitung von insgesamt 58 Textseiten erwies sich dann auch, trotz einer Reihe von für mich wieder völlig hermetischen Seiten in der Mitte der Einleitung (vgl. Frank 1977, S.29-38), als überraschend brauchbar.

So stieß ich in der Einleitung sogar erstmals auf eine Definition des individuellen Allgemeinen: „Die Sprache ist somit ein individuelles Allgemeines. Sie besteht als universelles System nur aufgrund prinzipiell widerrufbarer Übereinkünfte ihrer Sprecher und verändert ihren Gesamtsinn mit jeder Redehandlung und in jedem Augenblick, sofern wenigstens dieser semantischen Novation der Durchbruch ins grammatische Repertoire gelingt, wie es in den Gesprächshandlungen ständig geschieht.“ (Frank 1977, S.38)

Das Allgemeine der Sprache ist ihre Grammatik bzw. ,Struktur‛. Das Individuelle sind die Schreib- und Sprechakte von Autorinnen und Gesprächspartnern, die die Grammatik auf ein jeweils Gemeintes anwenden, das durchaus schon im Ganzen der Sprache als System bzw. als Grammatik und als Lexikon, so wie es vorliegt, integrierbar sein kann. Was Autoren und Gesprächspartnerinnen in ihren Schreib- und Sprechakten aber meinen, kann (und wird es auch immer wieder) die Grenzen des bisher Geschriebenen und und Gesagten sprengen, also eine „semantische Novität“ darstellen. Diese bislang bloß individuelle Novität kann, wenn ihr „der Durchbruch ins grammatische Repertoire gelingt“, d.h. wenn sie in den Sprachbestand eingeht und diesen so erweitert, „allgemein“ werden. Gelingt dies, haben wir es mit einem individuellen Allgemeinen zu tun, dessen sich Menschen in künftigen Schreib- und Sprechakten bedienen können.

Denkt man an das Land, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“ (vgl. Funke 2007, S.261), im dritten Band der Trilogie, fällt auf, daß ein absolut singuläres Ereignis wie der Tod zugleich in dem Maße ,individuell‛ ist wie die individuellen Wortneuschöpfungen von Autorinnen und Gesprächspartnern, die, also die Wortneuschöpfungen, noch keinen Zugang zum allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben, die aber doch zugleich die Quelle sind, aus der die Sprache erneuert und bereichert wird. Etwas ähnliches gilt auch für Ayeshas wortlose Lieder im vierten Band, mit denen sie die in einem todähnlichen Zustand befindlichen Personen aus den Bildern heraussingt, so daß sie wieder am vollen Leben ihrer Freunde und Geliebten teilhaben können; ein Leben, zu dem das kommunikative Miteinander, die Sprache, ganz wesentlich gehört. Also auch hier: aus der Wortlosigkeit heraus zu neuer wortschöpferischer Lebendigkeit.

Auch Manfred Frank beschränkt das individuelle Allgemeine nicht nur auf Texte und ihre Interpretationen, sondern bezieht es auf alle sprachlich verfaßten, also im eigentlichen Sinne menschlichen Interaktionen. Er verwendet dabei gelegentlich Formulierungen, in denen ich mein Konzept zur wechselseitigen Gleichheit von Ich und Du wiedererkenne. Aber hier soll es jetzt vor allem um das Verhältnis von Texten und ihren Leserinnen und Lesern gehen, also darum, was das individuelle Allgemeine mit Cornelia Funkes Tintenwelt zu tun hat.

Differentialsemantik


Letztlich bleibt festzuhalten, daß trotz Franks Ausdehnung der Hermeneutik auf die mündliche Kommunikation zwischen realen Gesprächspartnern, er sich mit dem Begriff des individuellen Allgemeinen vor allem an schriftlichen und gesprochenen Texten orientiert. Er versucht die Spaltung zwischen einer strukturellen, im engeren Sinne semiotischen Linguistik und einer hermeneutischen Sprachwissenschaft bzw. Sprachphilosophie in der Tradition von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Friedrich Schleiermacher (1768-1834) zu überwinden. Das individuelle Allgemeine, individuell gleich hermeneutisch und allgemein gleich strukturell, soll beide Ansätze miteinander vermitteln.

Man kann die verschiedenen Ansätze mit den beiden ,Autoren‛ in der Tintenwelt parallelisieren. Der Pseudoautor Orpheus, der sich die literarische Schöpfung des eigentlichen Autors Fenoglio aneignet, ,interpretiert‛ die Tintenwelt, indem er sich der Worte aus dem fiktiven Roman „Tintenherz“ bedient, der nicht identisch ist mit dem eigentlichen ersten Band der Trilogie gleichen Titels. Indem Orpheus die Wörter neu arrangiert und kombiniert schafft er neue Texte, mit denen er die Geschichte neu erzählen (interpretieren) kann. Orpheus steht also für eine Differentialsemantik, wie sie Jacques Derrida (1930-2004) entwickelt hat.

Für diese Differentialsemantik steht Derridas Begriff der „différance“. Nach Derridas Konzept entstehen die Bedeutungen von Wörtern auf der Grundlage aller Wörter eines Wortschatzes (Lexikon). Die konkrete Bedeutung der Wörter wird dann im Rahmen von Sätzen festgelegt, innerhalb deren sie sich gegenseitig differenzieren. Die letzte Festlegung auf eine Bedeutung geschieht also im Schreib- und Sprechakt durch den Kontext des Textes oder einer konkreten Sprechsituation.

Die Differenzen zwischen den Zeichen (Wörtern) sind also im Fluß, weil die Bedeutungen letztlich vor allem durch immer neue Schreib- und Sprechakte geschaffen werden: „Die Vorstellung eines ,unentwegten Gleitens des Signifikats (der Bedeutung ‒ DZ) unter den Signifikanten (den Wörtern ‒ DZ)‛ stellt sich ein: der Sinn, sagt Lacan, faßt zwar Stand () auf der Signifikantenkette (dem Satz ‒DZ), gleichwohl hat kein einzelnes Element der Kette festen Bestand in der Bedeutung (), die ihm die augenblickliche Konstellation und Kombination der Signifikanten zuspielt.()“ (Frank 1977, S.46)

Genauso verhält sich also auch Orpheus, wenn er dem fiktiven Original Wörter entnimmt, um sie für seine Version der Tintenwelt neu zu arrangieren und so die Geschichte in seinem Sinne neu zu erzählen. Er benutzt die Wörter als Werkzeuge für seine manipulativen Interessen. Dieser strukturelle Ansatz hat sich inzwischen in unserer Welt, wie sie sich uns heute darstellt, zu einem maschinellen Mechanismus entwickelt, wie etwa dem ChatGPT. Die strukturelle Linguistik ist die Grundlage der künstlichen Intelligenz.

Ganz anders der Originalautor Fenoglio. Er steht für den hermeneutischen Ansatz. Fenoglio interessiert sich vor allem für den Eigensinn der Tintenwelt. Er versucht nach seinem Wechsel in die Tintenwelt, deren Erzählfluß nicht gewaltsam zu biegen und letztlich zu brechen, sondern seiner ursprünglichen Richtung gemäß zu ,interpre­tieren‛. Dieser Erzählfluß ist nicht an die Strukturen bzw. an starre Codes (Kombinatio­nen von Wörtern) gebunden, also etwas Allgemeines, sondern individuell. Manfred Frank verweist auf Schleiermacher: „Der ,fließende Gedankengang‛ ist seiner Natur nach ,unendlich‛, sagt Schleiermacher. Wird die Rede in einem terminalen Ausdruck ,geschlossen‛, so ist der Sinnfluß gleichwohl nicht oder doch nur vorläufig zum Stillstand gebracht, da ihn die Produktivität des Interpreten sofort wieder verflüs­sigt().“ (Frank 1977, S.46)

Auch im hermeneutischen Sinne haben wir es mit fließenden Differenzen zu tun. Das macht das Individuelle und das Allgemeine aneinander anschlußfähig. Der Unterschied liegt darin, daß im hermeneutischen Ansatz die bedeutungsstiftenden Differenzen anders gesetzt werden. Sie werden, wie Frank schreibt, ,skandiert‛. Das erinnert an die Prosodie des Vorlesers. Man kann einem einzelnen Satz durch unterschiedliche ,Melodien‛ beim stillen Lesen oder beim lauten Vorlesen verschiedene Bedeutungen geben. Grundlage dieser Fähigkeit ist Frank zufolge die „Divination“, eine ,göttliche‛ Eingebung oder einfach subjektives Raten oder Ahnen hinsichtlich dessen, was der Text ,meint‛.

Bei Cornelia Funke hatten wir schon gesehen, daß der Vorleser einen Text nicht einfach nur mechanisch vorliest, wie Darius Elinor erklärt (vgl. Funke 2005, S.138), sondern ihm eine Melodie, eine Prosodie zugrundelegt. Nichts anderes ist mit dem Skandieren gemeint. Durch unterschiedliche Betonung wird die der Derridaschen différance entsprechende Differenz gesetzt, die den Sinn des Satzes, des Textes auf individuelle Weise bestimmt.

Auch hier haben wir es also mit einer Differentialsemantik zu tun. Diese Gemeinsamkeit macht Frank zufolge Individuelles und Allgemeines miteinander kompatibel. Was er dabei aber ausschließt, ist die Bedeutungsstiftung durch Referenz, also eine Referentialsemantik, wie ich sie vertrete. Differentialsemantiken, ob nun strukturell oder hermeneutisch, sind nur auf der Ebene von geschriebenen oder gesprochenen Texten relevant. Die reale Welt spielt in ihnen keine Rolle. Bei meiner Interpretation des individuellen Allgemeinen in Pratchetts „Kleine freie Männer“ war ich referentialsemantisch vorgegangen.

In Funkes Tintenwelt verlieren sich die Menschen, die die ungeschriebene Welt verlassen haben, gewissermaßen in den „Intervallen“ (Derrida) zwischen den ,Zeichen‛ bzw. den Wörtern innerhalb des Textes. Selbst Mortimer, der am längsten daran festhält, wieder in die ungeschriebene Welt zurückzukehren, beginnt, sich in der Tintenwelt zunehmend heimisch zu fühlen, und beginnt sogar, daran zu zweifeln, daß es wirklich keinen ,Autor‛ für die ungeschriebene Welt gibt und fragt sich, ob er nicht letztlich selbst aus einem Buch stammt. Nicht so Tiffany: sie erkennt den fiktiven Charakter des Feenkönigreichs und kehrt in ihre reale Welt zurück. Pratchetts „Kleine freie Männer“ steht für eine referentialsemantische Auffassung von Texten und letztlich von Sprache.

Nur innerhalb einer Differentialsemantik funktionieren Funkes Tintenweltromane. Der häufige Figurenwechsel zwischen der ,realen‛ und der geschriebenen Welt versinnbildlicht den hermeneutischen Zirkel zwischen den individuellen Leserinnen und Lesern einerseits und der ,terminalen‛ (geschlossenen) Struktur des Allgemeinen, ohne ihn durch referentialsemantische Zweifel an seiner Realitätsnähe zu behindern.

Die produktiven Leserinnen und Leser


Das bringt uns zu der alles überragenden Funktion des Lesers für das individuelle Allgemeine, also für die Interpretationsoffenheit des Leseakts und die strukturelle Geschlossenheit des geschriebenen und als solchen nicht mehr veränderbaren Textes.

Terminal geschlossene Texte sind z.B. unterschriebene Verträge, deren Wortlaut nicht mehr verändert werden darf. Ein anderes Beispiel für terminale Geschlossenheit ist die Thora, in der sogar alle Buchstaben gezählt sind und nicht ein einziges Jota verändert werden darf.

Für den geschlossenen „terminalen Ausdruck“, wie Frank es nennt, steht in der Tintenwelt das fiktive Original von „Tintenherz“. Da es dieses Original nicht ,gibt‛ (im Buch sind alle Exemplare bis auf eines vernichtet worden; für die Leser ist auch das eine erhaltene Exemplar nicht zugänglich), gibt es für die Tintenwelt selbst keinen terminalen ,Ausdruck‛ mehr. Allein schon dadurch, daß Mortimer im ersten Band der Trilogie damit begonnen hat, seine Frau in die Tintenwelt hineinzulesen und an ihrer Stelle Staubfinger aus der Tintenwelt herauszulesen, und er danach noch viele Male andere Dinge und Figuren hinein- und herausgelesen hat, ist die ursprüngliche Version von „Tintenherz“ in ,Bewegung‛ geraten. Die Tintenwelt hat zu ,wachsen‛ begonnen, wie es später immer wieder heißt, wenn etwa Fenoglio sich bitter darüber beklagt, daß er seine Geschichte nicht mehr wiedererkenne.

Mit anderen Worten, nicht nur der Schreibakt des Autors, auch der Leseakt der Leserinnen ist produktiv, wie Frank Schleiermacher zitiert: „Die Aneignung fremder Darstellung [ist ...] immer zugleich innere Production().“ (Frank 1977, S.54)

In dem Moment, wo wir ein Buch zu lesen beginnen, ist es nicht mehr terminal geschlossen. Es wird verflüssigt und beginnt zu fließen bzw. zu ,wachsen‛. Wir haben es mit einer „Sinnanreicherung“ durch lesen bzw. durch vorlesen zu tun. (Vgl. Frank 1977, S.56; auch S.54) Für Frank ist diese Produktivität des Lesers so zentral, daß er, wiederum Schleiermacher zitierend, andeutet, daß sogar der Autor selbst seinen eigenen Text erst zu verstehen beginnt, wenn er ihn liest: „Immerhin macht es die Unabschließbarkeit und Widerrufbarkeit jeder Deutung von Traditionen wie von Bestehendem (insofern in ihm Traditionen aufbewahrt sind) wahrscheinlich, daß eine produktive Auslegung vieles zum Bewußtsein wird bringen können, ,was ihm [dem Autor] unbewußt bleiben kann, außer sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser sein wird ...‛.“ (Frank 1977, S.56)

Das könnte man ohne weiteres so auf Fenoglio anwenden, wenn er versucht, sich in seiner Geschichte zurechtzufinden.

Metaphorik des Bildes


Frank zufolge sind es vor allem die Metaphern, die Autorinnen und Gesprächspartnern die Möglichkeit geben, neue Gedanken, die noch nicht gedacht wurden, oder einfach neue Bedeutungen, die den tradierten Wortschatz überschreiten, zu kreieren. In diesem Zusammenhang spricht er vom singulären ,Bild‛: „Wird das vorerst noch schlechthin singuläre Bild () von Rezipienten der Rede zugeeignet, so hat es aufgehört, exklusiv oder privat zu sein und existiert als ein virtuell allgemeines Schema () bzw. als Sprachverwendungsregel (neben anderen) im Gesamt der Sprache().“ (Frank 1977, S.39)

Wenn wir dabei an die Bilder in Funkes viertem Band denken, können wir von einer Metaphorik des Bildes sprechen, die vor allem auf die Singularität des Dargestellten abhebt, entweder als Metapher in der Rede oder als Porträt von Personen in der Tintenwelt. Interessant ist deshalb, daß Franke mit dem Attribut ,singulär‛ auf den zunächst privaten Charakter von Metaphern, im Sinne einer Privatsprache, verweist. Eine solche Privatsprache ist, im übertragenen Sinne, noch ,wortlos‛, weil die verwendeten Wörter im traditionellen Lexikon nicht aufgezeichnet sind und es sie deshalb noch nicht ,gibt‛. Trotzdem haben diese Wort-,Bilder‛ ein innovatives Potential für neue Wörter, die unter Umständen Eingang in das Lexikon finden und es so verändern.

Metaphern bzw. Bilder sind also auch bei Frank zunächst noch wortlos und gleichzeitig potentiell wortschöpferisch. Sie bringen neue Wörter hervor. Das erinnert, wie eingangs schon erwähnt, an Funkes weiblichen Tod, die ein Land regiert, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funke 2007, S.261) ‒ Und im vierten Band heißt es, daß die todähnlichen, in Bildern gefangenen Personen durch Ayeshas wortlosen Gesang herausgesungen werden.

Man könnte also mit Bezug auf Cornelia Funkes vierten Band sagen, daß das singuläre Bild mit der gefangenen Person sich noch jenseits der Worte, im Land ohne Worte, befindet, so daß die Musik die gefangene Person auf wortlose Weise in das Land der Worte transportieren muß, so daß mit ihr, der gefangenen Person, und von ihr auf produktive Weise neue Wörter mit neuen Bedeutungen hervorgehen. Die Musik erweckt die singulären Bilder zu neuem Leben, so daß die ehemaligen Gefangenen wieder Teil der gemeinsamen kommunikativen Praxis werden können.

Donnerstag, 21. November 2024

Individuelles Allgemeines: Cornelia Funke

1. Die Tintenwelt-Trilogie
2. Der vierte Band

Im letzten Blogpost hatte ich zum Schluß geschrieben, Cornelia Funke habe in ihrer Tintenwelt-Trilogie noch keine, auch sie selbst zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem gefunden, weshalb sie 16 Jahre nach Erscheinen des dritten Bandes einen vierten Band, „Die Farbe der Rache“ (2023), geschrieben habe. Wenn ich in diesem Zusammenhang immer vom Individuellen Allgemeinen schreibe, muß ich allerdings festhalten, daß ich wiederum diesen Begriff von Manfred Frank („Das individuelle Allgemeine“ (1977)) übernommen habe; allerdings aufgrund eines unmittelbaren Verständnisses, und nicht aufgrund einer gründlichen Lektüre des Buches, denn ich glaubte sofort zu wissen, worum es Frank in diesem Buch geht. Manfred Franks Buch wimmelt von Bandwurmsätzen, die sich über halbe Buchseiten erstrecken und zudem noch mit mal in Klammern, mal mit zwischen Gedankenstrichen gesetzten Parenthesen angereichert sind. Hinzu kommen Fußnotenessays, die nicht selten mehrere Buchseiten beanspruchen. Solche überfrachteten Texte zu lesen, überfordert mich einfach.

Letztlich geht es bei Manfred Frank um die Wechselbeziehung zwischen dem lesenden Menschen und dem gelesenen Text. Ich wähle meine Worte mit Bedacht; denn tatsächlich beschreibt Manfred Frank diese Wechselbeziehung gelegentlich auch als eine Beziehung zwischen Ich und Du, und zwar ähnlich wie ich mit Bezug auf die primäre Zweiheit von Personen. Das Individuelle in der Beziehung zwischen dem Menschen und dem Text ist bei Frank aber immer der lesende Mensch, und der gelesene Text ist das Allgemeine, so daß beide erst in der Wechselbeziehung zum individuellen Allgemeinen werden.

Die Antwort, die Cornelia Funke mit ihrem vierten Band auf diese Frage nach dem Verhältnis zwischen dem lesenden Menschen und dem gelesenen Text gibt, wird in den vorangegangenen drei Bänden der Trilogie schon angedeutet, und ich will diese Stellen hier kurz referieren. So hält zum Beispiel Darius, der über die Gabe des Vorlesers verfügt, gegenüber Elinor fest, daß es beim Vorlesen vor allem auf die Prosodie, auf die Sprachmelodie des Vortrags ankommt: „Es muss Musik aus den Wörtern kommen.“ (Funke 2005, S.138)

Nur so, aus der Prosodie des Vortrags, könne eine ganze Welt entstehen, zu der man dann als Leserin, als Leser Zutritt finden könne. (Vgl. Funke 2005, S.138) Ein anderer Vorleser, der Antagonist von Fenoglio und sich zum Hauptbösewicht der Trilogie entwickelnde ,Orpheus‛, hat sich deshalb, eitel wie er ist, nach dem mythologischen Sänger benannt, der der Sage zufolge nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen und sogar Steine mit der Macht seines Gesangs verzaubern konnte.

Fenoglio, der eigentliche Autor der Tintenwelt, der aber selbst nicht über die Gabe des Vorlesens verfügt, wendet sich, nachdem er in die von ihm selbst geschriebene Tintenwelt gewechselt ist, dem Schreiben von Liedern zu, die er den Spielleuten auf den Jahrmärkten zur Verfügung stellt. Seine Begründung für diese neue Vorliebe für das gesungene Wort beinhaltet eine Abwendung vom bloß geschriebenen Wort:

„... Worten kann nichts Besseres passieren, als von einem Spielmann gesungen zu werden! Eine Geschichte, die stets ein anderes Kleid trägt, wenn man sie wiederhört ‒ was gibt es Besseres? Eine Geschichte, die wächst und Blüten treibt wie ein lebendiges Ding! Seht Euch dagegen die an, die man in Bücher presst! Gut, vielleicht leben sie länger, aber sie atmen nur, wenn ein Mensch das Buch öffnet. Sie sind Klang, zwischen Papier gepresst, und erst eine Stimme erweckt sie wieder zum Leben! Dann sprühen sie Funken, Balbulus! Frei wie Vögel werden sie, die in die Welt hinausflattern.“ (Funke 2005, S.283f.)

Das gesungene Wort, das Lied, ist schon ein Vorschein auf die Lösung, die Funke im vierten Band findet, insofern hier eine Symbiose zwischen dem Menschen und seinem nun nicht mehr geschriebenen, sondern gesungenen Wort angedeutet wird, das den Menschen auf eine vollkommenere Weise berührt, als es der mündliche Vortrag des Vorlesers vermag.

Und dann haben wir da noch Balbulus, den Illuminator. Als solcher ist er kein Autor, aber er ist ihm gleichgestellt, denn er versieht die geschriebenen Wörter mit Bildern, die zum einen den Seitenrand schmücken, zum anderen sogar in den Text selbst übergreifen und einzelne Buchstaben am Seitenanfang in Bilder verwandeln. Der mit der Gabe des Vorlesens ausgestattete Buchbinder Mortimer ist fasziniert von diesen Illuminationen:

„Wie viele Stunden seines Lebens hatte er damit verbracht, die Kunst der Illuminatoren zu betrachten, tief über fleckigen Seiten gebeugt, bis ihn der Rücken schmerzte, mit einem Vergrößerungsglas jedem Pinselstrich folgend und sich fragend, wie man solche Wunder auf Pergament bannen konnte ‒ all die winzigen Gesichter, all die phantastischen Geschöpfe, Landschaften, Blumen ... winzige Drachen, Insekten, so echt, dass sie von den Seiten zu kriechen schienen, Buchstaben, so kunstvoll verschlungen, als hätten die Linien erst auf den Seiten zu wachsen begonnen.“ (Funke 2007, S.95)

Hier deutet sich schon an, daß diese Bilder etwas vermögen, was sonst nur das durch den Vorleseakt vermittelte geschriebene Wort vermag: Figuren lebendig erscheinen zu lassen. Auch das ist ein zentrales Thema des vierten Bandes.

Im vierten Band sinnt Orpheus, der im dritten Band mit seinen ehrgeizigen Plänen, die Macht über die Tintenwelt an sich zu reißen, gescheitert ist, auf Rache. Der Hauptverantwortliche für sein persönliches Scheitern ist in seinen Augen Staubfinger, der, als Orpheus noch Teil einer nicht geschriebenen, wirklichen Welt gewesen ist, seine Lieblingsfigur in dem imaginären Originalbuch „Tintenherz“ gewesen war. Inzwischen ist Orpheus aber die Gabe des Vorlesens abhanden gekommen, so daß er keinen Einfluß mehr auf den Fortgang der Tintenweltgeschichte nehmen kann.

Orpheus entdeckt jedoch, daß Bilder über dieselbe Macht verfügen wie Wörter, und sie haben den Vorteil, daß sie nicht vorgelesen werden müssen. Es scheint zunächst, als hätten Bilder und die menschliche Stimme nichts miteinander zu tun. Aber diesem scheinbaren Vorteil steht ein Nachteil gegenüber, nämlich daß, ähnlich wie bei Texten, nur gute Bilder diese Macht haben; Bilder also, die das, was sie abbilden, möglichst lebensecht abbilden. Außerdem bedarf es besonderer Farben, mit einer magischen Farbigkeit, wie sie nur eine der weisen Frauen im Wald herzustellen vermag. Unter diesen magischen Farben wiederum gibt es eine besonders gefährliche Farbe, die Farbe der Rache ‒ denn mit ihr will sich Orpheus an Staubfinger rächen ‒, die die Macht hat, Menschen und Figuren (zwischen denen es in der Tintenwelt keinen Unterschied gibt), in ein Bild zu bannen.

Bei dieser Farbe handelt es sich um ein farbloses Grau, das die gebannten Menschen in einen todesähnlichen Zustand versetzt. Orpheus gelingt es, sich in den Besitz dieser Farben zu bringen und den Illuminator Balbulus mit ihnen zu bestechen. Balbulus geht es vor allem um die richtigen Farben, die, flapsig ausgedrückt, farbigen Farben, mit denen er unübertreffbar vollkommene Bilder malen will. Orpheus stellt sie ihm unter der Bedingung zur Verfügung, daß er Bilder von allen Personen malt, die Staubfinger liebt, insgesamt zehn Personen, aber diese Personen selbst sollen mit der grauen Farbe gemalt werden. Balbulus soll auch Staubfinger malen, aber farbig, denn mit ihm hat er noch einen besonderen Racheplan.

Ich will jetzt nicht die ganze Geschichte nacherzählen. Ich muß nur noch festhalten, daß die Bilder zu einem kleinen, schmalen Buch zusammengebunden werden, so daß die grau gemalten Personen wieder in einem Buch gefangen sind, das aber kein geschriebenes Buch ist, sondern eben aus Bildern besteht. Am Ende, nachdem Orpheus endgültig besiegt ist und alle in den Bildern gebannten Personen wieder befreit worden sind, bindet Mortimer das Buch neu und fügt jedem Bild zwei neue, leere Blätter hinzu; also insgesamt zwanzig neue Blätter mit vierzig neuen Seiten. Diese soll seine Tochter Meggie, die sich inzwischen selbst zu einer fähigen Autorin entwickelt hat, mit Texten versehen, die die Geschichte der auf den Bildern abgebildeten Personen, die nun nicht mehr grau sind, sondern farbig, in Worte übersetzen.

Wie aber werden die gebannten Personen aus den Bildern befreit? Hier kommt wieder die menschliche Stimme ins Spiel. Ayesha, eine junge Frau, die mit der Gabe des Gesangs gesegnet ist, singt die Gebannten aus den Bildern heraus. Musik hatte auch schon in der Prosodie des Vortrags eine Rolle gespielt. Hier aber handelte es sich um eine Musik, die den Worten selbst entsprang. Ayeshas Lieder hingegen sind wortlos: „Das Lied hatte keine Worte, und doch sprach es von allem, was die Welt ausmachte“. (Funke 2023, S.310) ‒ Das erinnert an den Schluß des dritten Bandes, wo der Tod selbst das Schreiben in die Hand nimmt und der Tintenweltgeschichte ein ihr angemessenes Ende setzt. (Vgl. Funke 2007, S.707)

Über den Tod heißt es dort, daß ,sie‛ ein Land regiert, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funke 2005, S.261) ‒ Ganz ähnlich sagt Ayesha über die von dem Illuminator gemalten Bilder: „Die Bilder in diesem Buch sind wunderbar ... Der Illuminator, der sie gemalt hat, muss ein großer Künstler sein. Man entdeckt immer wieder etwas Neues, und jede Einzelheit ist so lebendig. Bilder sagen mehr als Worte, denkt ihr nicht? Denn sie wissen auch von den Dingen, für die es keine Worte gibt.“ (Funke 2023, S.310f.; Auslassung von DZ)

Diesen mit Worten nicht beschreibbaren Bildern ‒ heißt es nicht, daß ein Bild mehr ,sagt‛ als tausend Worte? ‒ entspricht der wortlose Gesang Ayeshas. Zu jedem der Bilder in dem kleinen Buch, zu jeder der darin gebannten Personen, singt sie ein nur auf die jeweilige Person passendes wortloses Lied. Denn einem Bild, in dem jede Einzelheit so lebendig ist, daß es auch noch so viele Wörter nicht erfassen können, kann nur die Musik, die keine Worte enthält und aus der doch alle Worte kommen, gerecht werden.

Das war wohl der tiefere Sinn über das wortlose Land des Todes am Ende des dritten Bandes. Und darauf ist Funke nun mit ihrem vierten Band noch einmal zurückgekommen.

Die Bilder und das Buch, in das sie gebunden sind, zusammen mit den zusätzlichen vierzig vorläufig leeren Seiten, ist Funkes Antwort auf die Frage nach dem Individuellen Allgemeinen. Das neu gebundene Buch wird zu einem Archiv, in dem die Erinnerung an die außerhalb des Buches weiterlebenden Personen für immer bewahrt bleiben soll. Natürlich können vier Seiten Text nie die ganze Geschichte eines konkreten Menschen erfassen. Sie bleiben allgemein. Doch kann ein gut geschriebener Text (allgemein) im Verbund mit einem Bild (individuell) die Erinnerung daran bewahren, was einmal lebendig gewesen war. So wird das Buch auf individuell allgemeine Weise zu einem unverzichtbaren Archiv, das alles, was geschehen ist und möglicherweise geschehen wird, bewahrt, und nicht zu einem Gefängnis.

Dienstag, 19. November 2024

Individuelles Allgemeines: Cornelia Funke

1. Die Tintenwelt-Trilogie
2. Der vierte Band

Wie schon im letzten Blogpost angekündigt, soll es hier um die Tintenwelt-Trilogie (2003-2007) von Cornelia Funke und um ihr letztes Jahr erschienenes Tintenweltbuch „Die Farbe der Rache“ (2023) gehen. Ich hatte geschrieben, daß es sich, was das Individuelle Allgemeine betrifft, bei den Tintenweltbüchern um eine Antithese zu „Kleine freie Männer“ (2003/2005) von Terry Pratchett handele. Eine solche Antithese sind sie insofern, als wir es bei den Tintenweltbüchern nicht nur mit Skizzen zu tun haben, die die konkrete Welt auf wenige allgemeine Wörter reduzieren. Tatsächlich aber sind sich Funke und Pratchett im Wesentlichen erstaunlich einig.

Das zeigt sich an verschiedenen, über die ersten drei Bücher verteilten Stellen, wo Funke der Tintenwelt ähnliche magische Eigenschaften zuschreibt wie Pratchett der Feenwelt. So denkt z.B. Meggie, Mortimers Tochter, einige Zeit, nachdem sie in die Tintenwelt übergewechselt ist: „Das Leben war viel schwieriger in Fenoglios Welt, und doch schien es Meggie, als spinne seine Geschichte mit jedem anbrechenden Tag einen Zauber um ihr Herz, klebrig wie Spinnenfäden und gleichzeitig betörend schön ... Alles um sie her schien inzwischen so wirklich. Ihr Heimweh war fast verschwunden.“ (Funke 2005, S.270)

Fenoglios Buch übt also auf seine Leserschaft eine ähnliche Macht aus, wie die Feenkönigin über die Menschen, die es, aus welchen Gründen auch immer, in ihr Reich verschlagen hat. Auch der Autor selbst, Fenoglio, gerät eher unfreiwillig in die Tintenwelt, die er selbst erschaffen hat, und merkt bald widerwillig, daß er, obwohl ihr Schöpfer, von seiner eigenen Geschichte gefangen genommen wird:

„Nein, er hing nicht an Fäden wie diese dumme Puppe, mit der Baptista manchmal auf den Märkten auftrat (auch wenn sie ihm etwas ähnlich sah). Nein, nein, nein. Keine Fäden für Fenoglio, ob Wort- oder Schicksalsfäden. Er hatte sein Leben gern in den eigenen Händen und verwahrte sich gegen jede Einmischung ‒ auch wenn er zugab, dass er selbst sehr gern der Puppenspieler war. Es blieb dabei: Seine Geschichte war einfach etwas aus dem Ruder gelaufen. Niemand schrieb sie. Sie schrieb sich selbst! Und nun war sie eben auf diesen dummen Einfall mit dem Riesen gekommen!“ (Funke 2007, S.637)

Es stellen sich auch dieselben Fragen, so etwa der kleinen Hexe im Feenkönigreich, als sie merkt, daß dort alles flach ist, ohne Räumlichkeit und Zeit. Und Meggie fragt sich: „Wie weit reichte Fenoglios Welt? Nur gerade so weit, wie er sie sich ausgemalt hatte?“ (Funke 2005, S.210)

Aber im Zentrum von Funkes Romantrilogie steht doch die von mir erwähnte Antithese zu Pratchett. Die Tintenwelt ist nicht flach. Sie hat eine eigene Tiefe und ihre eigene, vom Autor (Fenoglio) unabhängige Erzählrichtung. Ständig weichen die Figuren von der vom Autor vorgegebenen Handlung ab, und es treten sogar neue Figuren auf, von denen Fenoglio bislang nichts gewußt hatte. So wehrt er sich gegen Elinors Vorwürfe, die ihn für das Desaster, das dem Fortgang der Geschichte droht, verantwortlich macht: „Und warum ist Cosimo dann tot? Habe ich geschrieben, dass Mortimer das Buch so bindet, dass es den Natternkopf bei lebendigem Leib faulen lässt? Nein. War es meine Idee, dass der Schnapper eifersüchtig auf ihn ist und die Hässliche plötzlich ihren Vater töten will? Keineswegs. Ich habe diese Geschichte nur gepflanzt, aber sie wächst, wie sie will, und alle verlangen, dass ich voraussehe, welche Blüten sie treiben wird!“ (Funke 2007, S.520f.)

Es gibt sogar eine Stelle, in der die Tiefenschärfe der Geschichte, ähnlich wie im bloß zweidimensionalen Feenkönigreich, thematisiert wird: „Es tat gut zu reiten, einfach nur zu reiten, während die Tintenwelt sich vor ihnen entfaltete wie ein kunstvoll zusammengelegtes Papier. Und mit jeder Meile zweifelte Mo mehr daran, dass all das wirklich erst durch Fenoglios Worte entstanden war. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass der alte Mann nur ein Berichterstatter gewesen war, der von einem winzigen Ausschnitt dieser Welt erzählt hatte, einem Bruchteil, den sie schon lange hinter sich gelassen hatten? Fremde Berge säumten den Horizont und Ombra war weit. Der Weglose Wald schien ebenso fern wie Elinors Garten, die Nachtburg nichts als ein finsterer Traum ...“ (Funke 2007, S.470)

Es gibt also denkwürdige Parallelen und Unterschiede in den von Funke und Pratchett beschriebenen Phantasiewelten, und diese Unterschiede haben etwas mit dem Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem zu tun. Funke legt dabei den Fokus auf die Schlüssellochfunktion der auf Papier niedergeschriebenen Wörter. Zwar reduziert dieses Schlüsselloch die wahrgenommene Welt auf einen winzigen Ausschnitt, aber dahinter verbirgt sich eine ganze unendliche Welt.

Das Seltsamste an der ganzen Konstruktion der Tintenwelt ist, daß das Buch, um das es geht und das den Titel „Tintenherz“ trägt, mit dem ersten Band der Trilogie, der ebenfalls den Titel „Tintenherz“ (2003) trägt, nicht identisch ist. Das Buch, das wir in der Hand halten und das wir lesen, handelt von demselben Buch, das wir gar nicht lesen! Von seiner Geschichte erfahren wir nur indirekt über ihre Figuren, die von Mortimer versehentlich aus ihrer Tintenwelt herausgelesen worden sind. Denn zunächst wechseln ja die Figuren im Buch in die reale, ungeschriebene Welt, bevor seine Leser ab dem zweiten Band in die geschriebene Buchwelt wechseln, die dann aber nicht mehr die Tintenwelt des Buchs ist, um das es im ersten Band geht, sondern inzwischen eine andere, veränderte Welt.

Bevor ich jetzt darauf eingehe, wie dieser Wechsel von einer Welt zur anderen funktioniert, versuche ich die Frage zu beantworten, was es eigentlich mit dieser seltsamen Erzählkonstruktion auf sich hat. Wieso schreibt Funke ein Buch, in dem es um ein Buch gleichen Titels geht, dessen Geschichte nirgendwo niedergeschrieben ist und nur ausschnittsweise aus der Figurenperspektive ,erzählt‛ wird? Ein Buch, das also gewissermaßen ein Schlüsselloch in einem Schlüsselloch ist?

Ich denke, das macht insofern Sinn, als jetzt im Band „Tintenherz“ das Buch „Tintenherz“ zur Hintergrundgeschichte wird, zu der die verschiedenen Figuren, stellvertretend für die Leserinnen und Leser, unterschiedliche Perspektiven beisteuern können und so die ganze Geschichte jetzt offen dafür wird, wie das ,Ganze‛ sich weiterentwickelt, weil wir Leserinnen und Leser, die das Originalbuch nicht gelesen haben, ja nicht wissen können, was dieses Ganze eigentlich genau ist. Das Originalbuch kann jetzt also jedes mögliche ,Ende‛ haben, weil wir dieses Ende nicht kennen! Und aus demselben Grund kann es auch alle möglichen Welten beinhalten. Wie Fenoglio zu Meggie sagt: „Glaub mir: Diese Geschichte ist ein Labyrinth!“ (Funke 2007, S.468)

Was tritt jetzt an die Stelle des Originals, das wir nicht kennen? Unsere Phantasie! Für diese Phantasie stehen der Autor, Fenoglio, und die verschiedenen Vorleser, die mit ihren Stimmen seinen Worten Leben verleihen und so den Verlauf der Geschichte beeinflussen Und letztlich wir Leser, die sie weiterspinnen. Bezeichnender Weise ,vergißt‛ Fenoglio an einer Stelle im dritten Band das den Unterschied markierende Präfix, wenn er sich über seine finanziell prekäre Situation in der Tintenwelt beklagt: „Er hätte einen Leser gebraucht, um seine Worte in klingende Münzen zu verwandeln, und er war nicht sicher, ob Meggie oder ihr Vater ihm für solch prosaische Ziele ihre Zunge geliehen hätten.“ (Funke 2007, S.56)

Es hätte natürlich „Vorleser“ heißen müssen, aber Fenoglio denkt stattdessen an einen „Leser“. Diese Unachtsamkeit ist für jemanden, dessen Eitelkeit als Autor solche Ausmaße annimmt wie bei Fenoglio ‒ er platzt fast vor Stolz über seine von ihm erschaffene Welt ‒, keine Kleinigkeit. Nie würde er zugeben, daß er als Autor von gewöhnlichen Leserinnen oder Lesern abhängig wäre.

Tatsächlich aber ist er abhängig: und zwar von Vorlesern! Denn Fenoglio kann zwar Geschichten schreiben, aber er kann sie nicht vorlesen. Er kann sie nicht so vorlesen, wie es z.B. Mortimer kann, oder Meggie, oder Darius, oder ,Orpheus‛ (wie er, ehemaliger Leser der Tintenwelt und nicht minder eitel als Fenoglio, sich selbst gerne nennt). Alles übrigens Menschen aus der ungeschriebenen, realen Welt! Unter den Figuren der Tintenwelt befinden sich keine Vorleser, die die Gabe haben, ihre Welt real werden zu lassen bzw. den weiteren Verlauf ihrer Geschichte zu manipulieren. Mit einer Ausnahme! Aber dazu gleich mehr.

Zunächst einmal scheint die Wirkmächtigkeit der menschlichen Stimme also dazu in der Lage zu sein, den Wechsel von Figuren aus der Geschichte in die reale Welt und umgekehrt den Wechsel von Leserinnen und Lesern aus der realen Welt in die Geschichte zu ermöglichen. Die Stimme steht also für die Macht der Phantasie, und letztlich ist es diese Phantasie, die die Geschichte ,wachsen‛ läßt, wie es immer wieder heißt, sowohl zur Freude wie auch zum unendlichen Leid der vom gnadenlosen Fortgang der Geschichte Betroffenen.

Nicht zuletzt Fenoglio, der Autor, leidet unendlich darunter, seine Macht über die Geschichte mit anderen teilen zu müssen. Nicht einmal er selbst kann die eigene, von ihm geschriebene Geschichte, verändern, seit er sich ebenfalls in ihr befindet.

Immerhin bleibt Fenoglio noch ein Vorteil: es reicht nicht, einfach nur irgendetwas vorzulesen. Was die Geschichte verändern soll, muß zu allererst gut geschrieben sein. Ohne einen gut geschriebenen Text, hat auch der beste Vorleser keine Macht über die Geschichte. Nur Orpheus, ehemaliger Leser von „Tintenherz“ und ab dem dritten Band in die Tintenwelt hinübergewechselt, hat die Gabe, gute Texte zu schreiben und sie so vorzulesen, daß sie sich verwirklichen und die Geschichte verändern. Dabei bedient er sich aber eines Tricks. Da er das letzte existierende Exemplar von „Tintenherz“ besitzt, stiehlt er sich die nötigen Wörter aus dem Buch und setzt sie neu zusammen. Also kann er gar nicht gut schreiben. Er ist bloß ein Epigone.

Wenn aber gute Vorleser wie der Buchbinder Mortimer oder seine Tochter Meggie aus einem gut geschriebenen Text vorlesen, dann wird das, was sie vorlesen, auch Wirklichkeit. Und es ist Fenoglio, der ihnen diese Texte liefert, denn ihm geht es, trotz seiner ganzen Eitelkeit, doch letztlich immer nur um seine Geschichte, und er erklärt dann auch Elinor, ebenfalls aus der ungeschriebenen Welt in die Tintenwelt gewechselt, worum es beim Schreiben geht:

„,Jede gute Geschichte verbirgt sich hinter einem Gewirr von Fragen, und es ist nicht leicht, ihnen auf die Schliche zu kommen. Hinzu kommt, dass diese hier ihren ganz eigenen Kopf hat, aber ‒‛, Fenoglio senkte die Stimme, als könnte die Geschichte sie belauschen, ,wenn man ihr die richtigen Fragen stellt, flüstert sie einem all ihre Geheimnisse zu. So eine Geschichte ist ein sehr geschwätziges Ding.‛“ (Funke 2007, S.466f.)

Aber es gibt noch andere Konkurrenz für die beiden Antagonisten Fenoglio und Orpheus: den Tod! Der Tod erweist sich in der Trilogie, also in den ersten drei Büchern, als eine unabhängige Instanz. Ähnlich wie Tiffany in „Freie kleine Männer“ über ein eigenes Realitätsprinzip verfügt, den Feuerstein, so bildet auch der Tod in Gestalt der „Weißen Frauen“ ein Realitätsprinzip, das gleichermaßen für die geschriebene wie für die ungeschriebene Welt gilt. Und der Tod ist eine weibliche Stimme! (Vgl. Funke 2007, S.261)

Am Ende des dritten Bandes, also am Ende der Trilogie, erscheint die Stimme in Gestalt einer weißen Frau und schreibt eine eigene, letztgültige Version von diesem Ende auf ein Blatt Papier, das sie Meggie überreicht. Farid fragt sie: „Kannst du es lesen?“ ‒ Meggie nickt und sagt: „Geh zum Schwarzen Prinzen und sag ihm, er kann sein Bein schonen ... Wir bleiben alle hier. Das Lied über den Eichelhäher ist geschrieben.“ (Funke 2007, S.707)

Kein Wort davon, daß Meggie die Worte des Todes noch vorlesen müßte. Sie haben ihre eigene Geltung, die über die Macht des Autors Fenoglio und eines Vorlesers hinausreicht, denn an der weiter oben zitierten Stelle heißt es, daß der Tod „das Land regiert, in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funk 2007, S.261)

Das ist mehr als bloße Lyrik. Tatsächlich spricht Funke hier ein Thema an, das sie nicht in Ruhe lassen und 16 Jahre später veranlassen wird, noch einen vierten Band zu schreiben. Es geht bei diesem Thema um die Frage, was es bedeutet, über ein Land zu regieren, in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen. Funke hatte mit ihrer Trilogie noch keine zufriedenstellende Antwort auf des Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem gefunden. Damit werde ich mich im nächsten Blogpost befassen.

Sonntag, 17. November 2024

Individuelles Allgemeines: Terry Pratchett

Im ersten Tiffany-Roman „Kleine freie Männer“ (2003/2005) beschreibt Terry Pratchett die Feen-Welt am Beispiel eines Bildes von Richard Dadd (1817-1886): „The Fairy Feller’s Master Stroke“ (Der meisterhafte Schlag des Elfenholzfällers). Ich möchte an diesem Beispiel verdeutlichen, was Literaturwissenschaftler unter dem Begriff des Individuell Allgemeinen verstehen (Schleiermacher/Frank). Dabei geht es mir nicht um Literaturwissenschaft, sondern darum, wie das menschliche Bewußtsein funktioniert.

In einem zweiten Blogpost werde ich mich mit Cornelia Funkes Tintenwelt befassen, die gewissermaßen die Anti-These zu Pratchetts Tiffany-Roman bildet. In ihren vier Romanen „Tintenherz“ (2003), „Tintenblut“ (2005), „Tintentod“ (2007) und „Die Farbe der Rache“ (2023) geht es ebenfalls um das Spannungsverhältnis zwischen Individuellem und Allgemeinem. Im zuletzt erschienenen Roman geht es sogar um die unterschiedliche Weise, wie Bilder (Gemälde) und Texte Individuelles und Allgemeines miteinander vermitteln.

Wenn ich mich jetzt also den „Kleinen freien Männern“ von Terry Pratchett zuwende, dann greife ich vor allem auf meine Erinnerung an Lektüren zurück, die schon viele Jahre zurückliegen, weil nach unserer Trennung alle Scheibenweltromane in den Besitz meiner Ex-Freundin übergingen. Mein Gedächtnis ist leider sehr unzuverlässig, und ich kann mich deshalb für die Genauigkeit meiner Erinnerungen nicht verbürgen. Aber im wesentlichen läuft es auf folgendes hinaus:

Tiffanys kleiner Bruder wird von der Feenkönigin gekidnappt und ins Feenreich verschleppt. Tiffany Weh (engl: Tiffany Aching), ein damals noch 11-jähriges Mädchen und noch keine ausgewachsene Hexe wie in den späteren Tiffany-Romanen, macht sich auf den Weg ins Feenreich, um ihren Bruder zurückzuholen. Feen sind in dieser Geschichte überhaupt nicht nett. Sie sind bösartig und egozentrisch. Und wer sich in ihr Reich begibt, ist ihnen vollständig ausgeliefert, weil es ein Traumreich ist, und dieser Traum wird nicht etwa von den Besuchern geträumt, sondern von der Feenkönigin. Ihre Macht besteht darin, das individuelle Bewußtsein vollständig zu manipulieren, so daß jede, jeder das für wirklich hält, was sie uns glauben macht.

Im Vorgriff auf Funkes „Tintenwelt“ kann man also sagen, daß die Feenkönigin über die Fähigkeiten einer guten Autorin verfügt und Tiffany und ihr kleiner Bruder für die Leserschaft ihrer Bücher stehen. Wer einmal eins ihrer Bücher aufgeschlagen hat, kann es nicht eher aus der Hand legen, als bis es durchgelesen ist.

Allerdings vergleicht Pratchett das Feenreich nicht mit einem Buch, sondern, wie schon erwähnt, mit einem Gemälde von Richard Dadd. Dabei ist das Gemälde selbst für mich an dieser Stelle weniger interessant, als vielmehr dessen Bezug auf das Abenteuer, das Tiffany im Feenreich erlebt. Das Seltsame an diesem Feenreich ist nämlich, daß es flach ist wie ein Gemälde. Es ist bloß zweidimensional. Das zeigt sich daran, daß Tiffany immer dann, wenn sie etwas in der (gemalten) Landschaft genauer zu fixieren versucht, stets nur ein und dieselbe Perspektive einnehmen kann. Sie kann in gewisser Weise nicht um die Dinge ,herumgehen‛. Es gibt nur den wahrgenommenen Vordergrund und dahinter keinen Hintergrund.

Je mehr Tiffany versucht, mehr von den Bäumen und Pflanzen zu sehen, als was sich schon dem ersten Blick anbietet, um so weniger Details werden erkennbar. ,Hinter‛ den Bäumen sind zwar auch noch Bäume, aber die sind nicht so genau und detailreich ausgeführt, wie die davorstehenden Bäume. Sie sollen gewissermaßen nur den Eindruck erwecken, als wäre da noch etwas ,dahinter‛ und alle weiteren Teile der Landschaft ,verschwimmen‛ mit zunehmender Ferne, um Räumlichkeit vorzutäuschen, ohne daß man aber auf diese Horizonte zugehen und dabei neue Dinge entdecken könnte.

Interessanterweise ist das Gemälde von Richard Dadd voller Details, und es wimmelt nur so von phantastischen Figuren, umgeben von dichtem Gebüsch, Gras und Gestein. Vom Himmel ist nur ein kleiner blauer Ausschnitt zu sehen. Aber die erstaunliche Detailfülle des Gemäldes kann Tiffany offensichtlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie es hier nicht mit der Wirklichkeit, sondern nur mit einer Fiktion zu tun hat.

Pratchett hat seiner Tiffany ein Realitätsprinzip eingepflanzt, das sich von keiner Feenkönigin außerkraft setzen läßt. Hexen, so Pratchett, ziehen ihre Macht aus dem Gestein. Je nach dem wo sie leben, sind es die unterschiedlichen dominanten Gesteinsarten, aus denen sie ihre Kraft ziehen. Als besonders mächtig gelten die harten Gesteinsarten, wie etwa Granit. Tiffany lebt aber in den Kreidehügeln, eine weite Graslandschaft, die ausschließlich für die Schafhaltung genutzt wird. Besonders hartes Gestein gibt hier also scheinbar nicht.

Aber als es ihr gelingt, ihren kleinen Bruder aus der Gewalt der Feenkönigin zu befreien, findet sie genau in diesen Hügeln und ihrer ozeanischen Herkunft Schutz vor der Verfolgung durch die Feenkönigin. Gerade das weiche, nachgiebige Kalkgestein verbirgt in sich den härtesten Stein überhaupt: den Feuerstein.

Dies nur, um die Geschichte zu vervollständigen. Mir geht es hier um das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem: um das „Individuell Allgemeine“. Dieses kommt in den Eigenschaften eines Gemäldes zum Ausdruck, wie Richard Dadd es gemalt hat, und zwar in seiner Zweidimensionalität. Alles, was das Gemälde an Figuren und Gegenständen und eben auch Flächen wie den Himmel enthält, bleibt allgemein. Die Gebüsche, die Gräser, die Figuren sind nichts für sich selbst, sondern stehen für etwas anderes. René Magritte brachte das zum Ausdruck, als er eine Pfeife malte und darunter die Worte setzte: „Ceci n’est pas une pipe“ (Dies ist keine Pfeife!).

Alles in dem Gemälde ist allgemein, weil nichts darin etwas für sich selbst ist; weil also nichts darin individuell ist. Individuell sind nur die konkreten Dinge in der realen Welt. Wer sie ansieht und in die Hand nimmt, wird ständig neue Details an ihnen entdecken, und die Details wiederum werden aus einer weiteren Fülle von Details bestehen, und des Sehens und Erlebens wird kein Ende sein. Das ist das eigentliche Kennzeichen aller individuellen Dinge. Auch wenn Richard Dadds Gemälde eine Photographie wäre, wäre die Auflösekraft der Photographie begrenzt. Wenn wir uns nicht vom ersten Augenschein beeindrucken lassen und immer genauer hinsehen, wird sich die scheinbare Fülle der Photographie irgendwann in einzelne Pixel auflösen.

Genau in diesem Sinne ist das Individuelle individuell. Das Allgemeine der malerischen Komposition arbeitet letztlich nur mit der Phantasie des Betrachters, der bzw. die sich durch die Darstellung angeregt fühlt, die ,Lücken‛ im Gemälde auszufüllen. Es ist die individuelle Phantasie, die das Allgemeine zum Leben erweckt. Und genau darin besteht die Macht der Feenkönigin. Sie nimmt unsere Phantasie in ihre Gewalt und verformt sie nach Gutdünken, wie es ihren Launen gerade gefällt. Ohne unsere Phantasie wäre sie machtlos. Was sie erschafft ist eine prächtige Phantasiewelt. Aber wir sind es, die ihr die Macht dazu geben.

Alles, was hier über das Feenreich gesagt wurde, läßt sich natürlich auch auf Bücher beziehen. Ich denke hier an ein anderes Buch bzw. eine ganze Reihe von Büchern, die mir mal ein Freund ausgeliehen hat und die ich also auch nicht in meinem Bestand habe. Der Autor ist Jasper Fforde. Seine Romanfigur ist eine Bücherdetektivin, deren Spezialgebiet darin besteht, in Unordnung geratene Bücherwelten zu retten. In einem seiner Romane, „Der Fall Jane Eyre“, wird z.B. die Hauptfigur, also Jane Eyre entführt, und die Detektivin muß versuchen, sie zu retten.

In einem dieser Romane nimmt die Detektivin die Hauptfigur, vielleicht ist es sogar Jane-Eyre, mit in die Realität, und die Hauptfigur wird von der Detailfülle dieser Realität überwältigt. In ihrer Romanwelt, die ja nur aus Wörtern besteht, kennt sie so etwas nicht. Dort reichen wenige Worte aus, um komplexe Ereignisse und vielfältige Landschaften zu ,skizzieren‛. Denn mehr tun die allgemeinen Worte nicht: Sie skizzieren bloß. Den Rest muß man sich hinzudenken.