„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 9. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Beauvoir versteht die Biologie des Menschen, insbesondere die weibliche Biologie nicht als Schicksal, auch wenn sie sich beim schwierigen Thema ,Fortpflanzung‛ immer wieder vergleichsweise auf Tiere bezieht, sondern als Projekt. (Vgl. Beauvoir 1987, S.28; vgl. auch S.26, 48, 382, 398, 494, 505, 551, 567, 668f., 675, 677) Sie vertritt wie ich den Standpunkt, daß es aller drei Entwicklungsebenen, der Biologie, der Gesellschaft und der Individualität, bedarf, um einen Menschen zu machen. Darin unterscheidet sie sich von den Dekonstruktivistinnen. Es ist aber vor allem die Gesellschaft, die die Bewertungsschemata vorgibt, an denen die Individuen ihre körperleibliche Befindlichkeit messen und an denen sie sich abarbeiten.

Dabei spielt die Situation, in der sich die Individuen den verschiedenen Ansprüchen an ihre Person stellen müssen, die Situation, in der sie ihr Leben führen, sprich: existieren, Beauvoir zufolge die entscheidende Rolle. Die „biologischen Voraussetzungen“ sind zwar von „größter Wichtigkeit“. Aber auch sie bilden nur ein „Element der Situation“, in der sich jede Frau befindet: „Denn da der Körper das Instrument ist, mit dem wir die Welt wahrnehmen, stellt sich die Welt ganz anders dar, je nachdem sie mit diesem oder jenem Körper wahrgenommen wird. ... Was wir aber ablehnen, ist die Idee daß sie an sich ein unausweichliches Geschick darstellen. Sie (die biologischen Voraussetzungen ‒ DZ) genügen nicht, um eine Hierarchie der Geschlechter zu begründen; sie erklären nicht, weshalb die Frau die Andere ist; sie verdammen sie nicht dazu, für immer diese untergeordnete Rolle zu spielen.“ (Beauvoir 1987, S.46)

Freud und Merleau-Ponty überdehnen Beauvoir zufolge Anatomie und Physiologie zu einem Allgemeinen, das dem Primat der Situation nicht nur über die Biologie, sondern auch über die Gesellschaft nicht gerecht wird. Beauvoir hingegen führt dieses biologische ,Allgemeine‛ wieder auf die soziale Wirklichkeit unserer individuellen Existenz zurück. Anatomie und Physiologie mögen zwar, wie Freud und Merleau-Ponty behaupten, soziale Typisierungen motivieren. Aber sie begründen sie nicht:
„‚Anatomie ist Schicksal‛, hat Freud gesagt; das Echo zu diesem Wort finden wir in einem Ausspruch von Merleau-Ponty: ,Der Leib ist das Allgemeine.‛ Die Existenz ist durch die Trennung in Existierende hindurch nur eine einzige: sie manifestiert sich in gleichgearteten Organismen ... so wird es auch Konstanten in der Beziehung zwischen dem Geschlechtlichen und den sozialen Formen geben; ähnlich geartete Individuen werden in ähnlichen Situationen innerhalb der gleichen Grundgegebenheit zu gleichen Deutungen greifen; diese Analogie begründet nicht eine unverbrüchliche Universalität, doch gestattet sie, in Einzelentwicklungen allgemeine Typen zu erkennen.“ (Beauvoir 1987, S.58)
Die an biologische Funktionen individueller Organismen erinnernden ,typischen‛ Situationen, mit denen sich Frauen immer wieder konfrontiert sehen, sind derart komplex aus vielfachen individuellen und kollektiven Interaktionen zusammengesetzt, daß es sich erst im individuellen Handeln entscheidet, welchen Sinn sie ihnen geben. Ein den biologischen Funktionen ähnliches Situationsschema ist bzw. war (zumindest 1949) die Ehe. Hier, im Schoß der Gesellschaft, beginnt das eigentliche Drama ihrer Menschlichkeit, ohne dort zu enden. Bis heute nicht.

Wie schwierig es ist, zwischen Biologie und Gesellschaft zu unterscheiden, zeigt sich an Simone de Beauvoirs Darstellungen selbst, wenn sie Details des ,Befruchtungs‛-prozesses beschreibt. Schon der Begriff der ,Befruchtung‛ ist falsch, weil er suggeriert, es müsse die Oozyte allererst durch den männlichen ,Samen‛, ein ebenfalls irreführender Begriff, ,befruchtet‛ werden, als wäre die Eizelle für sich selbst keine Frucht. Außerdem beschreibt Beauvoir die Begegnung von Oozyte und Spermium als einen Akt der Penetration: das Spermium ,dringt‛ in die Eizelle ein, als sei es ein kleiner Penis.

Anders als Beauvoir meint haben wir es auch nicht mit einem 50 Prozent Anteil des Samens an der Erzeugung des künftigen Menschen zu tun. (Beauvoir 1987, S.30) In keinem von beiden, weder in der Oozyte noch dem Spermium allein, so Beauvoir, sei der „Lebensfunke“ enthalten: es bedürfe erst ihrer Vereinigung, um ihn zu entzünden (vgl. Beauvoir 1987, S.29), was schlichtweg falsch ist.

Wenn von einem Lebensfunken die Rede sein kann, dann nur bei der Eizelle. Außerdem wartet die Eizelle keineswegs „passiv“ die „Befruchtung“ durch das Spermium ab, wie Beauvoir meint. Vielmehr sind zuvor ausschließlich im Inneren der Eizelle selbst, die durchaus zur Parthenogenese fähig wäre, alle Vorbereitungen dafür getroffen worden, daß der sehr geringe Beitrag des Spermiums, die Hälfte der männlichen Erbsubstanz, zur weiteren Entwicklung der Frucht erfolgen kann. Das Spermium ‚dringt‛ auch nicht in die 80.000-fach größere Eizelle ein, sondern letztere verleibt es sich durch Phagozytose aktiv ein.

So hätten es die männlichen Fortpflanzungsideologen gern und Beauvoir reproduziert deren Mythen. Die tatsächlichen biologischen Tatsachen werden von einer männlich dominierten Wissenschaft entweder verschwiegen oder geleugnet. Es gibt weder eine „Verschmelzung“, ein weiterer irreführender Ausdruck, den auch Beauvoir verwendet, zwischen dem winzigen Spermium und der riesenhaften Eizelle, so als verschmölze der Löwe mit der Maus, die er versehentlich verschluckt, noch einen 50-zu-50-Anteil beider Geschlechter an der ,Befruchtung‛. Um die rein biologischen Abläufe darzustellen, ohne irgendwelche Mythen zu reproduzieren, muß die einfache Tatsache anerkannt werden, daß Frauen nicht nur die Hauptlast der menschlichen Fortpflanzung tragen, sondern auch die ,Zeugung‛ selbst in der Hauptsache durch biologische Prozesse in ihrem Körper im Vorfeld vorbereitet und im weiteren Verlauf umgesetzt werden. Nicht einmal das genetische Erbe des Mannes ist dazu aus biologischer Perspektive wirklich notwendig. Die Frage, wieso es überhaupt Zweigeschlechtlichkeit gibt, ist biologisch bis heute nicht geklärt.

Wie sehr Beauvoir in ihrem 1949 erschienenen Buch noch der männlichen Perspektive auf die Welt und auf die Geschichte des Menschen verpflichtet ist, wird sich auch im nächsten Blogpost noch einmal zeigen. Das ändert aber nichts daran, daß wir nicht davon absehen dürfen, daß biologische Prozesse für unsere Lebensführung bedeutsam sind. Die Bedeutung aber, die sie letztlich ,haben‛, ist die, die wir ihnen geben.

Samstag, 8. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn: der Körperleib
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Beauvoirs Überlegungen in der Einleitung ihres Buchs basieren auf einem Begriff von Zweiheit, demzufolge das menschliche Bewußtsein aus der Spaltung zwischen Selbst und Anderem hervorgeht. Dabei beruft sie sich auf die strukturale Anthropologie, in der alle Ordnung, alle Strukturen, auf Gegensätze zurückführt wird. (Vgl. Beauvoir 1987, S.11ff.) Auch Hegel wird als Gewährsmann zitiert: „Diese Phänomene“ ‒ daß alle Ordnung auf Gegensatzpaaren beruht ‒ „könnte man nicht begreifen, wenn die menschliche Wirklichkeit ausschließlich ein Miteinander wäre, das auf Solidarität und Freundschaft beruht. Sie erklären sich im Gegenteil, wenn man mit Hegel im Bewußtsein selbst eine grundlegend feindliche Haltung in bezug auf jedes Bewußtsein entdeckt; das Subjekt setzt sich nur, indem es sich entgegensetzt ...“ (Beauvoir 1987, S.11)

Und Beauvoir ergänzt: „Nur setzt ihm das andere Bewußtsein einen gleichen Anspruch entgegen ...“ (Beauvoir 1987, S.11) ‒ denn: „Kein Subjekt setzt sich spontan und ohne weiteres als das Unwesentliche ...“ (Beauvoir 1987, S.12) ‒ Die logische Alternative wäre ein Bewußtseinskonzept, das von einer wechselseitigen Zweiheit von Ich und Du, also Ich = Du, ausgeht. Die Geschichte der letzten drei- bis viertausend Jahre, also seitdem sich das Patriarchat in den meisten Weltregioonen etabliert hat, zeigt aber, was das Geschlechterverhältnis betrifft, das Gegenteil: die eine Seite unterdrückt die andere Seite. Wir haben es mit einer immer wieder in Gewaltexzessen mündenden Subjekt/Objekt-Aporie zu tun.

Anstatt das Geschlechterverhältnis als gleiche wechselseitige Beziehungsform zu begründen, führt die Zweiheit zur Spaltung eines Einzelbewußtseins in Selbst und Anderes und wird von diesem Einzelbewußtsein dann so auf zwei Bewußtseine übertragen, daß eines der beiden das unwesentliche Andere zum eigenen wesentlichen Selbst darstellen muß. Der Irrtum dieses Bewußtseinsbegriffs liegt in der Verwechslung der Bewußtseinsperspek­tiven ,Innen‛ und ,Außen‛ mit den Seinsmodi ,Selbst‛ und ,Anderes‛. Im ersteren Fall befindet sich das Selbstbewußtsein auf der Grenze zwischen Innen und Außen, im anderen Fall befindet es sich nur auf einer Seite: dem Selbst, für das das andere Bewußtsein ihm gegenüber als unwesentlich gesetzt wird. Die Bewußtseinsperspektiven Innen und Außen hingegen erlauben eine echte Wechselseitigkeit zwischen Ich und Du.

Beauvoir fragt sich, warum sich in allen Befreiungsbewegungen irgendwann eine Gleichheit des wechselseitigen Anspruchs auf Transzendenz (Weiße/Sklaven, Christen/Juden, Bürgertum/Proletariat) durchgesetzt hat bzw. durchzusetzen begonnen hat, aber nicht bei Männern und Frauen. Eine Antwort sieht sie in der Besonderheit der biologischen (heterosexuellen) Paarbeziehung: Frauen leben anders als andere benachteiligte Gruppen nicht in zusammengehörigen, solidarischen Gemeinschaften, sondern „verstreut unter den Männern“, „mit einzelnen von ihnen ‒ Ehemann oder Vater ‒ enger verbunden als mit anderen Frauen.“ (Vgl. Beauvoir 1987, S.13) Solidarität wird auf diese Weise behindert und verhindert.

Der auf dem konfliktträchtigen Gegensatz von Selbst und Anderem mit seiner ungleichen Verteilung von Transzendenz und Immanenz, Freiheit und Unterwerfung beruhende Begriff der Zweiheit (vgl. Beauvoir 1987, S.15) läßt sich also Beauvoir zufolge bei Frauen wegen mangelnder Gelegenheiten zur Solidarität mit ihren Geschlechtsgenossinnen nicht ohne weiteres auf „Wechselseitigkeit“ hin überwinden.

Die aporetische Konstitution des Bewußtseins als einem Subjekt, dem seine Objekte grundsätzlich gleichermaßen äußerlich und unwesentlich sind, führt zunächst vor allem bei Frauen, aber letztlich auch bei Männern in verschiedene Teufelskreise.

Zum einen führt die konflikthafte Übertragung der Bewußtseinsspaltung auf zwei sich gegenüberstehende Subjekte, von denen eins nur als Objekt wahrgenommen werden soll, zu einer gewaltförmigen Beziehung: „Es sind zwei Transzendenzen, die aufeinanderprallen. Statt sich gegenseitig anzuerkennen, will jede Freiheit die andere beherrschen.“ (Beuvoir 1987, S.669)

Beide Seiten können ihre eigene Freiheit nur als Unterdrückung der Freiheit des Anderen oder als Unterwerfung unter die Überlegenheit des Stärkeren wahrnehmen. Auf Seiten des Unterlegenen bleiben also nur Revolte oder Kollaboration als Alternativen übrig.

Zum anderen muß sich die siegreiche Seite ständig der Infragestellung durch die subversiven Listen der anderen Seite erwehren, die sich mit den ,Waffen‛ der Unterlegenen zu behaupten versucht: „Die Auseinandersetzung wird so lange dauern, als Mann und Frau sich nicht als Gleiche anerkennen, d.h. solange sich das Frauentum als solches fortsetzt. ... Der Circulus vitiosus ist hier tatsächlich so schwierig aufzuheben, weil bei beiden Geschlechtern jedes gleichzeitig das Opfer des andern und seiner selbst ist.“ Beauvoir 1987, S.670)

Die Subjekt/Objekt-Aporie verwandelt die Zweierbeziehung in eine Beziehung zwischen zwei Gruppen, von denen die eine sich als Gruppe der Subjekte gegenüber der anderen Gruppe der unwesentlichen Objekte durchsetzt. Die Möglichkeit, daß sich Bewußtsein anders als durch ungleiche Rollenverteilung konstituieren könnte, nämlich als Wechselbeziehung zwischen Individuen außerhalb des Gruppenkontexts, kann so nicht in den Fokus kommen.

Die heterosexuelle Zweiheit, verstanden als Subjekt/Objekt-Spaltung, bildet also einen dunklen Schatten, der sich auch über meine Formel Ich = Du erstreckt: „Das Band, das sie (Frauen ‒ DZ) an ihre Unterdrücker fesselt, kann mit keinem anderen verglichen werden.“ (Beauvoir 1987, S.13) ‒ Wir haben es mit einer Zweiheit zu tun, in die hinein die Gruppe ihren Einfluß ausübt, ohne daß sie, also das Paar, sich in ihrer aporetischen Verfaßtheit als Subjekt-Objekt-Konstellation in ihrer Einzigkeit behaupten könnte. Ehemänner sind eher mit anderen Ehemännern solidarisch, als mit ihren eigenen Ehefrauen. Subjekte einer Selbstbehauptung innerhalb der Paarbeziehung wären deshalb einseitig die Frauen, die aber mit anderen Frauen weniger eng verbunden sind, als mit ihren Männern; aber ihre Interessen koinzidieren nur dann mit denen ihrer Ehemänner, wenn sie sich ihnen unterwerfen.

Eine solche Sackgassenkonstellation gibt es übrigens nicht nur bei Ehepaaren. Emmanuel Levinas konzipiert seine Ethik als eine Sackgasse. Das Du als „Antlitz“ kann bei ihm niemals zum Ich werden. Frauen wiederum bilden seiner Ansicht nach für den Mann ein absolutes Geheimnis. Beauvoir hält ironisch fest: „Ich vermute, es entgeht Herrn Levinas nicht, daß auch die Frau für sich Bewußtsein ist. Ins Auge fallend aber ist, daß er ohne weiteres den Gesichtspunkt des Mannes annimmt, ohne auf die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt hinzuweisen.“ (Beauvoir 1987, S.682)

Die Transzendenz auf ein für das Ich unempfängliches Antlitz zu verlegen oder auf geheimnisvolle Frauen, mit denen Männer nicht kommunizieren können, wie Levinas es tut, kann nur in einer Sackgasse enden. Es führt zum selben Abhängigkeitsverhältnis wie umgekehrt. Ich kann daraus nur die Lehre ziehen, daß Ich = Du als Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen Zweien nur funktioniert, wenn beide ,Ichs‛ als zwei Transzendenzen (Freiheiten) in Beziehung treten und sich so als Transzendenzen entdecken und verwirklichen. Alles andere führt zu einem Teufelskreis: „Die Unterdrückung erklärt sich aus der Transzendenz des Existierenden, sich zu entfliehen und sich in dem anderen zu entfremden, den er zu diesem Zweck unterdrückt. Heute findet sich diese Tendenz in jedem einzelnen Mann wieder: Die allermeisten geben ihr auch nach. ... Er verfolgt in ihr den Mythos seines Mannestums, seiner Selbstherrlichkeit, seiner unmittelbaren Realität.“ (Beauvoir 1987, S.671)

Nicht im Anderen finden wir die Freiheit, die uns abgeht, sondern im Wechselbezug von Ich und Ich als Ich = Du, wo sich zwei Freiheiten begegnen, die sich im Bezug aufeinander transzendieren.

Freitag, 7. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn:
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Ich habe gerade „Das andere Geschlecht“ (1949/1951/1987) von Simone de Beauvoir gelesen. Das Buch wurde 1949 veröffentlicht, ist also längst nicht mehr einfach so auf das Jahr 2025 zu übertragen. Aber was ich daraus über die Sexualität zwischen Frauen und Männern lerne, enthält für mich immer noch viele, auf mich, auf meine Erfahrungswelt passende Einsichten, die mich beunruhigen und nachdenklich machen. Mir gefällt an Beauvoir, daß sie anders als die Dekonstruktivistinnen der Biologie eine gewisse Bedeutung für die Selbstwahrnehmung zuspricht, diese Selbstwahrnehmung aber insgesamt als von drei verschiedenen Perspektiven her beeinflußt beschreibt: neben der Biologie die Gesellschaft und die Psychologie, die ich in meinem Konzept unter ,Individualität‛ subsumiere. Insofern die Biologie also unsere gesellschaftlichen und individuellen Entwürfe als Menschen beeinflußt, hängt ihre Bedeutung doch immer zuallererst von dem gesellschaftlichen Umfeld ab, das die Bewertungsschemata, an denen wir uns messen, vorgibt.

Beauvoir verwendet in ihrem Buch, wenn sie vom weiblichen Geschlecht spricht, für gewöhnlich die Wortverbindung ,die Frau‛, also den Singular in Verbindung mit dem bestimmten Artikel. Ich bevorzuge in in meinen folgenden Blogposts den Plural möglichst ohne bestimmten Artikel oder den Singular mit dem unbestimmten Artikel, um den Eindruck einer substanziellen Festlegung von Frauen auf eine konkrete Seinsform zu vermeiden.

Ich selbst habe schon sehr früh, ungefähr mit dem Beginn der Pubertät, ein tiefsitzendes Unbehagen angesichts der ungleichen Verteilung des Risikos zwischen Frauen und Männern bei ihren Versuchen, ihre Bedürfnisse auszuleben, in mir gefühlt. Das war einerseits durch die katholische Sexualmoral bedingt, für die alles ,Fleischliche‛ grundsätzlich von Übel war, aber andererseits eben auch von einem basalen Gefühl für Fairneß. In meinen Augen kamen wir Männer einfach zu gut weg bei dem ganzen Schlamassel, was die wechselseitigen, also Frauen und Männer betreffenden Bedürfnisse betrifft. Und ich stand schon immer verständnislos dem Anspruch der Männer auf den Körper der Frauen gegenüber, was das Verbieten von Abtreibungen betrifft.

Beauvoir entfaltet das Drama der ,Weiblichkeit' in allen physiologischen und gesellschaftlichen Details von der ersten Menstruation bis hin zum Klimakterium. Und genau das ist es, was mir bei der Lektüre unter die Haut ging. Ich habe mir eine Anthropologie zurechtgebastelt, die sich an Helmuth Plessners „Körperleib“ orientiert, der das existenzielle Drama zwischen Innen (Leib) und Außen (Körper) ins Zentrum unserer Menschlichkeit stellt. Jetzt bei der Lektüre von Beauvoir erkenne ich, daß Plessner hier nur die simple Physiologie des Mannes beschreibt, die zwar auch auf Frauen zutrifft, dabei aber dem Drama der weiblichen Physiologie mit ihrer weit komplexeren Verschachtelung von Innen- und Außenperspektiven nicht wirklich gerecht wird.

Beauvoir beschreibt äußerst lebendig, wie sehr der weibliche ,Körperleib‛, um bei dem Wort zu bleiben, nicht einfach nur eine einfache Grenzlinie zwischen Innen und Außen markiert, zu denen Frauen und Männer sich Plessner zufolge in ihrer exzentrischen Positionalität perspektivisch neutral verhalten können, sondern daß Frauen mit ihren monatlichen Blutungen zu ihrem eigenen Inneren eine ambivalente Haltung entwickeln: „Ihr physiologisches Schicksal ist sehr komplexer Art; sie selbst erlebt es als etwas, das nicht zu ihr gehört; ihr Körper ist für sie nicht ein klarer Ausdruck ihrer selbst; sie fühlt sich darin entfremdet; das Band, durch das in jedem Individuum das physiologische Leben mit dem psychologischen verknüpft ist, oder besser gesagt, die Beziehung, die zwischen der Faktizität eines Individuums und der Freiheit, die dieses auf sich nimmt, besteht, ist das am schwersten zu lösende Rätsel, das in der Lage des Menschen begründet ist. Bei der Frau aber stellt sich dieses Rätsel auf besonders verwirrende Art.“ (Beauvoir 1987, S.256)

Während einer Menstruation tritt das Innere als Blutung nach außen und wird so für eine Frau als ein ihr fremdes, Schmerzen bereitendes Innere zu etwas Äußerlichem. Und wenn ,in‛ ihr ein Kind heranwächst, befindet sich ein zweites Innen, eine fremde Freiheit, in ihrem Inneren, das für ihre eigene Freiheit eine Belastung und Bedrohung ist. Diese Verschachtelung von Innen und Außen zweier ,Freiheiten‛, wie Beauvoir Schwangere und Ungeborenes nennt, von denen die eine das andere in sich trägt, ist also schon als einfaches physiologisches Datum wesentlich komplexer als die für alle Menschen geltende existenzielle Grenze zwischen Innen und Außen, wie sie Plessner beschreibt, die darin besteht, daß sich ein Wille (Innen) bzw. eine Freiheit an der Welt (Außen) bricht.

Beauvoir beschreibt in ihrem Buch die ganze Entwicklungsgeschichte von Frauen von der Geburt bis zum Alter, Kindheit, Pubertät (Jugend), Ehe, Mutterschaft, Klimakterium und die danach folgende späte Freiheit bis zum Alter. Ihr Leben ist ein einziger, ununterbrochener Kampf um ihre Freiheit, also gegen die Zumutungen, mit denen sie Biologie (Gattung) und Gesellschaft (Männer) konfrontieren. Ihr Buch beinhaltet keine systematische Entfaltung des Begriffs ,anderes Geschlecht‛, sondern bietet eine umfassende, detaillierte Materialsammlung zur Biologie (was die Biologie der Fortpflanzung betrifft zum Teil veraltet), Soziologie, Mythologie und Psychologie der Frau und erstreckt sich damit über die drei fundamentalen Entwicklungsebenen der Biologie, der Kultur und der Individualität, die zusammen einen Menschen ausmachen.

Dieses von Beauvoir zusammengetragene Material aus den verschiedenen Wissensgebieten wird grundiert von einer existenzialistischen Begrifflichkeit, kombiniert mit einer Phänomenologie des weiblichen Bewußtseins in verschiedenen ontogenetischen Stadien von der Geburt bis zum Alter. Die existenzialistische Begrifflichkeit bleibt im Hintergrund von Beauvoirs Darlegungen und wechselt nur gelegentlich in den Vordergrund, um den Fortgang der Gedankenentwicklung zu orientieren. Beauvoirs Hauptinteresse besteht in der Aufklärung einer gleichermaßen drängenden wie problematischen Emanzipationspraxis, die immer wieder am patriarchalen status quo zu scheitern droht.

Ich schreibe hier, das will ich ausdrücklich festhalten, keine Rezension zu Beauvoirs Buch, sondern kommentiere es bloß. In meinen Kommentaren leugne ich meine heterosexuelle Orientierung nicht, strebe aber darüber hinaus eine universelle menschliche Perspektive an.

Freitag, 3. Januar 2025

Unterm See


Seelen sind die unterm See,
die einst von uns gingen,
wo zu ihnen Glück noch Weh
jemals wieder dringen.

Steigen nachts die Nebel auf,
sind das nur Schimären
von der Seelen frührem Lauf
und ihrem Begehren.

Nichts mehr drückt sich darin aus,
Dampf nur steigt empor
von dem nassen Totenhaus
mit verschloßnem Tor.

Freitag, 20. Dezember 2024

Subjektlose Prädikationsmechanismen

Differantialsemantiken wie etwa der Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus von Denkerinnen und Denkern wie Jacques Lacan, Jacques Derrida oder Judith Butler beschreiben letztlich bloß Prädikationsmechanismen ohne Subjekt. Als solche stehen sie auf der Stufe von ChatGPT.

Schriftliche Texte (Derrida hat ein Buch über die Schrift und die Differenz (1972) geschrieben) sind zunächst nichts anderes: Prädikationen, zu denen ein Subjekt, die Leserin und der Leser, noch hinzutreten muß, um mit ihren/seinen Wahrnehmungen, Empfindungen, Erfahrungen die Referenz einzubringen, ohne die diese Texte, trotz all ihren internen Differenzierungen, bedeutungslos wären.

Was Judith Butler betrifft, befindet sie sich mit ihrer differentialsemantischen Auffassung des Feminismus im Widerspruch zu Luise F. Pusch, für die der Feminismus vor allem referentialsemantisch orientiert ist. In „Das Deutsche als Männersprache“ (1984) schreibt Pusch, daß sich weder Saussure noch überhaupt die von ihr als „struktural-funktionale Semantik“ bezeichnete Differentialsemantik jemals ernsthaft mit Fragen der „Referenzsemantik“, wie sie vor allem Frauen betreffen, auseinandergesetzt hat. (Vgl. Pusch 1984, S.32ff.)

Das Setzen von Differenzmarkern ist nur ein differentialsemantisches Hilfsmittel, das innerhalb der Grenzen der Sprache bleibt. Schlimmer noch: vor dem dekonstruktivistischen Hintergrund von Denkerinnen und Denkern wie Derrida oder Butler verschwindet das Subjekt in der Lücke zwischen den Zeichen und taucht hinter ihrem Rücken als ein Super-Subjekt wieder auf, als Semiozentrismus (Derrida) bzw. als subversive Alternativen (Butler) zum ,Phallogozentrismus‛. Wesentlich ist, daß nicht mehr das Subjekt spricht, sondern die Sprache anstelle des Subjekts, oder irgendein Kollektiv, sei es auch ein solidarisches, spricht anstelle der Individuen. Auf technologisch fortgeschrittener Ebene tritt das ChatGPT an die Stelle des Menschen.

Etwas zu meinen bzw. gemeint zu sein, ist vor allem eine Frage der Referenz: wer oder was wird hier und jetzt als Subjekt gemeint? Wenn die Frage nach diesem Subjekt nicht mehr gestellt werden kann, weil es von Super-Subjekten aller Art umzingelt ist, verliert auch der Feminismus seine Legitimation.

Dienstag, 10. Dezember 2024

Ein Wort zum Advent ...

... erlaube ich mir. Es beginnt mit einem Geständnis: als ich von den wirklich historischen Ereignissen in Syrien hörte, war die erste Reaktion Freude, Erleichterung und Hoffnung, daß es den Menschen dort ohne Assad jetzt besser gehen wird.

Die zweite Reaktion war: endlich können die syrischen Flüchtlinge wieder nach Hause.
Ich weiß nicht so recht, warum ich das gedacht habe. Warum sollten sie zurückgehen? Warum wünsche ich mir überhaupt irgendetwas, das nur die Syrerinnen und Syrer betrifft? Die zweite Reaktion vergiftete die erste.

Als dann Politiker wie Jens Spahn (CDU) und Markus Söder (CSU), von anderen schweige ich lieber, anfingen, das deutsche Volk mit ihren populistischen Sprüchen zur baldigen Rückkehr der Syrerinnen und Syrer nach Syrien zu beglücken, und als die Einwanderungsbehörden verkündeten, die Asylanträge von Syrerinnen und Syrern ,auf Eis‛ zu legen, weil die ,Entscheidungsbasis‛ nicht mehr ,gegeben‛ sei, und als kurz darauf die Nachbarländer, Dänemark, Österreich u.a., dem deutschen Beispiel folgten ‒ da hatte ich schon längst begonnen, mich zunächst für mich selbst und dann für all die anderen fremd zu schämen.

Wie war das noch mit Betlehem? Waren die Eltern von Jesus nicht auch Flüchtlinge gewesen? Waren sie nicht von all den wenig gastlichen Herbergen abgewiesen worden? Sind Spahn oder Söder, Mitglieder einer christlichen Partei, eigentlich Christen?

Für mich selbst kann ich letzteres verneinen. Trotzdem schäme ich mich.

Samstag, 30. November 2024

Individuelles Allgemeines: Manfred Frank

Nachdem ich die beiden Blogposts zu Cornelia Funke geschrieben hatte, habe ich mich nochmal mit Manfred Franks Begriff des individuellen Allgemeinen befaßt. Da sich sein Buch „Das individuelle Allgemeine“ für mich als nicht lesbar erwiesen hatte und ich mich mit Pratchetts und Funkes Büchern von einem unmittelbaren Verständnis dieses Begriffs hatte leiten lassen, wollte ich es dann doch noch einmal genau wissen und versuchte es noch einmal mit seiner Einleitung zu „Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik“ (1977). Diese Einleitung von insgesamt 58 Textseiten erwies sich dann auch, trotz einer Reihe von für mich wieder völlig hermetischen Seiten in der Mitte der Einleitung (vgl. Frank 1977, S.29-38), als überraschend brauchbar.

So stieß ich in der Einleitung sogar erstmals auf eine Definition des individuellen Allgemeinen: „Die Sprache ist somit ein individuelles Allgemeines. Sie besteht als universelles System nur aufgrund prinzipiell widerrufbarer Übereinkünfte ihrer Sprecher und verändert ihren Gesamtsinn mit jeder Redehandlung und in jedem Augenblick, sofern wenigstens dieser semantischen Novation der Durchbruch ins grammatische Repertoire gelingt, wie es in den Gesprächshandlungen ständig geschieht.“ (Frank 1977, S.38)

Das Allgemeine der Sprache ist ihre Grammatik bzw. ,Struktur‛. Das Individuelle sind die Schreib- und Sprechakte von Autorinnen und Gesprächspartnern, die die Grammatik auf ein jeweils Gemeintes anwenden, das durchaus schon im Ganzen der Sprache als System bzw. als Grammatik und als Lexikon, so wie es vorliegt, integrierbar sein kann. Was Autoren und Gesprächspartnerinnen in ihren Schreib- und Sprechakten aber meinen, kann (und wird es auch immer wieder) die Grenzen des bisher Geschriebenen und und Gesagten sprengen, also eine „semantische Novität“ darstellen. Diese bislang bloß individuelle Novität kann, wenn ihr „der Durchbruch ins grammatische Repertoire gelingt“, d.h. wenn sie in den Sprachbestand eingeht und diesen so erweitert, „allgemein“ werden. Gelingt dies, haben wir es mit einem individuellen Allgemeinen zu tun, dessen sich Menschen in künftigen Schreib- und Sprechakten bedienen können.

Denkt man an das Land, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“ (vgl. Funke 2007, S.261), im dritten Band der Trilogie, fällt auf, daß ein absolut singuläres Ereignis wie der Tod zugleich in dem Maße ,individuell‛ ist wie die individuellen Wortneuschöpfungen von Autorinnen und Gesprächspartnern, die, also die Wortneuschöpfungen, noch keinen Zugang zum allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben, die aber doch zugleich die Quelle sind, aus der die Sprache erneuert und bereichert wird. Etwas ähnliches gilt auch für Ayeshas wortlose Lieder im vierten Band, mit denen sie die in einem todähnlichen Zustand befindlichen Personen aus den Bildern heraussingt, so daß sie wieder am vollen Leben ihrer Freunde und Geliebten teilhaben können; ein Leben, zu dem das kommunikative Miteinander, die Sprache, ganz wesentlich gehört. Also auch hier: aus der Wortlosigkeit heraus zu neuer wortschöpferischer Lebendigkeit.

Auch Manfred Frank beschränkt das individuelle Allgemeine nicht nur auf Texte und ihre Interpretationen, sondern bezieht es auf alle sprachlich verfaßten, also im eigentlichen Sinne menschlichen Interaktionen. Er verwendet dabei gelegentlich Formulierungen, in denen ich mein Konzept zur wechselseitigen Gleichheit von Ich und Du wiedererkenne. Aber hier soll es jetzt vor allem um das Verhältnis von Texten und ihren Leserinnen und Lesern gehen, also darum, was das individuelle Allgemeine mit Cornelia Funkes Tintenwelt zu tun hat.

Differentialsemantik


Letztlich bleibt festzuhalten, daß trotz Franks Ausdehnung der Hermeneutik auf die mündliche Kommunikation zwischen realen Gesprächspartnern, er sich mit dem Begriff des individuellen Allgemeinen vor allem an schriftlichen und gesprochenen Texten orientiert. Er versucht die Spaltung zwischen einer strukturellen, im engeren Sinne semiotischen Linguistik und einer hermeneutischen Sprachwissenschaft bzw. Sprachphilosophie in der Tradition von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Friedrich Schleiermacher (1768-1834) zu überwinden. Das individuelle Allgemeine, individuell gleich hermeneutisch und allgemein gleich strukturell, soll beide Ansätze miteinander vermitteln.

Man kann die verschiedenen Ansätze mit den beiden ,Autoren‛ in der Tintenwelt parallelisieren. Der Pseudoautor Orpheus, der sich die literarische Schöpfung des eigentlichen Autors Fenoglio aneignet, ,interpretiert‛ die Tintenwelt, indem er sich der Worte aus dem fiktiven Roman „Tintenherz“ bedient, der nicht identisch ist mit dem eigentlichen ersten Band der Trilogie gleichen Titels. Indem Orpheus die Wörter neu arrangiert und kombiniert schafft er neue Texte, mit denen er die Geschichte neu erzählen (interpretieren) kann. Orpheus steht also für eine Differentialsemantik, wie sie Jacques Derrida (1930-2004) entwickelt hat.

Für diese Differentialsemantik steht Derridas Begriff der „différance“. Nach Derridas Konzept entstehen die Bedeutungen von Wörtern auf der Grundlage aller Wörter eines Wortschatzes (Lexikon). Die konkrete Bedeutung der Wörter wird dann im Rahmen von Sätzen festgelegt, innerhalb deren sie sich gegenseitig differenzieren. Die letzte Festlegung auf eine Bedeutung geschieht also im Schreib- und Sprechakt durch den Kontext des Textes oder einer konkreten Sprechsituation.

Die Differenzen zwischen den Zeichen (Wörtern) sind also im Fluß, weil die Bedeutungen letztlich vor allem durch immer neue Schreib- und Sprechakte geschaffen werden: „Die Vorstellung eines ,unentwegten Gleitens des Signifikats (der Bedeutung ‒ DZ) unter den Signifikanten (den Wörtern ‒ DZ)‛ stellt sich ein: der Sinn, sagt Lacan, faßt zwar Stand () auf der Signifikantenkette (dem Satz ‒DZ), gleichwohl hat kein einzelnes Element der Kette festen Bestand in der Bedeutung (), die ihm die augenblickliche Konstellation und Kombination der Signifikanten zuspielt.()“ (Frank 1977, S.46)

Genauso verhält sich also auch Orpheus, wenn er dem fiktiven Original Wörter entnimmt, um sie für seine Version der Tintenwelt neu zu arrangieren und so die Geschichte in seinem Sinne neu zu erzählen. Er benutzt die Wörter als Werkzeuge für seine manipulativen Interessen. Dieser strukturelle Ansatz hat sich inzwischen in unserer Welt, wie sie sich uns heute darstellt, zu einem maschinellen Mechanismus entwickelt, wie etwa dem ChatGPT. Die strukturelle Linguistik ist die Grundlage der künstlichen Intelligenz.

Ganz anders der Originalautor Fenoglio. Er steht für den hermeneutischen Ansatz. Fenoglio interessiert sich vor allem für den Eigensinn der Tintenwelt. Er versucht nach seinem Wechsel in die Tintenwelt, deren Erzählfluß nicht gewaltsam zu biegen und letztlich zu brechen, sondern seiner ursprünglichen Richtung gemäß zu ,interpre­tieren‛. Dieser Erzählfluß ist nicht an die Strukturen bzw. an starre Codes (Kombinatio­nen von Wörtern) gebunden, also etwas Allgemeines, sondern individuell. Manfred Frank verweist auf Schleiermacher: „Der ,fließende Gedankengang‛ ist seiner Natur nach ,unendlich‛, sagt Schleiermacher. Wird die Rede in einem terminalen Ausdruck ,geschlossen‛, so ist der Sinnfluß gleichwohl nicht oder doch nur vorläufig zum Stillstand gebracht, da ihn die Produktivität des Interpreten sofort wieder verflüs­sigt().“ (Frank 1977, S.46)

Auch im hermeneutischen Sinne haben wir es mit fließenden Differenzen zu tun. Das macht das Individuelle und das Allgemeine aneinander anschlußfähig. Der Unterschied liegt darin, daß im hermeneutischen Ansatz die bedeutungsstiftenden Differenzen anders gesetzt werden. Sie werden, wie Frank schreibt, ,skandiert‛. Das erinnert an die Prosodie des Vorlesers. Man kann einem einzelnen Satz durch unterschiedliche ,Melodien‛ beim stillen Lesen oder beim lauten Vorlesen verschiedene Bedeutungen geben. Grundlage dieser Fähigkeit ist Frank zufolge die „Divination“, eine ,göttliche‛ Eingebung oder einfach subjektives Raten oder Ahnen hinsichtlich dessen, was der Text ,meint‛.

Bei Cornelia Funke hatten wir schon gesehen, daß der Vorleser einen Text nicht einfach nur mechanisch vorliest, wie Darius Elinor erklärt (vgl. Funke 2005, S.138), sondern ihm eine Melodie, eine Prosodie zugrundelegt. Nichts anderes ist mit dem Skandieren gemeint. Durch unterschiedliche Betonung wird die der Derridaschen différance entsprechende Differenz gesetzt, die den Sinn des Satzes, des Textes auf individuelle Weise bestimmt.

Auch hier haben wir es also mit einer Differentialsemantik zu tun. Diese Gemeinsamkeit macht Frank zufolge Individuelles und Allgemeines miteinander kompatibel. Was er dabei aber ausschließt, ist die Bedeutungsstiftung durch Referenz, also eine Referentialsemantik, wie ich sie vertrete. Differentialsemantiken, ob nun strukturell oder hermeneutisch, sind nur auf der Ebene von geschriebenen oder gesprochenen Texten relevant. Die reale Welt spielt in ihnen keine Rolle. Bei meiner Interpretation des individuellen Allgemeinen in Pratchetts „Kleine freie Männer“ war ich referentialsemantisch vorgegangen.

In Funkes Tintenwelt verlieren sich die Menschen, die die ungeschriebene Welt verlassen haben, gewissermaßen in den „Intervallen“ (Derrida) zwischen den ,Zeichen‛ bzw. den Wörtern innerhalb des Textes. Selbst Mortimer, der am längsten daran festhält, wieder in die ungeschriebene Welt zurückzukehren, beginnt, sich in der Tintenwelt zunehmend heimisch zu fühlen, und beginnt sogar, daran zu zweifeln, daß es wirklich keinen ,Autor‛ für die ungeschriebene Welt gibt und fragt sich, ob er nicht letztlich selbst aus einem Buch stammt. Nicht so Tiffany: sie erkennt den fiktiven Charakter des Feenkönigreichs und kehrt in ihre reale Welt zurück. Pratchetts „Kleine freie Männer“ steht für eine referentialsemantische Auffassung von Texten und letztlich von Sprache.

Nur innerhalb einer Differentialsemantik funktionieren Funkes Tintenweltromane. Der häufige Figurenwechsel zwischen der ,realen‛ und der geschriebenen Welt versinnbildlicht den hermeneutischen Zirkel zwischen den individuellen Leserinnen und Lesern einerseits und der ,terminalen‛ (geschlossenen) Struktur des Allgemeinen, ohne ihn durch referentialsemantische Zweifel an seiner Realitätsnähe zu behindern.

Die produktiven Leserinnen und Leser


Das bringt uns zu der alles überragenden Funktion des Lesers für das individuelle Allgemeine, also für die Interpretationsoffenheit des Leseakts und die strukturelle Geschlossenheit des geschriebenen und als solchen nicht mehr veränderbaren Textes.

Terminal geschlossene Texte sind z.B. unterschriebene Verträge, deren Wortlaut nicht mehr verändert werden darf. Ein anderes Beispiel für terminale Geschlossenheit ist die Thora, in der sogar alle Buchstaben gezählt sind und nicht ein einziges Jota verändert werden darf.

Für den geschlossenen „terminalen Ausdruck“, wie Frank es nennt, steht in der Tintenwelt das fiktive Original von „Tintenherz“. Da es dieses Original nicht ,gibt‛ (im Buch sind alle Exemplare bis auf eines vernichtet worden; für die Leser ist auch das eine erhaltene Exemplar nicht zugänglich), gibt es für die Tintenwelt selbst keinen terminalen ,Ausdruck‛ mehr. Allein schon dadurch, daß Mortimer im ersten Band der Trilogie damit begonnen hat, seine Frau in die Tintenwelt hineinzulesen und an ihrer Stelle Staubfinger aus der Tintenwelt herauszulesen, und er danach noch viele Male andere Dinge und Figuren hinein- und herausgelesen hat, ist die ursprüngliche Version von „Tintenherz“ in ,Bewegung‛ geraten. Die Tintenwelt hat zu ,wachsen‛ begonnen, wie es später immer wieder heißt, wenn etwa Fenoglio sich bitter darüber beklagt, daß er seine Geschichte nicht mehr wiedererkenne.

Mit anderen Worten, nicht nur der Schreibakt des Autors, auch der Leseakt der Leserinnen ist produktiv, wie Frank Schleiermacher zitiert: „Die Aneignung fremder Darstellung [ist ...] immer zugleich innere Production().“ (Frank 1977, S.54)

In dem Moment, wo wir ein Buch zu lesen beginnen, ist es nicht mehr terminal geschlossen. Es wird verflüssigt und beginnt zu fließen bzw. zu ,wachsen‛. Wir haben es mit einer „Sinnanreicherung“ durch lesen bzw. durch vorlesen zu tun. (Vgl. Frank 1977, S.56; auch S.54) Für Frank ist diese Produktivität des Lesers so zentral, daß er, wiederum Schleiermacher zitierend, andeutet, daß sogar der Autor selbst seinen eigenen Text erst zu verstehen beginnt, wenn er ihn liest: „Immerhin macht es die Unabschließbarkeit und Widerrufbarkeit jeder Deutung von Traditionen wie von Bestehendem (insofern in ihm Traditionen aufbewahrt sind) wahrscheinlich, daß eine produktive Auslegung vieles zum Bewußtsein wird bringen können, ,was ihm [dem Autor] unbewußt bleiben kann, außer sofern er selbst reflektierend sein eigener Leser sein wird ...‛.“ (Frank 1977, S.56)

Das könnte man ohne weiteres so auf Fenoglio anwenden, wenn er versucht, sich in seiner Geschichte zurechtzufinden.

Metaphorik des Bildes


Frank zufolge sind es vor allem die Metaphern, die Autorinnen und Gesprächspartnern die Möglichkeit geben, neue Gedanken, die noch nicht gedacht wurden, oder einfach neue Bedeutungen, die den tradierten Wortschatz überschreiten, zu kreieren. In diesem Zusammenhang spricht er vom singulären ,Bild‛: „Wird das vorerst noch schlechthin singuläre Bild () von Rezipienten der Rede zugeeignet, so hat es aufgehört, exklusiv oder privat zu sein und existiert als ein virtuell allgemeines Schema () bzw. als Sprachverwendungsregel (neben anderen) im Gesamt der Sprache().“ (Frank 1977, S.39)

Wenn wir dabei an die Bilder in Funkes viertem Band denken, können wir von einer Metaphorik des Bildes sprechen, die vor allem auf die Singularität des Dargestellten abhebt, entweder als Metapher in der Rede oder als Porträt von Personen in der Tintenwelt. Interessant ist deshalb, daß Franke mit dem Attribut ,singulär‛ auf den zunächst privaten Charakter von Metaphern, im Sinne einer Privatsprache, verweist. Eine solche Privatsprache ist, im übertragenen Sinne, noch ,wortlos‛, weil die verwendeten Wörter im traditionellen Lexikon nicht aufgezeichnet sind und es sie deshalb noch nicht ,gibt‛. Trotzdem haben diese Wort-,Bilder‛ ein innovatives Potential für neue Wörter, die unter Umständen Eingang in das Lexikon finden und es so verändern.

Metaphern bzw. Bilder sind also auch bei Frank zunächst noch wortlos und gleichzeitig potentiell wortschöpferisch. Sie bringen neue Wörter hervor. Das erinnert, wie eingangs schon erwähnt, an Funkes weiblichen Tod, die ein Land regiert, „in dem es keine Worte gibt und aus dem doch alle Worte stammen“. (Vgl. Funke 2007, S.261) ‒ Und im vierten Band heißt es, daß die todähnlichen, in Bildern gefangenen Personen durch Ayeshas wortlosen Gesang herausgesungen werden.

Man könnte also mit Bezug auf Cornelia Funkes vierten Band sagen, daß das singuläre Bild mit der gefangenen Person sich noch jenseits der Worte, im Land ohne Worte, befindet, so daß die Musik die gefangene Person auf wortlose Weise in das Land der Worte transportieren muß, so daß mit ihr, der gefangenen Person, und von ihr auf produktive Weise neue Wörter mit neuen Bedeutungen hervorgehen. Die Musik erweckt die singulären Bilder zu neuem Leben, so daß die ehemaligen Gefangenen wieder Teil der gemeinsamen kommunikativen Praxis werden können.