Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
2. Der imaginäre Punkt
Ich möchte hier gerne ein Problem ansprechen, das meiner Ansicht nach mit dem feministischen Dekonstruktivismus zusammenhängt bzw. von dem Versuch herrührt, die Biologie aus der polymorphen Sexualität auszuklammern und die Sexualität als ein rein gesellschaftliches und gesellschaftspolitisches, letztlich machtpolitisches Konstrukt zu verstehen. Diese Positionierung des Themas als zwangsheterosexuelles Dispositiv kann man, glaube ich, auf Foucaults Diskursbegriff zurückführen, demzufolge es in Diskursen vor allem um Macht und Kontrolle geht. Jedenfalls ist es zur Zeit kaum möglich, über Sexualität zu reden ‒ und das Reden über Sex ist ja Foucault zufolge die biopolitische Grundlage für die Bevölkerungspolitik der letzten drei, vier Jahrhunderte ‒ ohne genaueste Kenntnisse der aktuell geltenden Details im Genderspeech.
Den feministischen Dekonstruktivistinnen ist trotz dieser Orientierung an Foucault etwas abhanden gekommen, worum Foucault noch gewußt hatte, daß nämlich die „Sexualität als ,politisches Dispositiv‛“ nicht „notwendigerweise“ zu einer „Ausschaltung des Körpers, der Anatomie, des Biologischen“ führt (vgl. SuW 1, S.180): „Weit entfernt von jeder Ausradierung des Körpers geht es darum, ihn in einer Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische nicht wie im Evolutionismus der alten Soziologen aufeinander folgen, sondern sich in einer Komplexität verschränken, die im gleichen Maße wächst, wie sich die modernen Lebens-Macht-Technologien entwickeln.“ (SuW 1, S.181)
Wenn man die individuelle Dimension hinzufügt, entspricht diese Komplexitätsverschränkung meinem Konzept vom Körperleib als einem Ganzen aus drei Entwicklungsdimensionen. Im folgenden Zitat geht Foucault auf diese dritte Dimension, die Individualität, ein: „Jeder Mensch“, also das Individuum, „soll nämlich durch den vom Sexualitätsdispositiv fixierten imaginären Punkt Zugang zu seiner Selbsterkennung haben (weil er zugleich das verborgene Element und das sinnproduzierende Prinzip ist), zur Totalität seines Körpers (weil er ein wirklicher und bedrohter Teil davon ist und überdies sein Ganzes symbolisch darstellt), zu seiner Identität (weil er an die Kraft eines Triebes die Einzigkeit einer Geschichte knüpft.“ (SuW 1, S.185)
Interessant ist hier Foucaults Verweis auf den Sex als einem imaginären Punkt. Dieser ,Sex‛, zu dem sich alle drei Entwicklungslinien zusammenfügen, funktioniert letztlich nicht anders als die Behauptung eines individuellen Ich, nämlich als ein sich als Ich behauptendes Ganzes aus Biologie, Gesellschaft und Individualität. Foucault zufolge bildet diese dreifache Komplexität eine „künstliche Einheit“, von der es in einer vorhergehenden Textstelle heißt: „Einmal hat es der ,Sex‛ möglich gemacht, anatomische Elemente, biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste“ ‒ also die ganze Palette des Körperleibs ‒ „in einer künstlichen Einheit als ursächliches Prinzip, als allgegenwärtigen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis funktionieren zu lassen: der Sex als einziger Signifikant und als universales Signifikat.“ (SuW 1, S.184)
Eben aus diesem Signifikant-Signifikat der Sexualität geht das Individuum mit seiner einzigartigen Geschichte hervor. Es ist die Wahrheit nicht für den Staat, sondern für den Begehrensmenschen, und zwar jenseits des Machtdispositivs. Denn zu den „Funktionsprinzipien“ des „Sexualitätsdispositivs“, so Foucault, gehört es, einen „Zugang“ zum Sex zu finden, der ihn nicht unterdrückt oder kontrolliert, sondern ihn befreit. (Vgl. SuW 1, S.186) „Man muß sich“, schreibt Foucault, „von der Instanz des Sexes frei machen“. (Vgl. SuW 1, S.187)
Man darf den Sex also nicht als eine Autorität, nicht als Teil eines Machtdispositivs verstehen, „will man die Mechanismen der Sexualität umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.“ (SuW 1, S.187)
Wie ist das gemeint? Wie können wir uns mit den Körpern und den Lüsten von dem Sex-Begehren als einem Dispositiv der Macht befreien? Will Foucault hier auf etwas hinaus, was Nietzsche und Plessner als zweite Naivität bezeichnen? Schließlich ist das „Element ,Sex‛“ so real wie imaginär und vielleicht auch real, weil imaginär, analog zur Gräfenberg-Zone, an die wir uns blind herantasten und, ob wir sie nun finden oder nicht, möglicherweise dennoch ankommen.
Letztlich ist das Begehren nur ein Motiv unter anderen, wenn auch vielleicht das mächtigste. Aber es gibt sie, diese anderen Motive, die Körper und Lüste im Plural und nicht im Singular. Und es ist eine Aufgabe unserer Vorstellung, unserer Imagination, sie alle in einer jeweils individuellen ‚Ökonomie‛ zu ihrem Recht kommen zu lassen. Vielleicht ist es das, worauf Foucault hinauswill, wenn er davon spricht, uns vom Zugriff der Macht zu befreien.
Das Befreiende für uns alle ist doch letztlich, daß es noch andere Motive gibt als die „Geschlechtslust“, um die es in den vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ hauptsächlich geht. Das macht eine „Ökonomie der Lustströme“ (vgl. SuW 4, S.284) ja gerade so dringend. Ich selbst spreche in meinem Blog immer vom „Gefühlshaushalt“, der uns eine individuell ausgestaltete Rangordnung von Motiven und Gelegenheiten ermöglicht und eines gewiß nicht beinhaltet: die Dämonisierung irgendeines körperlichen Bedürfnisses oder leiblichen Begehrens.
Ich frage mich, ob die heutige Zersplitterung des Gleichheitsprinzips in verschiedenartige Sprachformeln und Umgangspraktiken, wie sie der LGBTQ+-Etikette entprechen, nicht eine Form der Unterwerfung unter das Machtdispositiv bildet, vor der Foucault schon in den 1970er Jahren gewarnt hatte, als er von der „Ausstreuung und Verstärkung sexueller Disparität“ als Teil einer „Diskursivierung des Sexes“ sprach. (Vgl. SuW 1, S.79)