„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)


2. Der imaginäre Punkt

Ich möchte hier gerne ein Problem ansprechen, das meiner Ansicht nach mit dem feministischen Dekonstruktivismus zusammenhängt bzw. von dem Versuch herrührt, die Biologie aus der polymorphen Sexualität auszuklammern und die Sexualität als ein rein gesellschaftliches und gesellschaftspolitisches, letztlich machtpolitisches Konstrukt zu verstehen. Diese Positionierung des Themas als zwangsheterosexuelles Dispositiv kann man, glaube ich, auf Foucaults Diskursbegriff zurückführen, demzufolge es in Diskursen vor allem um Macht und Kontrolle geht. Jedenfalls ist es zur Zeit kaum möglich, über Sexualität zu reden ‒ und das Reden über Sex ist ja Foucault zufolge die biopolitische Grundlage für die Bevölkerungspolitik der letzten drei, vier Jahrhunderte ‒ ohne genaueste Kenntnisse der aktuell geltenden Details im Genderspeech.

Den feministischen Dekonstruktivistinnen ist trotz dieser Orientierung an Foucault etwas abhanden gekommen, worum Foucault noch gewußt hatte, daß nämlich die „Sexualität als ,politisches Dispositiv‛“ nicht „notwendigerweise“ zu einer „Ausschaltung des Körpers, der Anatomie, des Biologischen“ führt (vgl. SuW 1, S.180): „Weit entfernt von jeder Ausradierung des Körpers geht es darum, ihn in einer Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische nicht wie im Evolutionismus der alten Soziologen aufeinander folgen, sondern sich in einer Komplexität verschränken, die im gleichen Maße wächst, wie sich die modernen Lebens-Macht-Technologien entwickeln.“ (SuW 1, S.181)

Wenn man die individuelle Dimension hinzufügt, entspricht diese Komplexitätsverschränkung meinem Konzept vom Körperleib als einem Ganzen aus drei Entwicklungsdimensionen. Im folgenden Zitat geht Foucault auf diese dritte Dimension, die Individualität, ein: „Jeder Mensch“, also das Individuum, „soll nämlich durch den vom Sexualitätsdispositiv fixierten imaginären Punkt Zugang zu seiner Selbsterkennung haben (weil er zugleich das verborgene Element und das sinnproduzierende Prinzip ist), zur Totalität seines Körpers (weil er ein wirklicher und bedrohter Teil davon ist und überdies sein Ganzes symbolisch darstellt), zu seiner Identität (weil er an die Kraft eines Triebes die Einzigkeit einer Geschichte knüpft.“ (SuW 1, S.185)

Interessant ist hier Foucaults Verweis auf den Sex als einem imaginären Punkt. Dieser ,Sex‛, zu dem sich alle drei Entwicklungslinien zusammenfügen, funktioniert letztlich nicht anders als die Behauptung eines individuellen Ich, nämlich als ein sich als Ich behauptendes Ganzes aus Biologie, Gesellschaft und Individualität. Foucault zufolge bildet diese dreifache Komplexität eine „künstliche Einheit“, von der es in einer vorhergehenden Textstelle heißt: „Einmal hat es der ,Sex‛ möglich gemacht, anatomische Elemente, biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste“ ‒ also die ganze Palette des Körperleibs ‒ „in einer künstlichen Einheit als ursächliches Prinzip, als allgegenwärtigen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis funktionieren zu lassen: der Sex als einziger Signifikant und als universales Signifikat.“ (SuW 1, S.184)

Eben aus diesem Signifikant-Signifikat der Sexualität geht das Individuum mit seiner einzigartigen Geschichte hervor. Es ist die Wahrheit nicht für den Staat, sondern für den Begehrensmenschen, und zwar jenseits des Machtdispositivs. Denn zu den „Funktionsprinzipien“ des „Sexualitätsdispositivs“, so Foucault, gehört es, einen „Zugang“ zum Sex zu finden, der ihn nicht unterdrückt oder kontrolliert, sondern ihn befreit. (Vgl. SuW 1, S.186) „Man muß sich“, schreibt Foucault, „von der Instanz des Sexes frei machen“. (Vgl. SuW 1, S.187)

Man darf den Sex also nicht als eine Autorität, nicht als Teil eines Machtdispositivs verstehen, „will man die Mechanismen der Sexualität umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.“ (SuW 1, S.187)

Wie ist das gemeint? Wie können wir uns mit den Körpern und den Lüsten von dem Sex-Begehren als einem Dispositiv der Macht befreien? Will Foucault hier auf etwas hinaus, was Nietzsche und Plessner als zweite Naivität bezeichnen? Schließlich ist das „Element ,Sex‛“ so real wie imaginär und vielleicht auch real, weil imaginär, analog zur Gräfenberg-Zone, an die wir uns blind herantasten und, ob wir sie nun finden oder nicht, möglicherweise dennoch ankommen.

Letztlich ist das Begehren nur ein Motiv unter anderen, wenn auch vielleicht das mächtigste. Aber es gibt sie, diese anderen Motive, die Körper und Lüste im Plural und nicht im Singular. Und es ist eine Aufgabe unserer Vorstellung, unserer Imagination, sie alle in einer jeweils individuellen ‚Ökonomie‛ zu ihrem Recht kommen zu lassen. Vielleicht ist es das, worauf Foucault hinauswill, wenn er davon spricht, uns vom Zugriff der Macht zu befreien.

Das Befreiende für uns alle ist doch letztlich, daß es noch andere Motive gibt als die „Geschlechtslust“, um die es in den vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ hauptsächlich geht. Das macht eine „Ökonomie der Lustströme“ (vgl. SuW 4, S.284) ja gerade so dringend. Ich selbst spreche in meinem Blog immer vom „Gefühlshaushalt“, der uns eine individuell ausgestaltete Rangordnung von Motiven und Gelegenheiten ermöglicht und eines gewiß nicht beinhaltet: die Dämonisierung irgendeines körperlichen Bedürfnisses oder leiblichen Begehrens.

Ich frage mich, ob die heutige Zersplitterung des Gleichheitsprinzips in verschiedenartige Sprachformeln und Umgangspraktiken, wie sie der LGBTQ+-Etikette entprechen, nicht eine Form der Unterwerfung unter das Machtdispositiv bildet, vor der Foucault schon in den 1970er Jahren gewarnt hatte, als er von der „Ausstreuung und Verstärkung sexueller Disparität“ als Teil einer „Diskursivierung des Sexes“ sprach. (Vgl. SuW 1, S.79)

Dienstag, 1. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

1. Der aktuelle Stand
2. Der imaginäre Punkt
3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe
4. Kaiserzeit
‒ Diätetik
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Die unter dem zumindest für mich etwas ungewöhnlich klingenden Titel erschienenen insgesamt vier Bände von Michel Foucault, „Sexualität und Wahrheit“, umfassen den Zeitraum der griechischen Antike vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis zum fünften nachchristlichen Jahrhundert, also etwa tausend Jahre. Ungewöhnlich ist für mich die Verknüpfung des Wahrheitsbegriffs mit der Sexualität, denn beides hatte, jedenfalls nach meiner Erfahrung, eigentlich immer reichlich wenig miteinander zu tun gehabt.

Darüber, wie er zu dieser Verknüpfung gekommen ist, gibt Foucault in den vier Bänden keinerlei Auskunft. Erst als ich mir nach der Lektüre der vier Bände seine Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) vornahm, stieß ich auf eine Textstelle, in der Foucault selbst, zumindest implizit, auf die Ungewöhnlichkeit dieser Themenstellung eingeht. Er verweist darauf, daß seit Descartes‛ Verengung der Philosophie auf die rationale Erkenntnis das Verständnis für die spezifisch griechische und griechisch-römische „Sorge um sich“, um die es auch dem „Erkenne dich selbst“ des Orakels von Delphi gegangen war, nämlich als Hinwendung zum persönlichen, individuellen Wohlergehen des Menschen, völlig verloren gegangen ist. An die Stelle des individuellen Glücks trat die Erkenntnisgewiß als oberster Zweck des philosophischen Denkens. (Vgl. Foucault 2004, S.28ff.)

Die Wahrheit, um die es in „Sexualität und Wahrheit“ geht, ist deshalb keine Erkenntniswahrheit, die wir der objektiven Beobachtung und der logisch-mathematischen Reflexion verdanken, sondern eine Wahrheit, die das Subjekt „erleuchtet“: „(D)ie Wahrheit schenkt dem Subjekt Glückseligkeit, die Wahrheit verschafft dem Subjekt Seelenruhe. Kurz, in der Wahrheit und im Zugang zur Wahrheit liegt etwas, das die Vollendung des Subjekts vollbringt(.)“ (Vgl. Foucault 2004, S.34)

Die Sexualität wiederum hat die Philosophen der griechischen Antike immer beunruhigt; aus zweierlei Gründen: zum einen läuft der Geschlechtsakt auf einen konvulsivischen, unkontrollierbaren Höhepunkt hinaus und zum zweiten bedrohen gewisse sexuelle Praktiken die Position des Mannes in der patriarchalen Struktur der griechischen Polis. Um es deutlich zu sagen: der Mann liegt oben, die Frau liegt unten. In diesem Fall ist das kein Problem. Zum Problem wird es erst, wenn Männer miteinander Sex haben. Diskutiert wird das Problem aber vor allem bei Sex zwischen erwachsenen Männern und Knaben, und dann geht es vor allem um die künftige Position des Knaben als freier Mann in der Polisgesellschaft, die nicht durch seine Unterwerfung beim Geschlechtsakt gefährdet werden darf.

Unter anderem um solche heiklen Fragen geht es bei dem Titel „Sexualität und Wahrheit“. Der erste Band, „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1), ist gewissermaßen die Einleitung zu den folgenden drei Bänden. In ihm skizziert Foucault den aktuellen Stand der Dinge hinsichtlich seines Themas: „Die Sexualität wird sorgfältig eingeschlossen. Sie richtet sich neu ein, wird von der Kleinfamilie konfisziert und geht ganz im Ernst der Fortpflanzung auf. Um den Sex breitet sich Schweigen. Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz.“ (SuW 1, S.11)

Das ist gewissermaßen die ,Wahrheit‛ der Kleinfamilie. Verständlicherweise interessiert sich Foucault nicht für diese Art von Wahrheit. Wer jetzt allerdings an die 1950er Jahre denkt, wie auch ich es zunächst tat, ist auf dem Holzweg. Damals gab es den Kinsey-Report (1948/55 und 1953/54) und der wurde bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein diskutiert. Man kann also nicht sagen, daß sich um den Sex Schweigen ausbreitete. Foucault meint die Viktorianische Epoche des 19. Jhdts., und in der wurde tatsächlich nicht über Sex geredet.

In den folgenden drei Bänden geht es eben darum: wie von der griechischen Antike bis zu den Anfängen des Christentums über den Sex geredet wurde. Dabei geht es zwar um verschiedene Ansätze zur ‚Wahrheit‛ des Sexes, aber immer liegt ihnen die gleiche ontologische Frage nach dem ‚Sein‛ vor allem der männlichen Sexualität bzw. Subjektivität zugrunde. Wir haben es mit einer ontologischen Deutung der sexuellen Praktiken in verschiedenen Phasen des Patriarchats in dem oben genannten, tausend Jahre umfassenden Zeitraum zu tun.

Foucault behauptet, daß die gesellschaftliche Bedeutung der Sexualität weniger in einer Jahrhunderte oder gar Jahrtausende langen Unterdrückung sexueller Praktiken besteht (das aber auch!), auch nicht in der Neuzeit ab dem 16./17. Jhdt., sondern vielmehr im exzessiven Reden über Sexualität; einem Reden, das wiederum Teil einer peniblen Kontrolle des Menschen war und immer noch ist. Gegenstand dieser Kontrolle war und ist die ‚Ökonomie’ der menschlichen Triebe und Affekte, wie wir sie schon aus der griechischen Antike kennen und für die die Sexualität das Paradigma bildete. Anstatt über den Sex zu schweigen, hat man eher „einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr Diskursen, denen es gelang, zu funktionierenden und wirksamen Momenten seiner Ökonomie zu werden.“ (SuW 1, S.35)

Das Possessivpronomen ,seiner‛ (Ökonomie) im Zitat bezieht sich auf den zuvor genannten Sex. Die Diskurse über diesen Sex bilden also die Art und Weise, wie wir den Sex kontrollieren bzw. mit ihm ,haushalten‛. Wir haben es mit einer „Ökonomie der individuellen Lüste“ zu tun (vgl. SuW 1, S.35): „(M)an muß vom Sex sprechen wie von einer Sache, die man nicht einfach zu verurteilen oder zu tolerieren, sondern vielmehr zu verwalten und in Nützlichkeitssysteme einzufügen hat, einer Sache, die man zum größtmöglichen Nutzen aller regeln und optimal funktionieren lassen muß.“ (SuW 1, S.36)

In dem gut tausend Jahre umfassenden Zeitrum der griechischen Antike bis zum frühen Christentum steht das Individuum in ei­nem Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Ökonomie, die über die Individuen verfügt. In der patriarchal verfaßten Gesellschaftsordnung der Antike waren es überhaupt nur die freien Männer, also die wohlhabenden Grundbesitzer, die für sich individuelle Rechte in Anspruch nehmen, sich um ihre individuelle Bildung kümmern und am politischen Leben teilhaben konnten.

In der Neuzeit, also seit dem 16. Jhdt., schließen die modernen Staaten für ihre Bevölkerungspolitik wieder an den antiken Diskurs zur Ökonomie der Lüste an: „Die Regierungen entdecken, daß sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einem ,Volk‛, sondern mit einer ,Bevölkerung‛ mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zu tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungsweise und Wohnverhältnis­sen. ... Im Zentrum des ökonomischen und politischen Problems der Bevölkerung steht der Sex ...“ (SuW 1, S.37f.)

Die modernen Regierungen verstanden die sexuelle Ökonomie im wörtlichen Sinne als Teil einer Wirtschaftsordnung, die nur auf der Basis einer wachsenden Bevölkerung funktionieren konnte.

Regina Becker-Schmidt weist mit Bezug auf Hannelore Bublitz darauf hin, daß die Individuen für Foucault nur als „Machteffekte von Rhetoriken“, also von Diskursen von Interesse sind, „die in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Praxen wirksam werden“. (In: Feministische Theorien (2000), S.126-146: 133) ‒ Sie hat insofern Recht, als Foucault zwischen Individuen und Subjekten dahingehend unterscheidet, daß die Wahrheitsfrage sich auf die Subjekte bezieht und nicht auf die Individuen. (Vgl. Foucaul 2004, S.34 und S.36) Insofern interessiert er sich tatsächlich vor allem für die Frage nach dem Subjekt.

Ich glaube allerdings, daß Foucault sich vor allem deshalb so intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt, weil er aufgrund seiner individuellen Disposition als Homosexueller ein besonderes Interesse an dem Umgang mit Sexualität in der abendländischen Geschichte hat. Es geht ihm, um es mit Plessner zu sagen, in einem existenziellen Sinne um den Körperleib.

Mein Interesse ist dasselbe wie bei Foucault, wenngleich sich meine Motive einerseits als Heterosexueller, andererseits als ehemaliger Katholik von seinen Motiven unterscheiden mögen.

PS: Der Titel, den ich für die aktuelle Reihe von Blogposts gewählt habe, ist ein Zitat aus dem vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“. (Vgl. SuW 4, S. 461)

Mittwoch, 4. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Beauvoir behauptet, daß es im Existenzialismus um den einzelnen Menschen in seiner konkreten Individualität geht: „Für den Existentialismus hingegen gehen die Werte nicht vom unpersönlichen, universellen Menschen aus, sondern von der Vielzahl konkreter, einzelner Menschen, die sich aus der Situation heraus, deren Besonderheit eben­so vollkommen, ebenso unaufhebbar ist wie die Subjektivität, auf die von ihnen gesetzten Ziele hin entwerfen.“ (Beauvoir 1983/47, S.86)

Das Zwitterdasein als Einzelmensch und als Kollektivatom macht die Doppelsinnigkeit des Menschen aus. Plessner spricht hier von der Doppelaspektivität von Innen und Außen. Unsere Menschlichkeit umfaßt beide Aspekte, aber bezogen auf das Verhältnis des Menschen zur Menschenwelt ist hier eine Entscheidung impliziert, die ihn entweder zu einem moralischen Wesen macht oder zu einem bloßen Mitläufer, der mit seinem Verstand nichts anzufangen weiß und das Urteilen der Gruppe überläßt, der er sich zugehörig fühlt.

Was den Existenzialismus betrifft, dürfte eigentlich klar sein, welche Entscheidung hier ansteht. Dennoch stellt Beauvoir das Individuum immer wieder auf eine Stufe mit dem Kollektiv. Das liegt am politischen Engagement der existenzialistisch empfindenden Generation nach 1945: sie waren fast alle Marxisten und einige sogar Kommunisten, so daß das kollektive Element nicht grundsätzlich von Übel sein durfte. Das zeigt sich auch in den Essays von Simone de Beauvoir. Beide Existenzformen, Individualität und Kollektivität, werden von Beauvoir im umfassenden Sinne als menschlich geadelt, so als wäre das Kollektiv nur eine Weise der Menschen, „sich der Freiheit der anderen und ihrer eigenen Freiheit bewußt (zu sein)“: „Alles vollzieht sich also sowohl im Einzelmenschen wie im kollektiven Geschehen, als ob der Mensch frei wäre.“ (Beauvoir 1983/47, S.89)

So heißt es z.B. vom Proletariat: „... es kann sich ködern lassen, wie das deutsche Proletariat, oder in der ihm vom Kapitalismus zugestandenen langweiligen Bequem­lichkeit einschlafen, wie es dem amerikanischen Proletariat ergangen ist. In allen diesen Fällen wird man sagen, daß das Proletariat Verrat übt: immerhin muß es also frei sein, Verrat üben zu können.“ (Beauvoir 1983/47, S.88) ‒ Wenn Beauvoir hier dem Proletariat die Freiheit zuspricht, Verrat üben zu können, begabt sie es mit einer Kompetenz, die allein dem Individuum zueigen ist.

Beauvoir spricht vom Proletariat, als handelte es sich um ein Individuum. Sie spricht sogar vom „leibhaftig vorhandenen Proletariat“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.88f.), als hätte es einen individuellen Körper, und unterscheidet es so von der „Idee des Proletariats“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.89), als wäre das Proletariat nicht schon immer nichts anderes als bloß eine körperlose Idee gewesen und als wären ihre einzigen historisch-konkreten Ausformungen nicht die einzelnen Proletarierinnen und Proletarier.

Beauvoir entgeht, daß es sich bei dem angeblich bequemen us-amerikanischen oder verräterischen deutschen ‚Proletariat‛ immer bloß um freischwebende kollektive Befindlichkeiten handelt, also um Abstraktionen, die der demagogischen Verführungskraft des organisierten Kapitalismusses nichts entgegenzusetzen haben. Kollektive haben weder ein körperleiblich situiertes, individuelles Bewußtsein noch eine Moral. Das gilt prinzipiell für alle Arten von Kollektiven, kommunistisch, faschistisch, religiös oder woke. Kollektive sind keine Individuen.

Kollektive sind auch nicht der einzige oder auch nur der bevorzugte Ort, wo Menschen zueinanderfinden. Das Problem, wie „vereinzelte() Menschen zueinander finden können“, wird nicht durch eine „Moral der Doppelsinnigkeit“ gelöst. (Vgl. Beauvoir 1983/47, S.86f.) Vielmehr haben wir es mit einem Scheinproblem zu tun, denn nicht die angebliche ‚Vereinzelung‛ ist das Problem. Tatsächlich können nur Individuen zueinanderfinden, denn die wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß sich zwei Menschen gegenseitig als ein Ich erkennen. Dazu aber müssen diese Menschen Individuen sein. Sobald sie also Du zueinander sagen, haben sie einander gefunden. In Kollektiven sehen die Menschen in anderen Menschen immer nur ihr Kollektiv. Wenn sie ‚Du‛ sagen, meinen sie ‚Wir‛.

Daß Kollektivität und Individualität nicht verträglich koexistieren können, kommt auch in der Inkonsequenz zum Ausdruck, mit der Beauvoir mehr um den heißen Brei herumredet, als dieses Thema analytisch zu entwickeln. Hatte sie zunächst „Heldentum“ und „sportliche Leistungen“, also kollektivistische Befindlichkeiten erzeugende Höchstleistungen im Bereich moralischer und physischer Standards, als Realisierungsformen der menschlichen Transzendenz gewürdigt (vgl. Beauvoir 1983, S.191), ergießt sie acht Seiten später ihren Spott über den spießbürgerlichen Stolz „harmloser Bürger“, die sich an Berichten über eine „Ersteigung des Himalaja“ ergötzen: „Dadurch, daß sich ein Mensch mit seinem Geschlecht, seinem Land, seiner Gesellschaftsschicht, mit der ganzen Menschheit gleichsetzt, kann er seinen Garten vergrößern, aber er vergrößert ihn nur durch Worte. Eine solche Gleichsetzung ist nichts als leere Anmaßung.“ (Beauvoir 1983/44, S.199)

So etwas läßt sich nicht einfach so behaupten, ohne daß es auch den transzendentalen Status von Kollektiven in Zweifel zieht. Auch Kollektive sind nichts anderes als eine leere Anmaßung. Dem Satz: „Mein ist vor allem die Verwirklichung meines Entwurfs: ein Sieg ist mein, wenn ich für ihn gekämpft habe.“ ‒ der das Individuum wieder ins Recht zu setzen scheint, widerspricht Beauvoir dann aber gleich wieder in ihrer direkt nachfolgenden Erläuterung: „Der müde Eroberer kann sich der Siege seines Sohnes deshalb erfreuen, weil er einen Sohn nur darum gewollt hat, damit dieser sein Werk fortführt ...“: „Weil meine Subjektivität nicht Reglosigkeit ist, Zurückgeworfensein auf sich selbst, Getrenntheit, sondern im Gegenteil Bewegung auf anderes hin, wird der Unterschied zwischen diesem und mir aufgehoben, und so kann ich anderes mein nennen!“ (Beauvoir 1983/44, S.199f.; Hervorhebungen DZ)

Für Beauvoir ist also die Kollektivierung von individuellen Höchstleistungen Teil der menschlichen Transzendenz. So wird aus der Dyade Vater/Sohn ein Minikollektiv. Dann aber darf sich auch der genannte ‚harmlose‛ Bürger über die Ersteigung des Himalaya freuen, ohne sich in Beauvoirs Augen lächerlich zu machen.

Gerade was das Kernanliegen des Existenzialismusses betrifft, der freie Entwurf oder pathetischer ausgedrückt: die Freiheit, geht es, was das Kollektiv betrifft, um eine grundlegende Entscheidung. Wenn wir geboren werden, dann nicht einfach nur in eine physische Welt, sondern vor allem in eine Lebenswelt. Die Lebenswelt ist die ursprüngliche, kollektive Seinsform des Menschen und zugleich ein Schicksal, aus dem der Mensch wie aus Platons Höhle den Ausgang finden muß. Zwar sind wir immer beides, Kollektivwesen und Einzelmenschen, aber zugleich gilt, daß es den Menschen nicht sowohl als Kollektivwesen wie auch als Individuum gibt. Es gibt hier kein Sowohl-Als auch, sondern nur ein Entweder-Oder.

Der Mensch ist eben nicht immer und unter allen Umständen grundsätzlich frei; gerade auch dann nicht, wo er, wie Sartre meint, „aus freien Stücken“ unfrei ist, und auch dann nicht, wenn er, wie Kant meint, „selbstverschuldet“ unmündig ist. Es ist nur ein dialektischer Trick, ihm in solcher Unfreiheit eine Freiheit zuzusprechen. Der Mensch mag frei sein, wenn er die Chance hat, sich im Moment einer wie auch immer prekären Freiheit für die Unfreiheit zu entscheiden. Dann aber ist er nicht mehr frei und alles weitere geschieht mit ihm so, als wäre er nie frei gewesen.

Die Menschen haben also immer beides in sich, die Freiheit und die Unfreiheit, die Individualität und die Kollektivität. Wenn sie sich Kollektiven unterwerfen, dann weil sie Menschen sind. Wenn sie sich als Individuen zu behaupten versuchen, dann weil sie Menschen sind. Als Angehörige von Kollektiven verlieren sie nicht ihre Menschlichkeit. Wir leben immer in einer Lebenswelt, selbst dann, wenn wir aus der Höhle heraustreten. Das ist es, was Marx mit dem Menschen als „Ensemble“ gesellschaftlicher Verhältnisse gemeint hat.

Unserer Verantwortung als Mensch stellen wir uns erst in dem Moment, wo wir vor der Entscheidung stehen, uns als Individuen zu behaupten. Das ist der Moment unserer „zweiten Geburt“ als Mensch, wie Rousseau es im „Émile“ (1760) nennt. Wenn wir also den Moment des Erwachens ungenutzt lassen und in den kollektiven Schlaf zurücksinken, sind wir im Kantischen Sinne selbstverschuldet unmündig geworden. Dann aber sind wir eben nicht mehr frei. Denn unfrei ist unfrei, auch wenn es selbstverschuldet ist. Offen bleibt nur, welche Chancen sich uns in unserem weiteren Leben noch bieten, diese Entscheidung zu revidieren.

Beauvoir bestätigt das, wenn sie schreibt: „In Wirklichkeit aber läßt sie (die Freiheit ‒ DZ) sich nicht von der Bewegung jener ambivalenten Realität trennen, die man das Dasein nennt, und die nur ist, indem sie sich sein macht; die Freiheit ist nur insofern gegeben, als sie errungen werden muß.“ (Beauvoir 1983/47, S.92; Hervorhebungen DZ)

Mit anderen Worten: wo wir unsere Freiheit nicht zu erringen versuchen, sind wir auch nicht frei! Wir sind nicht gleichzeitig frei und unfrei, als könnte beides nebeneinander koexistieren. Wer in der relativen Freiheit einer rechtsstaatlich verfaßten Demokratie lebt, sich aber nach autoritären Machthabern sehnt, ist unfrei. Und wer in diesem Sinne unfrei ist, ist es nicht einmal mehr „aus freien Stücken“.

Das ist vielleicht das Grundproblem liberaler Demokratien: sie bieten den Menschen kaum Gelegenheit, ihre Freiheit zu erkämpfen, weshalb ihr Bestand immer gefährdet bleiben wird.

Dienstag, 3. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Nachdem Beauvoir in ihrem Essay zur Doppelsinnigkeit der Moral die Existenz des Menschen als ein immerwährendes sich-Entwerfen auf Ziele hin dargestellt hat, das selbst dort, wo er seine Ziele erreicht, zugleich ein Scheitern ist ‒ „... man kann sich eine Aufhebung des Scheiterns nicht vorstellen, ohne gleichzeitig an den Tod zu denken“ ‒, stellt Beauvoir die sehr berechtigte Frage: „Aber ist dieser Kampf ohne Sieg nicht eine bloße Selbsttäuschung? Manche Menschen werden behaupten, daß es sich hier nur um einen Trug der Transzendenz handle, die sich ein Ziel vorsetzt, das unaufhaltsam in die Ferne rückt, die also gleichsam in einem endlosen Auf-der-Stelle-Treten sich selbst nachläuft.“ (Beauvoir 1983/47, S.190f.)

Die einzige angemessene Antwort auf diese Frage wäre das Als-ob einer zweiten Naivität, in der wir den gegenwärtigen Sinn unserer Existenz ergreifen, ohne uns Illusionen über die Endlichkeit alles Sinnstrebens zu machen. Stattdessen flüchtet sich Beauvoir in ein pathetisches Heldentum, das an Camus’ absurden Menschen erinnert: „Wenn die Menschen den Worten, den Formen, den Farben, den mathematischen Lehrsätzen, den physikalischen Gesetzen, den sportlichen Leistungen, dem Heldentum Wert beimessen, wenn sie sich gegenseitig in der Liebe, der Freundschaft Wert beilegen, dann haben die Dinge, die Geschehnisse, die Menschen diesen Wert, und sie haben ihn absolut.“ (Beauvoir 1983/47, S.191; Hervorhebung SB)

Beauvoir verabsolutiert also das Als-ob einer zweiten Naivität und verwandelt diese damit in genau die „Ernsthaftigkeit“, gegen die sie sonst in ihrem Essay so hartnäckig zu Felde zieht. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Beauvoir so leicht vom Lob des Sports und des Heldentums hinübergleitet zum Lob der Freundschaft und der Liebe, als handelte es sich bei der Kollektivität und bei der Individualität um dieselbe Menschlichkeit. Dazu im nächsten Blogpost dieser Reihe mehr.

Beauvoir hat eine sehr angestrengte, ungnädige Einstellung zu den Annehmlichkeiten des Lebens. Jedes naive Sich-gehen-lassen konfrontiert sie mit der Notwendigkeit, weitere Risiken auf sich zu nehmen und sich neuen Kämpfen zu stellen. Eine zweite Naivität, die eine Neutralität zum Wechsel von Muße und Engagement ermöglicht, zieht sie nicht in Betracht. Das zeigt sich deutlich an ihrer Einstellung zum Genuß. So heißt es beispielsweise, „im Augenblick des Genießens“ sammele „sich eine ganze Vergangenheit“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.204)

Ein friedliches Bild von einem erfüllten Feierabend tut sich hier auf, am Ende eines anstrengenden Tages oder auch als Gewinn eines von Erfahrungen erfüllten Lebens. Aber schon im nächsten Satz zerstört Beauvoir den Moment der inneren Sammlung und beharrt darauf, daß es im „Augenblick des Genießens“ darum gehe, „sich mit ihm auf die Zukunft hin zu entwerfen“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.204) ‒ Kein Verweilen ohne Ausblick auf ein Mehr, nicht einmal in einem auch noch so schönen ‚Augenblick‛. Der Existenzialismus als faustischer Pakt mit dem Teufel.

Oder Beauvoir schreibt: „Die Sonne, den Schatten genießen heißt, das Dasein als eine langsame Bereicherung erfahren“, was einen wieder an Muße denken läßt. Das Leben als Reifung und als Bildung. Dann konterkariert sie diese stille Einkehr wieder damit, daß es beim Rasten darum gehe, „wieder aufzubrechen“: „Gleichzeitig mit dem zurückgelegten Weg betrachte ich die Täler, zu denen ich hinabsteigen werde, betrachte ich meine Zukunft.“ (Beauvoir 1983/44, S.204) ‒ Im Hier und Jetzt gibt es für Beauvoir keinen Genuß. Jedenfalls keinen, der nicht sofort in den Drang übergeht, wieder aufzubrechen.

Wenn Beauvoir einerseits André Gide zitiert: „Eine Tasse Schokolade mit Zimt trinken, bedeutet Spanien trinken ...“ (Vgl. Beauvoir 1983/44, S. 204), schreibt sie andererseits dem bezaubernden Duft und der Landschaft die schnöde Funktion zu, „uns über sich selbst hinaus“ zu werfen (vgl. Beauvoir 1983/44, S.204). Auch hier also: kein sich-Verlieren in Duft und Landschaft; nur wieder angestrengtes über sich hinaus.

Bei der Frage, ob der Wille in erster Linie eine Kognition ist oder eine Emotion, hat sich Beauvoir für die Kognition entschieden. Nach ihrer Auffassung ist der Wille nur Wille als Entwurf, und die Gefühle dienen ihm.

Montag, 2. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Das existenzialistische, von Heidegger abgeschaute Gerede vom ‚Geworfen sein‛, vom ‚Werfen‛ und vom ‚Entwurf‛, vom Entwurfscharakter des menschlichen Daseins, verdeckt nur den anthropologischen Umstand, daß es die Gefühle sind, die den Menschen nicht ruhen lassen, und daß es die Gefühle sind, die den Menschen in Bewegung setzen. Sie sind auch der Grund, warum das menschliche Bewußtsein als Intentionalität oder mit Schopenhauer als „Wille und Vorstellung“ beschrieben werden muß. Unsere Transzendenz ist es, denken zu können. Nur im Denken hat der Mensch die Freiheit und die Wahl. Aber seine Wahl, sein ‚Entwurf‛ beschränkt sich darauf, welchem seiner Willensstrebungen er Priorität einräumen will, im Bezug auf eine Situation und im Bezug auf sein Leben. Mit ‚Willensstrebungen‛ meine ich alle unsere Gefühle. Ich mache keinen Unterschied zwischen unserem Willen und unseren Neigungen, wie Kant es macht.

Auch Beauvoir grenzt sich vom Kantischen Willensbegriff ab: „Im Unterschied zu Kant halten wir jedoch den Menschen nicht für einen wesensmäßig positiven Willen; im Gegenteil, zunächst bestimmt er sich selbst als Negativität: er nimmt zunächst sich selbst gegenüber Abstand ein, er kann nur dann mit sich übereinstimmen, wenn er bereit ist, sich nie wieder mit sich selbst zu vereinigen.“ (Beauvoir 1983/47, S.98; Hervorhebung DZ)

Beauvoir bezieht sich hier auf Kants Betonung des guten Willens, der sich von unseren Neigungen dadurch unterscheidet, daß er sich dem moralischen Gesetz unterordnet. Weil die Menschen dazu ‚neigen‛, sich Ausnahmen von der moralischen Norm zu gestatten, sind sie ‚böse‛. Wenn Beauvoir entsprechend diesem Gegensatz gut/böse nun zwischen positivem Willen und Negativität unterscheidet, erweckt sie den Eindruck, es könne so etwas wie einen negativen Willen geben. Aber der Wille ist immer positiv. Einen negativen Willen kann es gar nicht geben, weil er nämlich entweder nicht oder nichts wollen würde. Er höbe sich also selbst auf. Außerdem bezieht sie den Willen nur auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und klammert so sein Verhältnis zur Welt aus..

Plessner hingegen beschreibt den Willen allererst als ein Weltverhältnis, der dann, weil er an der Welt scheitert, reflektiert wird. Jetzt erst, als gebrochener Wille, wird er negativ: wir werden uns unserer selbst bewußt. Bevor wir an uns selbst scheitern, scheitern wir an der Welt. Das, was der Existenzialismus den „Entwurf“ nennt, basiert primär auf einem Selbstverhältnis, das von vornherein das Scheitern in seine Entwürfe einbezieht. Aber die Möglichkeit des Scheiterns wird uns erst durch die Erfahrung des Scheiterns bewußt. Diese Erfahrung ist nicht Teil des Willensakts, sondern dessen Resultat in einer Welt, die nicht für uns da ist. Wo Willensakte nicht in erster Linie an der Welt scheitern, bedarf es keiner Entwürfe.

Beauvoir redet von ‚Entwürfen‛, wie ich vom ‚Gefühlshaushalt‛ rede. Ich setze eine Vielzahl von Gefühlen voraus, die ich allesamt als Willensregungen verstehe. Beauvoir spricht aber von einer Vielzahl von Entwürfen, denen ein Wille, in der Einzahl, zugrundeliegt. Um jetzt angemessene Entwürfe für unser Handeln zu finden, müssen wir allererst diesen Willen kennen.

In einem Kontext, in dem es darum geht, wie wir uns einander in einer Liebesbeziehung ,hingeben‛, schreibt Beauvoir: „Aber in diesem Fall müßte man zuerst den Willen des anderen kennen, und das ist nicht so einfach. Jeder Entwurf hat eine zeitliche Dauer und umfaßt eine Vielzahl von Einzelentwürfen. Man muß also zu unterscheiden wissen zwischen jenen Entwürfen, die mit dem Hauptentwurf in Einklang stehen, jenen, die ihm widersprechen, und jenen, die nur zufällig mit ihm verbunden sind ...“ (Beauvoir 1983/44, S.234f.)

Das gilt nicht nur für unseren Umgang miteinander, sondern auch für uns selbst. Alle Menschen müssen sich mit einer Vielzahl von Einzelentwürfen auseinandersetzen, mit denen sie ihr Leben zu organisieren versuchen. Das entspricht dem, was ich den ‚Gefühlshaushalt‛ nenne: wir müssen lernen, zwischen wichtigen Willensregungen und bloßen Launen zu unterscheiden, weil unser Leben zu kurz ist, um uns alle unsere Wünsche zu erfüllen. Beauvoir macht aber den Fehler, bei der Vielzahl von Entwürfen nur von einem einzigen Willen, der den vielen Entwürfen zugrundeliegt, auszugehen. Die Vielfalt der Entwürfe ist nicht der Vielfalt der Möglichkeiten in einer endlichen Welt, sondern allererst der Vielfalt unseres Wollens geschuldet.

Wir müssen also nicht nur verstehen, was unsere Mitmenschen wollen, sondern auch, was wir selbst wollen. In ihrem Essay zu de Sade beschreibt Beauvoir ein Konzept von Intentionalität, das meinem ‚Gefühlshaushalt‛ entspricht: innerhalb einer Vielzahl von Begehrungen, Bedürfnissen und Launen ist die den ganzen Menschen umfassende Grundleidenschaft die Sexualität. Beauvoir zitiert de Sade: „Der sexuelle Genuß ist eine Errungenschaft, die meines Erachtens alle anderen Leidenschaften in sich vereint.“ (Zitiert nach: Beauvoir 1983/55, S.47f.)

Beauvoir fährt fort: „Wie der erste Teil dieses Satzes beweist, ahnt Sade nicht nur bereits das voraus, was Freud später als ‚Pansexualität‛ bezeichnet, sondern er hält auch den Geschlechtstrieb für die eigentliche Triebfeder allen menschlichen Verhaltens; zudem behauptet er im zweiten Teil des Satzes, daß die Sexualität Bedeutungen hat, die über sie hinausgehen; die Libido ist allgegenwärtig, und sie ist stets viel mehr, als sie ist: diese große Wahrheit hat Sade zweifellos zumindest geahnt. Er weiß, daß hinter den ‚Perversionen‛, die der Durchschnittsmensch als moralische Abirrung oder als physiologischen Makel betrachtet, das steht, was man heute als ‚Intentionalität‛ bezeichnet.“ (Beauvoir 1983/55, S.48)

Das Zitat fügt sich nahtlos in mein Konzept vom Gefühlshaushalt ein. Allerdings ist die Libido, die eigentlich nur die Sexualität meint, so dominant sie auch sein mag, ein zu kleines Wort, das nicht alle unsere Motive zu erfassen vermag. Ich spreche hier lieber vom Willen bzw. wie Beauvoir am Schluß des Zitats von ‚Intentionalität‛.

Diese Intentionalität ist ein Sammelbegriff für alle unsere Willensregungen, die wiederum nichts anderes sind als das Gesamt unserer Befindlichkeiten bzw. Gefühle. Um im Rahmen dieses vielfältigen Ensembles dominante und notwendige Empfindungen wie das Begehren und die physiologischen Bedürfnisse (Hunger, Durst etc.) von bloßen Affekten und Launen zu unterscheiden, bedarf es einer Disziplin der Selbstbeobachtung, die es uns ermöglicht, nach und nach herauszufinden, was wir für ein Leben führen wollen. Das Ergebnis einer solchen Selbstbeobachtung ist ein Gefühlshaushalt. Darunter verstehe ich eine Rangordnung und eine Zeitökonomie. Unser Leben ist zu kurz, um es an Launen zu verschwenden, die wir uns oft genug bloß von anderen abgeschaut und übernommen haben.

Sonntag, 1. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Ich schreibe in diesem und in den folgenden Blogposts zu Simone de Beauvoirs Essayband „Soll man de Sade verbrennen?“ keine Rezension, sondern nur Kommentare. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, daß ich in den letzten Jahren nicht mehr den Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit von Rezensionen erhebe, sondern in diesem Fall vor allem damit, daß es mir mit Beauvoirs Essays vor allem um das anthropologische Grundkonzept des Existenzialismusses geht: um den Entwurfscharakter der menschlichen Existenz. Ich gehe deshalb summarisch auf die diesbezüglichen Aussagen der drei Essays ein. Ich diskutiere diese Essays nicht einzeln und nacheinander, sondern suche mir raus, was ich brauche, um meine Position zu schärfen.

Mit ,Entwurf‛ meint Beauvoir eine ambivalente anthropologische Grundbefindlichkeit, wie überhaupt der Begriff der Doppelsinnigkeit ihre drei Essays wie ein roter Faden durchzieht. Ambivalent ist der Wurf als ‚geworfen Sein‛, in diese Welt hinein, die nicht darauf gewartet hat, daß wir in ihr erscheinen, und die auch nicht für uns gemacht worden ist, weil es uns nämlich zuvor gar nicht gegeben hat. Es hat uns auch niemand geworfen. Dieser Wurf ist uns geschehen. Ein Zufallswurf, wie im Würfelspiel, und jetzt sind wir da.

Zugleich aber haben wir die Möglichkeit, selbst zu werfen, uns in Werfende zu verwandeln. Das ist der Entwurf. Daß wir uns auf ein Ziel hin entwerfen können, ist unsere Freiheit bzw. unsere Transzendenz. Wir können den Zufall, das Gegebene, überschreiten. Denn das bedeutet ‚transzendieren‛: überschreiten. Im Entwurf überschreiten wir die Grenzen des Zufälligen und Gegebenen. Existieren heißt transzendieren. Für die Existenzialistin bilden diese Wörter eine Tautologie.

Das ist also das Ambivalente am ‚Entwurf‛: der Mensch ist ein Geworfener und zugleich ein Werfender. An Pyrrhus ‒ ein griechischer Kriegsherr, auf den das Wort vom Pyrrhussieg geprägt wurde, einem Sieg, der zugleich eine Niederlage ist ‒ macht Beauvoir diese Ambivalenz deutlich. Der auf neue Eroberungen ausgehende Pyrrhus wird von seinem treuen Weggefährten Cineas gefragt, ob er nicht lieber zuhause bleiben und ausruhen wolle. Pyrrhus will aber erst noch weiter erobern, bevor er ausruht; immer weiter und weiter. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.195) Beauvoir läßt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite sie steht: „Nicht Cineas, sondern Pyrrhus hat recht. Pyrrhus bricht auf, um zu erobern: möge er das tun.“ (Beauvoir 1983/44, S.226)

Man könnte Pyrrhus und Cineas mit dem Sisyphus von Camus vergleichen. Schon daß der Sieg in Pyrrhus’ größter Schlacht den Keim seiner künftigen Niederlage in sich trug, ist für den Existenzialismus zentral. Denn in allen unseren Entwürfen geht es nicht um die Ziele, die wir mit ihnen verfolgen. Kein Ziel kann den Menschen befriedigen. Kein Ziel, wenn es erreicht ist, kann ihn dazu bringen, innezuhalten. Letztlich ist Pyrrhus ein Sisyphus und unterscheidet sich von Camus’ Sisyphus nur darin, daß er nicht immer nur ein und denselben Stein den Berg hinaufrollt, sondern jedesmal einen anderen. Aber in der Summe sind alle diese Eroberungssteine doch letztlich immer nur ein und derselbe Stein.

Cineas hingegen unterscheidet sich von Sisyphus darin, daß er überhaupt keinen Stein den Berg hinaufrollen will. Aber wäre er dann auch glücklich, so wie es Sisyphus Camus zufolge ist? Vielleicht ja. Vielleicht nicht. Falls er auch glücklich wäre, wäre er es aber grundlos; denn ihm fehlt der Stein. Existenzialistisch ausgedrückt: ohne Stein kein Entwurf. Ohne Entwurf kein Glück. Das Glück aber ist kurz und nur ein Durchgang zu neuen Entwürfen.

Bei Beauvoir läuft in ihren drei Essays immer alles auf dieses fortwährende sich-Entwerfen hinaus. Pyrrhus ‚wirft‛ sich in seine Eroberungen, wie alle Menschen, die sein wollen. Damit distanziert Beauvoir sich auch von Heidegger, für den der Mensch nicht ein Sein im Entwurf, sondern ein Sein zum Tode ist. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.227) Beauvoir hält dagegen: „Aber für mich, der ich lebe, ist mein Tod nicht; mein Entwurf geht durch ihn hindurch, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Es gibt keine Schranke, auf die meine Transzendenz im vollen Schwung stößt; sie erstirbt von selbst, wie das Meer, das an einen flachen Strand anbrandet, innehält und nicht weiter vordringt.“ (Beuavoir 1983/44, S.227)

Das sind wundervolle, geradezu poetische Sätze. Sie erinnern mich an ein Erlebnis vor etwa zwölf Jahren: ein Karatelehrer forderte mich auf, mit der bloßen Hand eine Dachpfanne zu zertrümmern. Als ich aus Angst, mich zu verletzen, zögerte, gab er mir den Rat, mich nicht auf die Dachpfanne, sondern auf einen imaginären Punkt hinter der Dachpfanne zu konzentrieren. Ich folgte seinem Rat und als ich zuschlug, löste sich meine Spannung in einem Schrei. Meine Hand ging mit „vollem Schwung“ durch die Pfanne hindurch, als wäre da kein Hindernis. Zurück blieben die Trümmer der Pfanne.

Schon damals dachte ich, daß man so sterben sollte: sich auf einen imaginären Punkt hinter der Wand des Todes konzentrierend. Was auch immer hinter dieser Wand sein mag: dort brandet unser Leben aus, hält inne und dringt nicht mehr weiter vor.

Ich gebe gerne zu, daß das Zuschlagen und das Ausbranden ein in sich widersprüchliches Bild ergeben. Wenn wir jedoch das Zuschlagen mit der nackten Hand als eine Form des Loslassens verstehen, paßt alles wunderbar zusammen.

Aber nicht nur der Begriff des Entwurfs ist ambivalent. Auch der Begriff der Transzendenz als Überschreitung. In der Regel meint Beauvoir damit das Überschreiten von Grenzen. Wie ambivalent das ist, zeigt sich, wenn sie schreibt: „jedes Sichbedienen ist Überschreitung“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.213) ‒ Im ‚Sichbedienen‛ klingt an, daß wir es beim Überschreiten von Grenzen nicht nur mit einer Befreiung zu tun haben, sondern unter Umständen auch mit einer Grenzverletzung; mit einem Übergriff. Gewalt ist für Beauvoir nicht einfach etwas Negatives. Sie kann etwas Positives sein: die Dachpfanne muß zertrümmert werden.

Beauvoir beschreibt das menschliche Verhältnis zur Welt mit Vokabeln wie Gewalt und Kampf. Mit anderen, weniger konfrontativen Zugängen zur Welt kann sie nichts anfangen, wie sich beispielsweise an ihrer sonderbaren Einstellung zum Genuß zeigt (vgl. Beauvoir 1983/55, S.47f.), worauf ich im dritten Blogpost dieser Reihe nochmal gesondert eingehen werde. Auch mit Paradiesen kann Beauvoir wenig anfangen: „Weil der Mensch Transzendenz ist, fällt es ihm so schwer, sich je irgendein Paradies vorzustellen. Das Paradies ist Ruhe, ist Aufhebung der Transzendenz, ist ein Zustand, der gegeben wird, also nicht zu überschreiten ist. Aber was sollen wir dort nur anfangen? Damit wir es überhaupt aushalten können, müßte dort Raum für Handeln, für Wünsche vorhanden sein, müßten wir das Paradies seinerseits überschreiten können, dürfte das Paradies kein Paradies sein.“ (Beauvoir 1983/44, S.206)

Ist das vielleicht der Grund, warum unsere technische Zivilisation alle Weltregionen, die annähernd paradiesisch anmuten, in Wüsten verwandelt? Die Menschen halten es einfach nicht aus, nichts zu tun. Sie halten es nicht mit sich aus. Deshalb entwerfen sie sich. Deshalb überschreiten sie Grenzen.

Freitag, 2. Mai 2025

Menschliche und technische Evolution

Martina Heßler: „Sisyphos im Maschinenraum. Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie“ (2025)

Die wichtigste Frage, die Martina Heßler in ihrem Buch stellt, lautet: „Wie verlässt man den Pfad der ständigen technologischen Leistungssteigerung in einer komplexen Welt, die stets komplexer wird?“ (Heßler 2025, S.240) ‒ Mit dem Sisyphus im Buchtitel spielt sie darauf an, daß die Menschen so auf die Technik fixiert sind wie einst Sisyphus auf seinen Stein und vergeblich alle die durch die Technik verursachten und, wiederum wegen der Technik, immer komplexer werdenden neuen Probleme mit neuen, noch komplexeren Technologien unter Kontrolle zu bringen versuchen.

Martina Heßler teilt die Technikgeschichte der letzten drei- bis vierhundert Jahre in drei Phasen ein. In der ersten Phase vom 17. bis in das 20. Jahrhundert hinein haben wir es nur mit mechanischen Maschinen wie etwa der Dampfmaschine und dem mechanischen Webstuhl zu tun. Sie unterliegen bekannten physikalischen Gesetzen und verwandeln nach einsehbaren, bis ins kleinste Detail festgelegten maschinellen Prozeduren fossile Energie in Bewegung um. Diese Maschinen werden zunehmend zu Leitbildern der Menschenerziehung. Die Philanthropen des 18. Jhdts. verwendeten für ihre Erziehungs- und Schulprojekte gerne Maschinenmetaphern.

In der zweiten Hälfte des 20. Jhdts., in den 1970er Jahren, waren die Maschinen so komplex geworden, daß der Mensch sie nicht mehr bedienen konnte. Er ,entwickelte‛ sich mit den Maschinen nicht mit und war zunehmend von ihrer ständig sich erhöhenden Leistungskraft überfordert. Es entstand eine neue Forschungsrichtung, das Human Factors Engineering: „Die Human Factors-Forscher beklagten eine prinzipielle evolutionäre Grenze des Menschen, die sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit weiterentwickeln könnten wie Maschinen.“ (Heßler 2025, S.229)

Mit Hilfe des Human Factors Engeneering sollten die Maschinen menschenfreundlicher bzw. bedienungsfreundlicher gestaltet werden. Die industriellen Arbeitsprozesse sollten nicht mehr an den Maschinen, sondern an den Menschen ausgerichtet werden.

Die Menschen, schreibt Heßler, „nahmen“ sich zum ersten Mal „als hinter der Technik zurückgeblieben wahr“: „Menschen entpuppten sich, wie die Zeitgenossen vielfach konstatierten, als der Bedienung der Technik nicht gewachsen, sie erwiesen sich als Bremse der technologischen Entwicklung und des Fortschritts. ... Aus der Beobachtung eines ,evolutionären Zurückbleibens‛ der Menschen resultierte ein relationales und vor allem systemisches Denken des Mensch-Maschinen-Verhältnisses, das in seiner historischen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.“ (Heßler 2025, S.164f.)

Aber so komplex die Maschinen inzwischen auch geworden waren, so blieben sie doch prinzipiell berechenbar und kontrollierbar. Zwar war der Wartungs- und Reparaturbedarf so enorm gestiegen, daß das menschliche Wartungspersonal bei der Behebung von Störfällen wiederum auf die Hilfe von ,Expertensystemen‛, also von Maschinen angewiesen war, aber die Ingenieure wußten, was ihre Maschinen konnten und wie sie funktionierten.

Das änderte sich in der dritten Phase der Technikgeschichte in den 2000er Jahren, als den Ingenieuren mit der KI ein qualitativer Sprung in eine neue technologische Dimension gelang. Sogenannte ,lernende‛ KI sammelt mit Hilfe statistischer Methoden Daten, auf deren Basis sie Probleme löst, deren Komplexität den menschlichen Verstand übersteigt. Außerdem wirkt die KI-Maschine auf schräge Weise menschlich. Sie entwickelt sich: „Das Maschinenhafte ist nicht mehr das Standardisierte, das Regelhafte und Immergleiche. Vielmehr entwickeln sich KI-Anwendungen unterschiedlich. Sie haben gleichsam eine individuelle Biografie, die von ihrem Gegenüber und ihrem Nutzungskontext abhängt. Es sind die jeweiligen Daten und der jeweilige Nutzungskontext, die die KI permanent verändern.“ (Heßler 2025, S.199; Hervorhebung MH)

Hier eröffnet sich eine neu-alte Dimension der Fehlerhaftigkeit: neu, weil kein Ingenieur mehr vorhersagen kann, in welche Richtung sich eine KI-Anwendung entwickelt, und folglich auch nicht mehr erklären kann, wie sie zu einem bestimmten Resultat gekommen ist. Im Unterschied zu allen Vorgängermaschinen ist die KI eine Blackbox. Wie Heßler den Philosoph Klaus Mainzer zitiert: „Es ist sogar in leicht mystischer Diktion von einem ,dunklen Geheimnis im Zentrum der KI ...‛ die Rede.“ (Vgl. Heßler 2025, S.199)

Wäre die KI tatsächlich eine Intelligenz, müßte man wohl von einem maschinellen Unbewußten reden. Tatsächlich handelt es sich aber bloß um einen blinden Fleck im Bewußtsein ihrer Konstrukteure, die zugeben müssen, daß sie ihre eigenen Konstrukte nicht mehr verstehen.

Soweit die neue Dimension der KI-Maschinen. Die alte Dimension aber besteht darin, daß diese KI auf fatale Weise zu unserem Spiegel geworden ist. Die ‚Informationen‛, die diese Maschine ‚verarbeitet‛, sind nie durch einen Wahrnehmungs- und Denkprozeß in Auseinandersetzung mit einer realen Welt hindurchgegangen, sondern wurden auf statistische Weise einem vorhandenen, möglichst umfassenden Datenpool entnommen. Im KI-Forscherjargon ist von einem Weltmodell bzw. von einem Sprachmodell die Rede. Texte generierende KI-Anwendungen arbeiten nur auf Basis von Daten, die schon da sind, und erheben keine neuen Daten. Sie haften an dem, was schon da ist, und können also auch nur ,denken‛, was schon da ist. Sie reproduzieren unsere Fehler und können auch nur Lösungen anbieten, die dem vorhandenen Datenpool entsprechen. Mit anderen Worten: sie können nur schon vorhandene Muster reproduzieren, die im Zweifel Muster von Fehlern sind, die dann aber als Fehlerlösung präsentiert werden.

Außerdem verdoppelt und verdreifacht die KI unsere menschliche Fehlerhaftigkeit, da sie die von ihr selbst generierten Daten wieder dem allgemeinen Datenpool einfügt und dann ein zweites, drittes und viertes Mal (Ende offen) entnimmt und erneut ‚verarbeitet‛. Einen alternativen Zugang zur realen Welt hat sie ja nicht.

Martina Heßler führt das spezielle Versagen der KI deshalb auf ihre „statistische Verfahrensweise“ zurück, die „gesellschaftliche Muster fortschreibt“. (Vgl. Heßler 2025, S.203) Statt menschliche Fehler zu begrenzen, potenziert die KI diese Fehler, indem sie den Status quo zementiert: „... der Dualismus von fehlerhaften Menschen und perfekten Maschinen wird damit hinfällig. Menschliche Fehler werden nicht mit KI ausgeräumt.“ (Heßler 2025, S.204)

Einer der fatalsten menschlichen Fehler besteht wohl darin, daß sich das Vertrauen in die Maschine und in den technologischen Fortschritt so tief in das menschliche Bewußtsein eingegraben hat, daß wir nicht mehr in der Lage sind, eine Welt zu denken, deren zu Katastrophen sich steigernden Krisen, die wir wiederum unserer Technikversessenheit zu verdanken haben, anders als wiederum durch Technik gelöst werden können.

Martina Heßler faßt zusammen: „Die gegenwärtigen Versprechungen sind aus der langen Geschichte der Figur fehlerhafter Menschen allzu vertraut. Weiß man um ihre Geschichte, so überrascht die Hartnäckigkeit, mit der die Erwartungen wiederholt werden. Haben sie sich nicht immer wieder als illusionär erwiesen? Gleichwohl verblassen die mit der Figur verbundenen Paradoxien ‒ das Wechselspiel menschlicher und maschineller Unvollkommenheiten, die Spiralen der technischen Aufrüstung und die alltäglichen Mühen des Sisyphus im Maschinenraum ‒ immer wieder hinter den Verheißungen eines maschinellen Modernismus.“ (Heßler 2025, S.195)

Das also ist die neu-alte Dimension der KI-Maschine: sie spiegelt unser Schicksal, wie Sisyphus mit seinem Stein immer wieder ,unten‛ anfangen zu müssen ‒ bei uns selbst.