„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 4. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Beauvoir behauptet, daß es im Existenzialismus um den einzelnen Menschen in seiner konkreten Individualität geht: „Für den Existentialismus hingegen gehen die Werte nicht vom unpersönlichen, universellen Menschen aus, sondern von der Vielzahl konkreter, einzelner Menschen, die sich aus der Situation heraus, deren Besonderheit eben­so vollkommen, ebenso unaufhebbar ist wie die Subjektivität, auf die von ihnen gesetzten Ziele hin entwerfen.“ (Beauvoir 1983/47, S.86)

Das Zwitterdasein als Einzelmensch und als Kollektivatom macht die Doppelsinnigkeit des Menschen aus. Plessner spricht hier von der Doppelaspektivität von Innen und Außen. Unsere Menschlichkeit umfaßt beide Aspekte, aber bezogen auf das Verhältnis des Menschen zur Menschenwelt ist hier eine Entscheidung impliziert, die ihn entweder zu einem moralischen Wesen macht oder zu einem bloßen Mitläufer, der mit seinem Verstand nichts anzufangen weiß und das Urteilen der Gruppe überläßt, der er sich zugehörig fühlt.

Was den Existenzialismus betrifft, dürfte eigentlich klar sein, welche Entscheidung hier ansteht. Dennoch stellt Beauvoir das Individuum immer wieder auf eine Stufe mit dem Kollektiv. Das liegt am politischen Engagement der existenzialistisch empfindenden Generation nach 1945: sie waren fast alle Marxisten und einige sogar Kommunisten, so daß das kollektive Element nicht grundsätzlich von Übel sein durfte. Das zeigt sich auch in den Essays von Simone de Beauvoir. Beide Existenzformen, Individualität und Kollektivität, werden von Beauvoir im umfassenden Sinne als menschlich geadelt, so als wäre das Kollektiv nur eine Weise der Menschen, „sich der Freiheit der anderen und ihrer eigenen Freiheit bewußt (zu sein)“: „Alles vollzieht sich also sowohl im Einzelmenschen wie im kollektiven Geschehen, als ob der Mensch frei wäre.“ (Beauvoir 1983/47, S.89)

So heißt es z.B. vom Proletariat: „... es kann sich ködern lassen, wie das deutsche Proletariat, oder in der ihm vom Kapitalismus zugestandenen langweiligen Bequem­lichkeit einschlafen, wie es dem amerikanischen Proletariat ergangen ist. In allen diesen Fällen wird man sagen, daß das Proletariat Verrat übt: immerhin muß es also frei sein, Verrat üben zu können.“ (Beauvoir 1983/47, S.88) ‒ Wenn Beauvoir hier dem Proletariat die Freiheit zuspricht, Verrat üben zu können, begabt sie es mit einer Kompetenz, die allein dem Individuum zueigen ist.

Beauvoir spricht vom Proletariat, als handelte es sich um ein Individuum. Sie spricht sogar vom „leibhaftig vorhandenen Proletariat“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.88f.), als hätte es einen individuellen Körper, und unterscheidet es so von der „Idee des Proletariats“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.89), als wäre das Proletariat nicht schon immer nichts anderes als bloß eine körperlose Idee gewesen und als wären ihre einzigen historisch-konkreten Ausformungen nicht die einzelnen Proletarierinnen und Proletarier.

Beauvoir entgeht, daß es sich bei dem angeblich bequemen us-amerikanischen oder verräterischen deutschen ‚Proletariat‛ immer bloß um freischwebende kollektive Befindlichkeiten handelt, also um Abstraktionen, die der demagogischen Verführungskraft des organisierten Kapitalismusses nichts entgegenzusetzen haben. Kollektive haben weder ein körperleiblich situiertes, individuelles Bewußtsein noch eine Moral. Das gilt prinzipiell für alle Arten von Kollektiven, kommunistisch, faschistisch, religiös oder woke. Kollektive sind keine Individuen.

Kollektive sind auch nicht der einzige oder auch nur der bevorzugte Ort, wo Menschen zueinanderfinden. Das Problem, wie „vereinzelte() Menschen zueinander finden können“, wird nicht durch eine „Moral der Doppelsinnigkeit“ gelöst. (Vgl. Beauvoir 1983/47, S.86f.) Vielmehr haben wir es mit einem Scheinproblem zu tun, denn nicht die angebliche ‚Vereinzelung‛ ist das Problem. Tatsächlich können nur Individuen zueinanderfinden, denn die wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß sich zwei Menschen gegenseitig als ein Ich erkennen. Dazu aber müssen diese Menschen Individuen sein. Sobald sie also Du zueinander sagen, haben sie einander gefunden. In Kollektiven sehen die Menschen in anderen Menschen immer nur ihr Kollektiv. Wenn sie ‚Du‛ sagen, meinen sie ‚Wir‛.

Daß Kollektivität und Individualität nicht verträglich koexistieren können, kommt auch in der Inkonsequenz zum Ausdruck, mit der Beauvoir mehr um den heißen Brei herumredet, als dieses Thema analytisch zu entwickeln. Hatte sie zunächst „Heldentum“ und „sportliche Leistungen“, also kollektivistische Befindlichkeiten erzeugende Höchstleistungen im Bereich moralischer und physischer Standards, als Realisierungsformen der menschlichen Transzendenz gewürdigt (vgl. Beauvoir 1983, S.191), ergießt sie acht Seiten später ihren Spott über den spießbürgerlichen Stolz „harmloser Bürger“, die sich an Berichten über eine „Ersteigung des Himalaja“ ergötzen: „Dadurch, daß sich ein Mensch mit seinem Geschlecht, seinem Land, seiner Gesellschaftsschicht, mit der ganzen Menschheit gleichsetzt, kann er seinen Garten vergrößern, aber er vergrößert ihn nur durch Worte. Eine solche Gleichsetzung ist nichts als leere Anmaßung.“ (Beauvoir 1983/44, S.199)

So etwas läßt sich nicht einfach so behaupten, ohne daß es auch den transzendentalen Status von Kollektiven in Zweifel zieht. Auch Kollektive sind nichts anderes als eine leere Anmaßung. Dem Satz: „Mein ist vor allem die Verwirklichung meines Entwurfs: ein Sieg ist mein, wenn ich für ihn gekämpft habe.“ ‒ der das Individuum wieder ins Recht zu setzen scheint, widerspricht Beauvoir dann aber gleich wieder in ihrer direkt nachfolgenden Erläuterung: „Der müde Eroberer kann sich der Siege seines Sohnes deshalb erfreuen, weil er einen Sohn nur darum gewollt hat, damit dieser sein Werk fortführt ...“: „Weil meine Subjektivität nicht Reglosigkeit ist, Zurückgeworfensein auf sich selbst, Getrenntheit, sondern im Gegenteil Bewegung auf anderes hin, wird der Unterschied zwischen diesem und mir aufgehoben, und so kann ich anderes mein nennen!“ (Beauvoir 1983/44, S.199f.; Hervorhebungen DZ)

Für Beauvoir ist also die Kollektivierung von individuellen Höchstleistungen Teil der menschlichen Transzendenz. So wird aus der Dyade Vater/Sohn ein Minikollektiv. Dann aber darf sich auch der genannte ‚harmlose‛ Bürger über die Ersteigung des Himalaya freuen, ohne sich in Beauvoirs Augen lächerlich zu machen.

Gerade was das Kernanliegen des Existenzialismusses betrifft, der freie Entwurf oder pathetischer ausgedrückt: die Freiheit, geht es, was das Kollektiv betrifft, um eine grundlegende Entscheidung. Wenn wir geboren werden, dann nicht einfach nur in eine physische Welt, sondern vor allem in eine Lebenswelt. Die Lebenswelt ist die ursprüngliche, kollektive Seinsform des Menschen und zugleich ein Schicksal, aus dem der Mensch wie aus Platons Höhle den Ausgang finden muß. Zwar sind wir immer beides, Kollektivwesen und Einzelmenschen, aber zugleich gilt, daß es den Menschen nicht sowohl als Kollektivwesen wie auch als Individuum gibt. Es gibt hier kein Sowohl-Als auch, sondern nur ein Entweder-Oder.

Der Mensch ist eben nicht immer und unter allen Umständen grundsätzlich frei; gerade auch dann nicht, wo er, wie Sartre meint, „aus freien Stücken“ unfrei ist, und auch dann nicht, wenn er, wie Kant meint, „selbstverschuldet“ unmündig ist. Es ist nur ein dialektischer Trick, ihm in solcher Unfreiheit eine Freiheit zuzusprechen. Der Mensch mag frei sein, wenn er die Chance hat, sich im Moment einer wie auch immer prekären Freiheit für die Unfreiheit zu entscheiden. Dann aber ist er nicht mehr frei und alles weitere geschieht mit ihm so, als wäre er nie frei gewesen.

Die Menschen haben also immer beides in sich, die Freiheit und die Unfreiheit, die Individualität und die Kollektivität. Wenn sie sich Kollektiven unterwerfen, dann weil sie Menschen sind. Wenn sie sich als Individuen zu behaupten versuchen, dann weil sie Menschen sind. Als Angehörige von Kollektiven verlieren sie nicht ihre Menschlichkeit. Wir leben immer in einer Lebenswelt, selbst dann, wenn wir aus der Höhle heraustreten. Das ist es, was Marx mit dem Menschen als „Ensemble“ gesellschaftlicher Verhältnisse gemeint hat.

Unserer Verantwortung als Mensch stellen wir uns erst in dem Moment, wo wir vor der Entscheidung stehen, uns als Individuen zu behaupten. Das ist der Moment unserer „zweiten Geburt“ als Mensch, wie Rousseau es im „Émile“ (1760) nennt. Wenn wir also den Moment des Erwachens ungenutzt lassen und in den kollektiven Schlaf zurücksinken, sind wir im Kantischen Sinne selbstverschuldet unmündig geworden. Dann aber sind wir eben nicht mehr frei. Denn unfrei ist unfrei, auch wenn es selbstverschuldet ist. Offen bleibt nur, welche Chancen sich uns in unserem weiteren Leben noch bieten, diese Entscheidung zu revidieren.

Beauvoir bestätigt das, wenn sie schreibt: „In Wirklichkeit aber läßt sie (die Freiheit ‒ DZ) sich nicht von der Bewegung jener ambivalenten Realität trennen, die man das Dasein nennt, und die nur ist, indem sie sich sein macht; die Freiheit ist nur insofern gegeben, als sie errungen werden muß.“ (Beauvoir 1983/47, S.92; Hervorhebungen DZ)

Mit anderen Worten: wo wir unsere Freiheit nicht zu erringen versuchen, sind wir auch nicht frei! Wir sind nicht gleichzeitig frei und unfrei, als könnte beides nebeneinander koexistieren. Wer in der relativen Freiheit einer rechtsstaatlich verfaßten Demokratie lebt, sich aber nach autoritären Machthabern sehnt, ist unfrei. Und wer in diesem Sinne unfrei ist, ist es nicht einmal mehr „aus freien Stücken“.

Das ist vielleicht das Grundproblem liberaler Demokratien: sie bieten den Menschen kaum Gelegenheit, ihre Freiheit zu erkämpfen, weshalb ihr Bestand immer gefährdet bleiben wird.

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