Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)
1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive
Das existenzialistische, von Heidegger abgeschaute Gerede vom ‚Geworfen sein‛, vom ‚Werfen‛ und vom ‚Entwurf‛, vom Entwurfscharakter des menschlichen Daseins, verdeckt nur den anthropologischen Umstand, daß es die Gefühle sind, die den Menschen nicht ruhen lassen, und daß es die Gefühle sind, die den Menschen in Bewegung setzen. Sie sind auch der Grund, warum das menschliche Bewußtsein als Intentionalität oder mit Schopenhauer als „Wille und Vorstellung“ beschrieben werden muß. Unsere Transzendenz ist es, denken zu können. Nur im Denken hat der Mensch die Freiheit und die Wahl. Aber seine Wahl, sein ‚Entwurf‛ beschränkt sich darauf, welchem seiner Willensstrebungen er Priorität einräumen will, im Bezug auf eine Situation und im Bezug auf sein Leben. Mit ‚Willensstrebungen‛ meine ich alle unsere Gefühle. Ich mache keinen Unterschied zwischen unserem Willen und unseren Neigungen, wie Kant es macht.
Auch Beauvoir grenzt sich vom Kantischen Willensbegriff ab: „Im Unterschied zu Kant halten wir jedoch den Menschen nicht für einen wesensmäßig positiven Willen; im Gegenteil, zunächst bestimmt er sich selbst als Negativität: er nimmt zunächst sich selbst gegenüber Abstand ein, er kann nur dann mit sich übereinstimmen, wenn er bereit ist, sich nie wieder mit sich selbst zu vereinigen.“ (Beauvoir 1983/47, S.98; Hervorhebung DZ)
Beauvoir bezieht sich hier auf Kants Betonung des guten Willens, der sich von unseren Neigungen dadurch unterscheidet, daß er sich dem moralischen Gesetz unterordnet. Weil die Menschen dazu ‚neigen‛, sich Ausnahmen von der moralischen Norm zu gestatten, sind sie ‚böse‛. Wenn Beauvoir entsprechend diesem Gegensatz gut/böse nun zwischen positivem Willen und Negativität unterscheidet, erweckt sie den Eindruck, es könne so etwas wie einen negativen Willen geben. Aber der Wille ist immer positiv. Einen negativen Willen kann es gar nicht geben, weil er nämlich entweder nicht oder nichts wollen würde. Er höbe sich also selbst auf. Außerdem bezieht sie den Willen nur auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und klammert so sein Verhältnis zur Welt aus..
Plessner hingegen beschreibt den Willen allererst als ein Weltverhältnis, der dann, weil er an der Welt scheitert, reflektiert wird. Jetzt erst, als gebrochener Wille, wird er negativ: wir werden uns unserer selbst bewußt. Bevor wir an uns selbst scheitern, scheitern wir an der Welt. Das, was der Existenzialismus den „Entwurf“ nennt, basiert primär auf einem Selbstverhältnis, das von vornherein das Scheitern in seine Entwürfe einbezieht. Aber die Möglichkeit des Scheiterns wird uns erst durch die Erfahrung des Scheiterns bewußt. Diese Erfahrung ist nicht Teil des Willensakts, sondern dessen Resultat in einer Welt, die nicht für uns da ist. Wo Willensakte nicht in erster Linie an der Welt scheitern, bedarf es keiner Entwürfe.
Beauvoir redet von ‚Entwürfen‛, wie ich vom ‚Gefühlshaushalt‛ rede. Ich setze eine Vielzahl von Gefühlen voraus, die ich allesamt als Willensregungen verstehe. Beauvoir spricht aber von einer Vielzahl von Entwürfen, denen ein Wille, in der Einzahl, zugrundeliegt. Um jetzt angemessene Entwürfe für unser Handeln zu finden, müssen wir allererst diesen Willen kennen.
In einem Kontext, in dem es darum geht, wie wir uns einander in einer Liebesbeziehung ,hingeben‛, schreibt Beauvoir: „Aber in diesem Fall müßte man zuerst den Willen des anderen kennen, und das ist nicht so einfach. Jeder Entwurf hat eine zeitliche Dauer und umfaßt eine Vielzahl von Einzelentwürfen. Man muß also zu unterscheiden wissen zwischen jenen Entwürfen, die mit dem Hauptentwurf in Einklang stehen, jenen, die ihm widersprechen, und jenen, die nur zufällig mit ihm verbunden sind ...“ (Beauvoir 1983/44, S.234f.)
Das gilt nicht nur für unseren Umgang miteinander, sondern auch für uns selbst. Alle Menschen müssen sich mit einer Vielzahl von Einzelentwürfen auseinandersetzen, mit denen sie ihr Leben zu organisieren versuchen. Das entspricht dem, was ich den ‚Gefühlshaushalt‛ nenne: wir müssen lernen, zwischen wichtigen Willensregungen und bloßen Launen zu unterscheiden, weil unser Leben zu kurz ist, um uns alle unsere Wünsche zu erfüllen. Beauvoir macht aber den Fehler, bei der Vielzahl von Entwürfen nur von einem einzigen Willen, der den vielen Entwürfen zugrundeliegt, auszugehen. Die Vielfalt der Entwürfe ist nicht der Vielfalt der Möglichkeiten in einer endlichen Welt, sondern allererst der Vielfalt unseres Wollens geschuldet.
Wir müssen also nicht nur verstehen, was unsere Mitmenschen wollen, sondern auch, was wir selbst wollen. In ihrem Essay zu de Sade beschreibt Beauvoir ein Konzept von Intentionalität, das meinem ‚Gefühlshaushalt‛ entspricht: innerhalb einer Vielzahl von Begehrungen, Bedürfnissen und Launen ist die den ganzen Menschen umfassende Grundleidenschaft die Sexualität. Beauvoir zitiert de Sade: „Der sexuelle Genuß ist eine Errungenschaft, die meines Erachtens alle anderen Leidenschaften in sich vereint.“ (Zitiert nach: Beauvoir 1983/55, S.47f.)
Beauvoir fährt fort: „Wie der erste Teil dieses Satzes beweist, ahnt Sade nicht nur bereits das voraus, was Freud später als ‚Pansexualität‛ bezeichnet, sondern er hält auch den Geschlechtstrieb für die eigentliche Triebfeder allen menschlichen Verhaltens; zudem behauptet er im zweiten Teil des Satzes, daß die Sexualität Bedeutungen hat, die über sie hinausgehen; die Libido ist allgegenwärtig, und sie ist stets viel mehr, als sie ist: diese große Wahrheit hat Sade zweifellos zumindest geahnt. Er weiß, daß hinter den ‚Perversionen‛, die der Durchschnittsmensch als moralische Abirrung oder als physiologischen Makel betrachtet, das steht, was man heute als ‚Intentionalität‛ bezeichnet.“ (Beauvoir 1983/55, S.48)
Das Zitat fügt sich nahtlos in mein Konzept vom Gefühlshaushalt ein. Allerdings ist die Libido, die eigentlich nur die Sexualität meint, so dominant sie auch sein mag, ein zu kleines Wort, das nicht alle unsere Motive zu erfassen vermag. Ich spreche hier lieber vom Willen bzw. wie Beauvoir am Schluß des Zitats von ‚Intentionalität‛.
Diese Intentionalität ist ein Sammelbegriff für alle unsere Willensregungen, die wiederum nichts anderes sind als das Gesamt unserer Befindlichkeiten bzw. Gefühle. Um im Rahmen dieses vielfältigen Ensembles dominante und notwendige Empfindungen wie das Begehren und die physiologischen Bedürfnisse (Hunger, Durst etc.) von bloßen Affekten und Launen zu unterscheiden, bedarf es einer Disziplin der Selbstbeobachtung, die es uns ermöglicht, nach und nach herauszufinden, was wir für ein Leben führen wollen. Das Ergebnis einer solchen Selbstbeobachtung ist ein Gefühlshaushalt. Darunter verstehe ich eine Rangordnung und eine Zeitökonomie. Unser Leben ist zu kurz, um es an Launen zu verschwenden, die wir uns oft genug bloß von anderen abgeschaut und übernommen haben.
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