„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Ich schreibe in diesem und in den folgenden Blogposts zu Simone de Beauvoirs Essayband „Soll man de Sade verbrennen?“ keine Rezension, sondern nur Kommentare. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, daß ich in den letzten Jahren nicht mehr den Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit von Rezensionen erhebe, sondern in diesem Fall vor allem damit, daß es mir mit Beauvoirs Essays vor allem um das anthropologische Grundkonzept des Existenzialismusses geht: um den Entwurfscharakter der menschlichen Existenz. Ich gehe deshalb summarisch auf die diesbezüglichen Aussagen der drei Essays ein. Ich diskutiere diese Essays nicht einzeln und nacheinander, sondern suche mir raus, was ich brauche, um meine Position zu schärfen.

Mit ,Entwurf‛ meint Beauvoir eine ambivalente anthropologische Grundbefindlichkeit, wie überhaupt der Begriff der Doppelsinnigkeit ihre drei Essays wie ein roter Faden durchzieht. Ambivalent ist der Wurf als ‚geworfen Sein‛, in diese Welt hinein, die nicht darauf gewartet hat, daß wir in ihr erscheinen, und die auch nicht für uns gemacht worden ist, weil es uns nämlich zuvor gar nicht gegeben hat. Es hat uns auch niemand geworfen. Dieser Wurf ist uns geschehen. Ein Zufallswurf, wie im Würfelspiel, und jetzt sind wir da.

Zugleich aber haben wir die Möglichkeit, selbst zu werfen, uns in Werfende zu verwandeln. Das ist der Entwurf. Daß wir uns auf ein Ziel hin entwerfen können, ist unsere Freiheit bzw. unsere Transzendenz. Wir können den Zufall, das Gegebene, überschreiten. Denn das bedeutet ‚transzendieren‛: überschreiten. Im Entwurf überschreiten wir die Grenzen des Zufälligen und Gegebenen. Existieren heißt transzendieren. Für die Existenzialistin bilden diese Wörter eine Tautologie.

Das ist also das Ambivalente am ‚Entwurf‛: der Mensch ist ein Geworfener und zugleich ein Werfender. An Pyrrhus ‒ ein griechischer Kriegsherr, auf den das Wort vom Pyrrhussieg geprägt wurde, einem Sieg, der zugleich eine Niederlage ist ‒ macht Beauvoir diese Ambivalenz deutlich. Der auf neue Eroberungen ausgehende Pyrrhus wird von seinem treuen Weggefährten Cineas gefragt, ob er nicht lieber zuhause bleiben und ausruhen wolle. Pyrrhus will aber erst noch weiter erobern, bevor er ausruht; immer weiter und weiter. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.195) Beauvoir läßt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite sie steht: „Nicht Cineas, sondern Pyrrhus hat recht. Pyrrhus bricht auf, um zu erobern: möge er das tun.“ (Beauvoir 1983/44, S.226)

Man könnte Pyrrhus und Cineas mit dem Sisyphus von Camus vergleichen. Schon daß der Sieg in Pyrrhus’ größter Schlacht den Keim seiner künftigen Niederlage in sich trug, ist für den Existenzialismus zentral. Denn in allen unseren Entwürfen geht es nicht um die Ziele, die wir mit ihnen verfolgen. Kein Ziel kann den Menschen befriedigen. Kein Ziel, wenn es erreicht ist, kann ihn dazu bringen, innezuhalten. Letztlich ist Pyrrhus ein Sisyphus und unterscheidet sich von Camus’ Sisyphus nur darin, daß er nicht immer nur ein und denselben Stein den Berg hinaufrollt, sondern jedesmal einen anderen. Aber in der Summe sind alle diese Eroberungssteine doch letztlich immer nur ein und derselbe Stein.

Cineas hingegen unterscheidet sich von Sisyphus darin, daß er überhaupt keinen Stein den Berg hinaufrollen will. Aber wäre er dann auch glücklich, so wie es Sisyphus Camus zufolge ist? Vielleicht ja. Vielleicht nicht. Falls er auch glücklich wäre, wäre er es aber grundlos; denn ihm fehlt der Stein. Existenzialistisch ausgedrückt: ohne Stein kein Entwurf. Ohne Entwurf kein Glück. Das Glück aber ist kurz und nur ein Durchgang zu neuen Entwürfen.

Bei Beauvoir läuft in ihren drei Essays immer alles auf dieses fortwährende sich-Entwerfen hinaus. Pyrrhus ‚wirft‛ sich in seine Eroberungen, wie alle Menschen, die sein wollen. Damit distanziert Beauvoir sich auch von Heidegger, für den der Mensch nicht ein Sein im Entwurf, sondern ein Sein zum Tode ist. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.227) Beauvoir hält dagegen: „Aber für mich, der ich lebe, ist mein Tod nicht; mein Entwurf geht durch ihn hindurch, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Es gibt keine Schranke, auf die meine Transzendenz im vollen Schwung stößt; sie erstirbt von selbst, wie das Meer, das an einen flachen Strand anbrandet, innehält und nicht weiter vordringt.“ (Beuavoir 1983/44, S.227)

Das sind wundervolle, geradezu poetische Sätze. Sie erinnern mich an ein Erlebnis vor etwa zwölf Jahren: ein Karatelehrer forderte mich auf, mit der bloßen Hand eine Dachpfanne zu zertrümmern. Als ich aus Angst, mich zu verletzen, zögerte, gab er mir den Rat, mich nicht auf die Dachpfanne, sondern auf einen imaginären Punkt hinter der Dachpfanne zu konzentrieren. Ich folgte seinem Rat und als ich zuschlug, löste sich meine Spannung in einem Schrei. Meine Hand ging mit „vollem Schwung“ durch die Pfanne hindurch, als wäre da kein Hindernis. Zurück blieben die Trümmer der Pfanne.

Schon damals dachte ich, daß man so sterben sollte: sich auf einen imaginären Punkt hinter der Wand des Todes konzentrierend. Was auch immer hinter dieser Wand sein mag: dort brandet unser Leben aus, hält inne und dringt nicht mehr weiter vor.

Ich gebe gerne zu, daß das Zuschlagen und das Ausbranden ein in sich widersprüchliches Bild ergeben. Wenn wir jedoch das Zuschlagen mit der nackten Hand als eine Form des Loslassens verstehen, paßt alles wunderbar zusammen.

Aber nicht nur der Begriff des Entwurfs ist ambivalent. Auch der Begriff der Transzendenz als Überschreitung. In der Regel meint Beauvoir damit das Überschreiten von Grenzen. Wie ambivalent das ist, zeigt sich, wenn sie schreibt: „jedes Sichbedienen ist Überschreitung“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.213) ‒ Im ‚Sichbedienen‛ klingt an, daß wir es beim Überschreiten von Grenzen nicht nur mit einer Befreiung zu tun haben, sondern unter Umständen auch mit einer Grenzverletzung; mit einem Übergriff. Gewalt ist für Beauvoir nicht einfach etwas Negatives. Sie kann etwas Positives sein: die Dachpfanne muß zertrümmert werden.

Beauvoir beschreibt das menschliche Verhältnis zur Welt mit Vokabeln wie Gewalt und Kampf. Mit anderen, weniger konfrontativen Zugängen zur Welt kann sie nichts anfangen, wie sich beispielsweise an ihrer sonderbaren Einstellung zum Genuß zeigt (vgl. Beauvoir 1983/55, S.47f.), worauf ich im dritten Blogpost dieser Reihe nochmal gesondert eingehen werde. Auch mit Paradiesen kann Beauvoir wenig anfangen: „Weil der Mensch Transzendenz ist, fällt es ihm so schwer, sich je irgendein Paradies vorzustellen. Das Paradies ist Ruhe, ist Aufhebung der Transzendenz, ist ein Zustand, der gegeben wird, also nicht zu überschreiten ist. Aber was sollen wir dort nur anfangen? Damit wir es überhaupt aushalten können, müßte dort Raum für Handeln, für Wünsche vorhanden sein, müßten wir das Paradies seinerseits überschreiten können, dürfte das Paradies kein Paradies sein.“ (Beauvoir 1983/44, S.206)

Ist das vielleicht der Grund, warum unsere technische Zivilisation alle Weltregionen, die annähernd paradiesisch anmuten, in Wüsten verwandelt? Die Menschen halten es einfach nicht aus, nichts zu tun. Sie halten es nicht mit sich aus. Deshalb entwerfen sie sich. Deshalb überschreiten sie Grenzen.

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