„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 24. März 2020

Corona-Virus und Spazierengehen

Spazierengehen ist uns noch erlaubt in Coronakrisenzeiten. Und Spazierengehen ist eine nicht zu unterschätzende Tätigkeit, die den Kopf nicht weniger in Anspruch nimmt als unsere Beine.

Marcel Proust beschreibt im ersten Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927: 1979) ausgiebig die Spaziergänge des jungen Marcel in der Ebene von Combray. Einer dieser Spaziergänge wird durch eine Kutschfahrt beendet, auf der er drei Kirchtürme beobachtet. Der junge Marcel hat den Eindruck, daß sich hinter dieser Wahrnehmung etwas verbirgt, das er unbedingt enthüllen muß. Er beobachtet, wie die drei Kirchtürme, die in Wirklichkeit weit auseinanderliegen, scheinbar nahe beieinander stehen. Erst sieht er nur zwei Türme, bis sich dann ein dritter Turm hinzugesellt, und alle drei Türme scheinen sich am selben Ort zu befinden. Tatsächlich gehört aber der dritte Turm zu einer ganz anderen Ortschaft.

Der junge Marcel ist ganz in den Anblick dieser drei Türme versunken. Zugleich aber ist er beunruhigt, weil es ihm nicht gelingt, das Geheimnis dieses Phänomens zu entschlüsseln. Er wähnt sich selbst weit entfernt von diesen drei Türmen, um dann aber nach einer Biegung am Fuße eines Hügels überrascht festzustellen, daß er sich direkt vor den beiden vor ihm aufragenden Kirchtürmen von Martinville befindet.

Als sie wegfahren, schaut der junge Marcel hinter sich und sieht wieder die drei Kirchtürme einträchtig beieinander. Der dritte Turm von Vieuxvicq hatte sich wieder dazugesellt. Der junge Marcel sucht immer noch nach dem Geheimnis dieser Wahrnehmung, die zugleich, wie er ahnt, aufgrund der durch die Kutschfahrt beschleunigten Fortbewegung das Potential hat, das Geheimnis aller seiner vielen anderen Spaziergänge zu enthüllen. Er hat das Gefühl, daß dem Phänomen der drei Türme ein perfekter Satz entspricht, zu dem er noch die Worte finden muß, und er erbittet sich von einem Begleiter Papier und Bleistift. Er beschreibt die drei Türme, den Wechsel der Perspektiven und seine mit dem Perspektivenwechsel verbundenen Empfindungen, und der perfekte Satz wird niedergeschrieben.

Der junge Marcel erlebt das Niederschreiben des Satzes als Triumph:
„Ich dachte niemals an diese Zeilen zurück, aber damals in dem Augenblick, als ich auf der Ecke des Bockes, wo der Kutscher des Doktors gewöhnlich in einem Korb das auf dem Markt von Martinville eingekaufte Geflügel abstellte, sie beendet hatte, spürte ich, daß sie mich so vollkommen von diesen Kirchtürmen und von dem, was sich hinter ihnen verbarg, zu befreien vermocht hatten, daß ich, als sei ich selber ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, mit schriller Stimme zu singen begann.“ (Proust 1979, S.242)
Aber was genau hat sich denn hinter diesen Kirchtürmen ‚verborgen‘? – Der perfekte ‚Satz‘, den der junge Marcel gesucht hatte, gerät ihm schließlich etwas länger und erstreckt sich in mehreren Sätzen mit ihrer linearen Struktur über nahezu anderthalb Buchseiten. Zusammengefaßt meinen sie nichts anderes als den jungen Marcel, der sich selbst in den Bewegungen der drei Türme entdeckt. Marcel Proust hatte ähnlich wie nur wenig später Einstein die Relativität der Phänomene auf ihren Beobachter entdeckt und die dazu passenden Sätze formuliert, als syntaktische Struktur, die das Phänomen beschreibt. Ähnlich wie Einstein in seiner Relativitätstheorie setzte Marcels Satz seine eigene Person zu den Kirchtürmen in ein Verhältnis. In solchen Formeln und Sätzen feiern Struktur und Phänomen Hochzeit.

Aber Marcel Proust geht noch einen Schritt weiter als Einstein. Die Landschaften, die der junge Marcel auf seinen Spaziergängen erlebt, sind nicht da draußen, vor seinen schweifenden Augen, sondern in ihm. Zwar führen Baumaßnahmen in Combray und in der Umgebung von Combray zu Veränderungen in der Landschaft, bis hin zum völligen Verschwinden von Details, die sich dem jungen Marcel eingeprägt hatten. Aber in seiner Erinnerung lebt die damalige Landschaft weiter, solange wie er selbst leben wird. Im Grunde ist die erlebte Landschaft Marcel selbst und deshalb auf sterbliche Weise mit seiner Individualität verschmolzen.

Trotzdem ist das Ergebnis bei beiden dasselbe: Marcels Satz und Einsteins Relativitätstheorie, egal ob als Syntax oder als Formel, beschreiben Menschen, die ihre Bewegung beobachten; mit anderen Worten: Menschen, die spazierengehen.

Samstag, 21. März 2020

Corona-Virus und Toilettenpapier

Es heißt, in Berlin seien Verbkäuferinnen, die sich weigerten, Kunden drei Packungen Toilettenpapier zu verkaufen, bespuckt worden. Muß wohl eine berlintypische Verhaltensform sein. Ich lebe und arbeite auf dem Land, und hier genießen die Verkäuferinnen an den Supermarktkassen spätestens seit der letzten großen Ansprache der Bundeskanzlerin allerhöchste Wertschätzung. Bei meinem letzten Einkauf im REWE letzte Woche forderte mich die Verkäuferin an der Kasse auf, ihr den ‚Müll‘ aus meinem Einkaufswagen zu geben. Ich hatte gerade damit beginnen wollen, die gekaufte Ware einzuräumen, und suchte jetzt irritiert den leeren Drahtkorb nach dem ‚Müll‘ ab, den sie meinte. Ich fragte sie, ob sie vielleicht den einsamen Kassenbon meinte, der da in einer Ecke herumlag.

„Ich gehe mal davon aus, daß er nicht von Ihnen ist!“, sagte sie streng.
„Natürlich“, sagte ich, und da ich den Eindruck hatte, daß das nicht deutlich genug war, schob ich schnell noch eine Erläuterung hinterher:
„Natürlich nicht! – Schließlich beende ich gerade erst meinen Einkauf und habe noch gar keinen Kassenbon, den ich in den Einkaufswagen legen könnte.“

Die Verkäuferin nickte gnädig, nahm den Kassenbonmüll entgegen und wandte sich dann der nächsten Kundin zu: „Man sieht es den Leuten nicht an, daß sie ihren Abfall im Einkaufswagen zurücklassen. Das tun sogar welche, denen man das nie zutrauen würde!“
Die Kundin hinter mir in der Schlange nickte eifrig und sagte etwas, das ich nicht mehr hörte, weil ich jetzt mit dem Beladen und dann mit Bezahlen beschäftigt war, um anschließend so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

Toilettenpapier hatte ich bei diesem Einkauf nicht mehr bekommen. Die Regale waren leergehamstert. Aber ich war ganz froh darüber, denn ich glaube, ohne eine peinliche Gewissensprüfung durch die Verkäuferin wäre ich mit meiner Packung nicht an ihr vorbeigekommen.

Nachdem ich also eine weitere Woche mit dem zur Neige gehenden Vorrat zurechtgekommen war, machte ich gestern noch einmal einen Versuch in dem EDEKA in Neukirchen. Dort vertröstete man mich angesichts leerer Regale auf heute Mittag. Da würde eine Lieferung erwartet, und man hoffe, da sei auch Toilettenpapier dabei.

Heute bin ich dann erstmal zum REWE nach Unterhaun geradelt, um es zunächst dort nochmal zu versuchen. War aber vergeblich. Also fuhr ich nach Neukirchen zum EDEKA. Als ich dort ankam, war ziemlicher Betrieb. Ich traf vor dem Geschäft auch eine Nachbarin und einen Kollegen aus dem Internat. Ein Verkäufer verkündete gerade am Eingang, daß jetzt niemand mehr reingelassen werde, weil das Geschäft voll sei. Mit „voll“ war gemeint, daß alle Einkaufswagen in Gebrauch waren, und nur mit einem Einkaufswagen durfte man rein. Der Gedanke dahinter: die Einkaufswagen sorgen in der Schlange an der Kasse für „soziale Distanz“ zwischen den Wartenden. Ein ganz pfiffiger Gedanke eigentlich.

Ich erzählte meinem Kollegen, daß heute wahrscheinlich eine Lieferung Toilettenpapier eingetroffen sei. Der Kollege erwiderte, er habe bei der Anfahrt Leute mit vier Packungen unter den Armen gesehen. Ein Kunde, der gerade seinen Einkaufswagen auspackte, wollte ihn uns gegen einen Euro überlassen. Der Kollege öffnete sein Portemonnaie und durchsuchte sein Kleingeld. Die Nachbarin hatte ebenfalls ihren Einkauf beendet und überließ mir ihren Wagen; gegen einen Euro selbstverständlich.

So hob also der Austausch von Einkaufswagen und Geld vor dem EDEKA genau die soziale Distanz auf, die dann im EDEKA eben durch diese Einkaufswagen wieder hergestellt wurde. Das gehört zu den Absurditäten der Coronakrise.

Wenigsten habe ich tatsächlich mein Toilettenpapier bekommen. Schon mal eine Krise weniger.

Dienstag, 17. März 2020

Corono-Virus und Digitalisierung

Im Deutschlandfunk hörte ich eine Sendung über Luxemburg. Das kleine Land investiert in eine Weltraumtechnologie, um Rohstoffe, die auf der Erde knapp geworden sind, auf dem Mond und auf Asteroiden abzubauen. Die Vernichtung der irdischen Ressourcen soll also für einen weiterhin ungebremst expandierenden Kapitalismus auf den Weltraum ausgedehnt werden. Bislang hatte ich davon nur in Büchern gelesen. Die Unternehmen – für Star-Trek-Fans: Enterprises – beginnen also allen Ernstes, gefördert von der Regierung von Luxemburg, die dafür nötigen Technologien zu entwickeln. Anstatt alle unsere intellektuellen und kreativen Potentiale auf die Einrichtung einer globalen und regionalen Kreislaufwirtschaft zu richten, geht es wiedermal nur darum, das ständige Wachstum von Profit und Konsum auch für die Zukunft sicherzustellen.

We go to outer space, to save the human race. Aber wie sich aktuell zeigt: ein Virus stellt scheinbar alle Versprechen, die diese Zukunft betreffen, in Frage. Bevor die Flucht in den Weltraum beginnen kann, kollabieren die Globalisierung und alle mit ihr verbundenen Gewißheiten. Der Weltbürger wird in häusliche Quarantäne geschickt.

Was für ein Mensch wird aus dieser Quarantäne hervorgehen? Wird er noch Bargeld in die Hand nehmen wollen? Wird e-learning den Lehrer ersetzen? Wird der Einzelhandel durch die Krise endgültig marginalisiert und Amazon sich als großer Gewinner erweisen? Wird menschliche Nähe künftig durch anderthalb Meter Abstand und durch digitale Kommunikation definiert?

Stellt der Virus also tatsächlich alles in Frage? Ich bin nicht sicher. Es ist seltsam, daß dieser Virus den technologischen Prozeß bestätigt, so als gäbe es zwischen beidem eine klammheimliche Sympathie.

Sonntag, 15. März 2020

Was ich denke – was ich sehe

In „Swanns Welt“ (1913), dem ersten Band von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927: 1979), finde ich eine Textstelle, in der Proust zwischen zwei Formen der Apperzeption unterscheidet: der Apperzeption der Wahrnehmung und der Apperzeption des Lesens. Die Apperzeption der Wahrnehmung beschreibt Proust als eine Trennung zwischen dem Wahrnehmungssubjekt und dem Wahrnehmungsobjekt.
„Sobald ich einen Gegenstand außerhalb von mir wahrnahm, stellte sich das Bewußtsein, daß ich ihn sah, trennend zwischen mich und ihn und umgab ihn rings mit einer geistigen Schicht, die mich hinderte, seine Substanz unmittelbar zu berühren; vielmehr verflüchtigte diese sich jedesmal, wenn ich den direkten Kontakt damit suchte, so wie ein glühender Körper, den man an etwas Feuchtes hält, niemals die Feuchtigkeit selbst berührt, weil dazwischen immer eine Dunstzone liegt.“ (Proust 1979, S.115)
Die trennende geistige Schicht, also Kants „Ich denke“, beschreibt Proust mit Bezug auf das Lesen als einen „Schirm“, bei dem man durchaus an eine Kinoleinwand, den Bildschirm eines Fernsehers oder an den Monitor eines Computers denken kann. Beim Lesen eines Buches werden die fiktiven Ereignisse direkt auf diesen Schirm bzw. in diese „Dunstzone“, also in unser Bewußtsein, drauf- bzw. hineinprojiziert, so daß die Trennung zwischen Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsobjekt wieder aufgehoben wird und an die Stelle des „Ich denke“ ein „Es denkt“ tritt; jemand anderes als ich, nämlich der Autor oder der Regisseur. Die erfundenen Gegenstände verschmelzen mit unserem inneren Erleben, und die Differenz des Realen wird aufgehoben.
„Was spielt es nun noch für eine Rolle, ob die Handlungen und Gefühle dieser Wesen einer ganz neuen Art uns als wahr erscheinen, da wir sie ja zu den unsern gemacht haben, da sie sich in uns abspielen und, während wir fieberhaft die Seiten des Buches umblättern, die Schnelligkeit unserer Atemzüge und die Lebhaftigkeit unseres Blicks sich ganz nach ihnen regeln muß.“ (Proust 1979, S.117)
Wenn also Kants transzendentale Apperzeption, das zwischen mir und dem Gegenstand trennende „Ich denke“ unserer Wahrnehmung, die Inbesitznahme des Gegenstandes durch das Subjekt ermöglicht, so nimmt die narrative Apperzeption der Lektüre / des Films uns in Besitz. Statt unser Denken zu den realen Gegenständen treten die erfundenen Gegenständen zu unserem Denken hinzu und ‚denken‘ uns. Die Aufhebung der Trennung kehrt die Inbesitznahme um.
„Wenn uns der Verfasser erst einmal in diesen Zustand versetzt hat, in dem wie bei allen rein innerlichen Vorgängen jedes Gefühl verzehnfacht ist, und bei dem sein Buch uns nach Art eines Traumes bewegt, eines Traumes jedoch, der klarer ist als unsere Träume im Schlaf und auch in unserem Gedächtnis besser haften bleibt, so läßt er eine Stunde lang alles Glück und Leiden auf uns los, das es überhaupt gibt, und wovon wir im Leben selbst in Jahren nur einige Formen kennenlernen könnten ...“ (Proust 1979, S.117)
Es geht mir heute noch so, daß ich von Landschaftsbeschreibungen oder Bildern oder von fiktiven Menschen und Ereignissen stärker ergriffen werde als von meinen realen Wahrnehmungen. Reale Menschen und reale Landschaften bleiben mir meistens gleichgültig. Die Distanz des „Ich denke“ läßt sie nicht nah genug an mich heran, als daß ich von ihnen ergriffen werden könnte. Phänomenologisch ausgedrückt könnte man sagen: es kommt auf den Vollzug an und nicht auf die Apperzeption.

Was Bücher, Filme oder Bilder betrifft, führt das zu einer gefährlich unkritischen Haltung: der ‚Autor‘ hinter den Bildern erhält in der Dunstzone freie Hand, uns sehen zu lassen, was er will. Aber dieselbe Dunstzone kann auch zur rettenden Dunstschicht werden, wie Jules Verne in „Der Kurier des Zaren“ (1876) zu berichten weiß: das glühende Schwert des Henkers kann die Tränenwolke nicht durchdringen, und Michael Strogoffs Sehkraft bleibt erhalten.

Samstag, 14. März 2020

Corona-Virus – eine Chance?

Der Corona-Virus hat geschafft, was kein Klimaforscher, kein Klimaaktivist und keine Friday-for-Future Demonstration geschafft hat: das Wirtschaftswachstum auszubremsen und den fossilen Rohstoffverbrauch zu reduzieren. Das ist zwar nur ein viraler Effekt, aber vielleicht bringen wir es als homo sapiens ja fertig, diese Chance zu nutzen und bestimmte neue Verhaltensregeln beizubehalten? Mit dem Verzicht auf Reisen und dem Verzicht auf Großveranstaltungen geht ein Konsumverzicht einher, den wir generell auf alles ausdehnen könnten, was wir für ein sinnvolles Leben nicht brauchen. Und sinnvoll ist allererst ein Leben, das Rücksicht auf das Wohlergehen anderer Menschen nimmt, also in diesem Fall gesundheitlich angeschlagene und alte Menschen. Könnten wir in diese Rücksicht nicht einfach noch die künftigen Generationen auf einem bewohnbaren Planeten mit einschließen?

Dabei sollten wir nicht die reflexartigen Reaktionen in der Politik beachten, die bei Kurzarbeitergeld etc. vor allem an die schnellstmögliche Fortsetzung des Wirtschaftswachstums nach der Corona-Krise denken. Vollbeschäftigung und ein gutes Leben sind auch ohne Wirtschaftswachstum möglich.

Montag, 9. März 2020

Stärke und Schwäche

Wenn ich mir überlege, in welchen allgemein-menschlichen Antrieben das Mobbing-Verhalten seine Wurzeln hat, so fällt mir zuerst Jean-Jacques Rousseaus „Émile“ (1760) ein, in dem er das Gefühl der Schwäche als Motor der kindlichen Entwicklung beschreibt. Das Kind ist schwach, und deshalb will es stark sein, und es erprobt seine Kräfte an seiner natürlichen und sozialen Umwelt. Indem das Kind seine Kräfte erprobt, entdeckt es sie zugleich auch und bringt sie zur Entfaltung. Mit andern Worten: es entwickelt sich.

Im Alter von 10 und 11 Jahren – sofern es nicht durch die soziale Umwelt Bedürfnisse entwickelt hat, die nicht altersgemäß sind –, bevor die Pubertät eintritt, ist das Kind am glücklichsten, weil es in diesem Alter keine Bedürfnisse gibt, die es nicht aus eigener Kraft befriedigen könnte.

Ich habe vor einiger Zeit zwei Jungen in diesem Alter beobachtet, die einen doppelt so großen, lang und schlacksig in die Höhe geschossenen Teenager vor sich her jagten und ihm irgendwelche Spöttereien hinterherriefen. Schließlich gelang es dem Teenager, seinen Peinigern im Gebüsch am Rande eines Teiches zu entkommen. Dann kam eine Frau dazu – vielleicht die Mutter oder auch nur eine Bekannte der beiden Jungen – und fragte sie, warum sie das machen. Und einer der beiden antwortete lachend: „Das macht Spaß!“

Die beiden Jungen zeigten nicht das geringste Unrechtsbewußtsein. Sie hatten die reinste Freude an ihrer Überlegenheit über den Teenager. Ist das schon Mobbing? Ich glaube nicht. Zum Mobbing gehört ein Gefühl der Mißgunst, der Bosheit. Und dem eigentlichen Mobbing geht beim Täter meist die Erfahrung eigener Erniedrigung voraus, aus der wiederum ein dauerhaftes Gefühl eigenen Ungenügens hervorgeht. Für solche Empfindungen sind vor allem Jugendliche besonders empfänglich. In der Pubertät schließt das Gefühl eigener Minderwertigkeit nahtlos an die mit der Erprobung und Entwicklung von Potentialen verbundene Skrupellosigkeit in der Kindheit an – die jetzt aber nicht mehr entwicklungsgemäß ist –, um sich an der ‚Schwäche‘ anderer zu ergötzen.

Bei den beiden Jungen konnte ich keinerlei Mißgunst erkennen. Sie waren einfach glückliche Kinder. Das wird aber nicht lange angehalten haben, denn sie standen kurz vor dem Eintritt in die Pubertät und würden bald selbst zu Teenagern werden. Und dann erst würde sich zeigen, was für Menschen sie würden.

Rousseau nannte die Pubertät die zweite Geburt des Menschen, und er glaubte, daß es nur zweierlei sei, was den jungen Menschen davor bewahrt, den falschen Weg einzuschlagen: die Gewohnheit, selbst zu denken, und das Mitleid. Beides aber, so Rousseau, gehört zu den Stärken des Kindes, die es, als Kompensation für die fehlende Moralität, entwickeln muß, bevor die Pubertät beginnt.

Für das Jugendalter hatte Rousseau die eigentliche soziale Entwicklung des jungen Menschen angesetzt, in der die vorwiegend egoistischen Bedürfnisse des Kindes durch soziale Bedürfnisse ergänzt und durch Liebe transformiert werden. Die Chancen für eine solche Entwicklung schätzte Rousseau aber gering ein, wenn sie nicht von den Gaben der Kindheit, dem Gebrauch des eigenen Verstandes und dem Mitleid, unterstützt werden.

Als Anmerkung zum gestrigen Weltfrauentag möchte ich hier darauf hinweisen, daß ich an der mißlingenden Transformation unserer kindlichen Bedürfnisorganisation in der Jugendphase die zugleich subjektiven wie anthropologischen Voraussetzungen für die verschiedenen Formen von Sexismus und von Rassismus festmache. Sie ist mitverantwortlich für die sich Generation für Generation erneuernde patriarchale Struktur von Gesellschaften, die so viele günstige Gelegenheiten für die Kompensation sich durchhaltender Minderwertigkeitsempfindungen bieten.

Es mag als verwunderlich erscheinen, wenn ich mit Rousseau von der Skrupellosigkeit bzw. Amoralität der Kindheit spreche, zugleich aber, ebenfalls mit Rousseau, das Mitleid als ein spezifisches Merkmal der kindlichen Entwicklung bezeichne. Aber das Mitleid ist kein moralisches Gefühl. Es ist ähnlich amoralisch wie die anderen kindlichen Bedürfnisse und tritt spontan und willkürlich auf. Mit bestimmten Lebewesen, Tieren oder Menschen, haben Kinder spontan Mitleid, während sie gleichzeitig andere, Tiere oder Menschen, grausam quälen.

Das Mitleid bildet für Rousseau aber eine Gelegenheit des Perspektivenwechsels, die man erzieherisch nutzen kann, um das Kind auf die Anfangsgründe der menschlichen Moral aufmerksam zu machen. Der auf Einzelfälle begrenzte Perspektivenwechsel des Mitleids kann verallgemeinert werden und so zu einer echten Moralität führen.

Rousseaus Entwicklungsprinzipien der Schwäche und der Stärke bilden eine unmittelbare Antwort auf John Lockes Pädagogik der Scham und des Stolzes. Locke wollte das Kind beschämen, um es dahingehend zu manipulieren, daß es nur das denkt, was der Erzieher denkt. Das Kind darf bei Locke keinen eigenen Willen und keinen eigenen Verstand entwickeln.

Ganz anders hingegen Rousseau. Das Kind ist bei seiner Geburt und lange danach so schwach, daß man es bei seinen Versuchen, größer und stärker zu werden, unterstützen muß, anstatt es durch systematische Beschämung in dieser Entwicklung auszubremsen. Es soll lernen, seine eigenen Stärken zu entwickeln, allen voran den eigenen Verstand.

Neben den vorwiegend egoistischen Bedürfnissen des Kindes ist es nun aber gerade das Mitleid, das den kindlichen Verstand für eine soziale Entwicklung im Jugendalter öffnen und darauf vorbereiten kann. Mit Hilfe des eigenen Verstandes kann das Kind erste Moralbegriffe finden, die über das bloße Mitleid hinausgehen. Gehen auf diese Weise Verstandesentwicklung und Mitleidserfahrungen Hand in Hand, kann die Pubertät, also die erneute Schwächung des jungen Menschen durch bis dahin unbekannte biologische und soziale Bedürfnisse nicht mehr so viel Schaden anrichten, sondern sie kann die Chance zu einer weiteren Entwicklung bilden, als zweite Geburt des Menschen.

Rousseaus Entwicklungsmodell war für mich immer eine Hilfe gewesen, das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu verstehen. Dabei interessiert mich weniger die sachliche Richtigkeit dieses Modells, als vielmehr das gedankliche Potential, das es bietet. Ich erkenne Rousseaus Modell in anderen Entwicklungsmodellen von Piaget, Kohlberg und Eriksen wieder. Ich gehe davon aus, daß sie alle von Rousseaus Gedanken profitiert haben. Aber sie alle haben für mich nicht das gedankliche Potential des Originals.

PS (10. März 2020): Gegen meine Einschätzung der beiden Jungen in der von mir beschriebenen Szene könnte man einwenden, daß es trotz des Spaßes ein Opfer gegeben hat und deshalb auch von Mobbing gesprochen werden müsse. Aber wir haben es hier dennoch mit einem bemerkenswerten Phänomen zu tun, bei dem wir entscheiden müssen, ob wir diesen Begriff darauf anwenden wollen. Immer wieder bekomme ich von Schülern, die ich bei einem Mobbingverhalten erwische, die Antwort: „Das war doch nur Spaß!“ – Dabei schwingt ein Ton mit, den ich nicht sehr spaßig finde. Ich höre aus dieser schnell, allzu schnell, zurechtgelegten Verteidigungsstrategie eine Bosheit heraus, die ich dem Mobbing zuordne, weil sich mir hier der Eindruck aufdrängt, daß sie letztlich doch genau wußten, was sie dem Opfer da gerade antaten.

Diese Verteidigungsstrategie habe ich bei den von mir beschriebenen beiden Jungen nicht herausgehört. Es macht einen Unterschied, ob jemand sagt: „Das macht Spaß!“, und sich damit uneingeschränkt zu diesem Spaß bekennt, ohne den geringsten Gedanken an das Opfer zu verschwenden, oder ob jemand sofort in eine Verteidigungshaltung hineinrutscht und sagt: „Das war doch nur Spaß!“, und damit implizit nicht nur eingesteht, daß es hier ein Opfer gegeben hat; man hat auch den Eindruck, daß es bei diesem ‚Spaß‘ vor allem auf dieses Opfer angekommen war.

Man könnte auch sagen, wir haben es beim echten Mobbingverhalten, ähnlich wie beim kindlichen Mitleid, mit einem Perspektivenwechsel zu tun; aber im Unterschied zum kindlichen Mitleid empfinden die Täter an diesem Perspektivenwechsel Vergnügen. Wer aber ein das eigene Minderwertigkeitsgefühl kompensierendes Vergnügen am Opferstatus eines anderen Menschen empfindet, ist für den moralischen Gehalt eines Perspektivenwechsels blind geworden und hat aufgehört, sich zu entwickeln.

Hinsichtlich des Verhaltens besteht kein Unterschied zwischen den von mir beschriebenen beiden Jungen einerseits und dem Mobbingverhalten von Jugendlichen und Erwachsenen andererseits; vor allem nicht für das Opfer. Aber hinsichtlich der Phänomenologie gibt es diesen Unterschied durchaus. Und dieser feine Unterschied ist es, der für mich entscheidet, ob es Mobbing war oder nicht.

PPS (23. Juni 2020): Michael Tomasellos neues Buch „Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese“ (2020) ist für mich ein Anlaß, hier nochmal kurz auf die Gültigkeit des Rousseauschen Entwicklungskonzepts einzugehen. Jean-Jacques Rousseaus Entwicklungskonzept des Kindes beinhaltet zwei Phasen bis zur Pubertät, mit der die dritte Phase, das Jugendalter, beginnt. Die erste Phase ist die des Säuglings bzw. der Natur, in der die organischen Fähigkeiten des Saugens, des Weinens, des Sehens ausgebildet werden und in der sich allmählich Fähigkeiten des Greifens mit den Händen und die Beherrschung der übrigen Extremitäten entwickeln.

Die zweite Phase ist die des mobilen Kindes, das Alter, in dem das Kind vor allem von den Dingen lernt; den Dingen der natürlichen und der artifiziellen Umgebung. Im Alter der reifen Kindheit, zwei bis drei Jahre vor der Pubertät, ist dann das Kind so weit entwickelt, daß es seine Umgebung weitgehend beherrscht. Es ist in allen seinen Bedürfnissen autonom und bedarf keiner Hilfestellung durch die Erwachsenen mehr.

Erst mit dem Eintritt in die Pubertät entwickelt der jetzige Jugendliche Bedürfnisse, die ihn wieder von anderen Menschen abhängig machen. Es beginnt das Alter des kulturellen und sozialen Lernens. Die ganze Kindheit über war das Kind ein asoziales Wesen, das ausschließlich an der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse ausgerichtet gewesen ist. Jede Einmischung des erwachsenen Menschen in die natürliche Entwicklung des Kindes bewertete Rousseau als Übel, weil sie das Kind daran hinderten, mit seinen Fähigkeiten bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu wachsen.

In Michael Tomasellos neuem Buch „Mensch werden“ wird ein zu Rousseau in allem gegenteiliges Konzept der frühen Ontogenese vertreten. Ab dem neunten Lebensmonat ist das kleine Kind völlig auf die Kommunikation mit erwachsenen Menschen angewiesen und ab dem dritten Lebensjahr geht der Erwerb von Fertigkeiten und Wissen zum überwiegenden Teil auf den ‚Unterricht‘, also auf die kulturelle Vermittlung der Erwachsenen zurück, und nur ein ganz geringer Teil ist auf die individuellen Erfahrungen des kleinen Kindes zurückzuführen. Das soziale und kulturelle Lernen ist für das kleine Kind nicht etwa schädlich, sondern überlebensnotwendig, und es hat sogar eine biologische Reifungskomponente. Das kleine Kind ist also nicht etwa asozial, wie Rousseau meinte, sondern von Natur aus sozial. Tomasello geht sogar so weit, Konformität mit der Gruppe zu einem herausragenden Merkmal dieses Lebensalters zu machen, ohne aber dabei zu klären, wo die altersgemäßen und sozialen Grenzen dieser Konformität liegen könnten.

Genau diese Konformität mit der Gruppe ist für Tomasello das Kriterium, nach dem ihm zufolge schon „(s)echs- bis siebenjährige Kinder ... in das ‚Alter der Vernunft‘“ eintreten:
„In vielen (gewiss nicht in allen) Situationen denken die Kinder in diesem Alter nicht nur, sondern wissen auch, was sie denken, und sogar, was und wie man von ihnen erwartet, dass sie von einem normativ rationalen Standpunkt aus denken sollen. Das ermöglicht den Kindern dieses Alters zum ersten Mal, ihren Kopf mit einem Gleichaltrigen zusammenzustecken, um Dinge zu erwägen, Probleme so zu lösen, wie es für sie allein unmöglich wäre.“ (Tomasello 2020, S.270)
Dabei idealisiert Tomasello die Gruppen, zu denen sich diese sechs- bis siebenjährigen Kinder als „ebenbürtige() Gleichaltrige()“ zusammenfinden, unter denen „niemand eine Führungsrolle spielt“. (Vgl. Tomasello 2020, S.264) Also alles wunderbare kleine Erwachsene; erwachsener als viele große Erwachsene, die man so kennt. Nirgendwo ein Schimpanse.

Hatte also Rousseau Unrecht? Wenn man sich die Fülle der von Tomasello vorgelegten anthropologischen Daten anschaut, ist das wohl so. Aber diese Frage ist falsch gestellt. Man sollte sich besser fragen, vor welchem Hintergrund Rousseaus Entwicklungskonzept Sinn macht und welche ontogenetischen Phänomene von Tomasello nicht berücksichtigt werden.

Rousseau hat die Beobachtung gemacht, daß Kinder in den Städten, in denen sie aufwuchsen, vielfältigen schädlichen Einflüssen der Erwachsenengesellschaft ausgesetzt waren. Bevor sie überhaupt Kinder sein konnten, entwickelten sie schon lange vor der Pubertät die Bedürfnisse von Erwachsenen. Und bevor sie moralische Kompetenzen entwickeln konnten, orientierten sie sich an der Gier und der rücksichtslosen Konkurrenz der Erwachsenen um Prestige und Wohlstand.

Bei den Kindern auf dem Land beobachtete er hingegen, daß sie, bevor die Pubertät viel zu früh eintrat, die Chance hatten, Kinder zu sein, was für Rousseau bedeutete, ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse auszuleben. Deshalb setzt bei Rousseau die eigentliche Pädagogik erst mit der Pubertät ein. Erst jetzt, mit dem Einsetzen neuer biologischer und sozialer Bedürfnisse, werden Vernunft und Moral zu einem notwendigen Bestandteil der Entwicklung des Jugendlichen. Erst jetzt machen pädagogische Maßnahmen einen Sinn. Hier beginnt das eigentliche soziale und kulturelle Lernen. Rousseau nannte das die zweite Geburt des Menschen.

Tomasello konzentriert sich so sehr auf die frühe Ontogenese der ersten sieben Lebensjahre, daß er die spätere Entwicklung des Menschen aus dem Blick verliert. Der Mensch erklärt sich für ihn vollständig aus den ersten sieben Lebensjahren. Damit verfehlt er aber genau das, worum es eigentlich gehen sollte: um „Mensch“ zu „werden“, bedarf es eines ganzen Menschenlebens. Und dabei ist Konformität nicht nur eine Bedingung, sondern auch eine Gefährdung.

PPPS (17. Oktober 2020): Meute und Mob haben dieselbe etymologische Wurzel: movitas und mobilis. Beides bedeutet ‚Bewegung‘ und gemeint ist ‚Erregung‘. Allerdings entspricht die ‚Meute‘ mehr dem, was mit Mobbing gemeint ist: die Jagd auf ein Opfer, einen Fuchs oder einen Hasen, und das gemeinsame Zerreißen des Opfers. Obwohl ‚Mobbing‘ direkt von Mob bzw. mobilis abgeleitet ist, fehlt dem Mob noch die Gerichtetheit; er ist gewissermaßen noch offen für jedes mögliche Opfer seiner Vernichtungswut.

Ich bin bei Elias Canetti auf das Wort ‚Meute‘ gestoßen. (Vgl. „Masse und Macht“ (1960)) Allerdings hält Canetti die Meute nicht für etwas prinzipiell Negatives. Er glaubt, neben einer Jagd-, Klage- und Vermehrungsmeute so etwas wie eine „Erwartungsmeute“ beschreiben zu können, die er mit der christlichen Kommunion vergleicht. Das ist absurd, und ich will hier deshalb auch nicht näher darauf eingehen. Auch die Masse hält Canetti für ein anthropologisches Phänomen, dem er etwas Positives abgewinnen kann: sie trägt, so Canetti, dazu bei, die Berührungsangst zwischen den Menschen aufzuheben. Daß mit der Aufhebung dieser Berührungsangst eine Auflösung der menschlichen Individualität einhergeht, ficht ihn da nicht weiter an.

Klaus Theweleit hat in seinem Buch „Männerphantasien“ (1977/78) Canettis positiven Massebegriff übernommen. Auch er hat ein Problem mit dem Individuum, das sich gegen eine Auflösung in das ozeanische Strömen und Fließen sperrt. Theweleit ergänzt Canettis Massebegriff um den negativen Begriff einer faschistischen Masse: die Masse als Formation, also geordnete Kolonnen, die zum Appel aufmarschieren. Aber die andere, die auflösende Masse, findet er begrüßenswert.

Aber die Masse gibt es nur als Mob bzw. als Meute. Und daran ist nichts Erfreuliches. Wo sie als etwas Positives gefeiert wird, wie z.B. auf den Zuschauerrängen bei sportlichen Wettkämpfen, bildet das Umschlagen in eine hemmungslose Meute ein ihr inhärentes Potential.

(Vgl. hierzu auch „Abschließendes zu Tomasello“)
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Dienstag, 3. März 2020

Gegen sich selbst

Im Römerbrief finde ich einen Satz von anthropologischer Gültigkeit: „(E)s ist keiner, der verständig ist; es ist keiner, der Gott mit Ernst sucht; alle sind abgewichen; sie sind alle zusammen unnütz geworden; es ist keiner, der Gutes tut, es ist auch nicht einer.“ (Röm. 3, 11-12)

Dieser Satz gilt auch unter der Voraussetzung, daß Gott tot ist, und er bildet die anthropologische Grundlage für Nietzsches Konzeption vom Übermenschen: es gibt den Menschen noch nicht; er wird erst noch.

Tagtäglich beobachte ich dieses Phänomen als Pädagoge an einem Internat. Immer wieder wiederholt sich ein auf ein zutiefst gestörtes Innenleben hinweisendes Verhalten: Mißachtung und Mobbing. Mobbing ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel an allen Schulen, so weit ich das beurteilen kann. Und ich denke sogar, daß wir es hier mit einer anthropologischen Struktur zu tun haben, die – unabhängig von historischen Umständen und ökonomischen Krisen – auch die Grundlage für Sexismus, Fremdenhaß und Rassismus bildet, denen die Menschen alltäglich überall auf der Welt zum Opfer fallen.

Mobbing und Rassismus sind wesensverwandte Phänomene, und ich denke, daß der Rassismus nur eine stereotype Form des Mobbing bildet, das ‚universeller‘ anwendbar ist, weil es in gewisser Weise ‚kreativer‘ bei der Wahl der Opfer ist und im Unterschied zum eigentlichen Rassismus jeden treffen kann. Immerhin: dem Mobbing können wir entkommen, indem z.B. Schüler die Schule irgendwann verlassen oder Erwachsene die Arbeitsstelle wechseln oder mißhandelte Frauen können ihre Männer verlassen. Vom Rassismus betroffene Menschen können der Situation nicht so einfach entkommen; in dieser Hinsicht ist wiederum der Rassismus universeller.

Zurück zum Übermenschen: ich glaube, daß Nietzsches Konzeption vom zugrundegehenden Menschen übersieht, daß die scheinbare Minderwertigkeit des Menschen ein notwendiges Übel ist und in unserer Bedürfnisorganisation verankert ist. Die Menschen können ihre Bedürftigkeit nicht einfach abstreifen wie einen Mantel. Sie sind ihr vielmehr unrettbar ausgeliefert. Aus ihrer Bedürftigkeit heraus werden sie zu Mobbern und Rassisten. Indem die Menschen mit ihren Bedürfnissen täglich scheitern, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich ihrer Bedürftigkeit, dem ganzen Elend ihres Daseins zu stellen. Und viele Menschen scheitern auch dabei. Sie laden ihr eigenes Elend auf den Schultern anderer Menschen ab, um sich nicht mit der eigenen Minderwertigkeit auseinandersetzen zu müssen.

Die Menschen neigen in ihrer Schwäche also zu Ersatzhandlungen. Diese bilden den eigentlichen Inhalt ihrer Kulturgeschichte. Dennoch ist es gerade diese Bedürftigkeit, diese Minderwertigkeit, in der sich der Mensch als Mensch in der Fülle seiner Menschlichkeit verwirklicht. Der Mensch, der sich angesichts seiner Bedürftigkeit als Mensch verwirklicht, ist und bleibt ein Mensch. Er ist kein Übermensch. Diese Selbstverwirklichung ist keine Erlösung, keine endgültige Befreiung. Bis zu unserem Tod bleiben wir fehlbare Menschen. Und wenn wir tot sind, sind wir tot.

Die Selbstverwirklichung des Menschen besteht darin, das Elend seiner Bedürftigkeit in Liebe zu verwandeln.

Was aber meint der Apostel Paulus, wenn er feststellt, daß kein Mensch „verständig“ sei und daß alle von Gott „abgewichen“ seien? – Er meint, daß es das ‚Fleisch‘ sei, das uns zur ‚Sünde‘ verführt.

Was aber ist das ‚Fleisch‘? – Es ist unser Begehren, das sich nach Erfüllung sehnt.

Womit sollen wir aber das fleischliche Begehren überwinden? – Mit der Macht der Liebe.

Im christlichen Denken ist die Liebe eine Pflicht, ein höchstes Gebot, das über allen anderen Geboten steht. Es ist deshalb wichtig, darauf zu beharren, daß Liebe aus anthropologischer Sicht allererst ein Bedürfnis ist und kein Gebot. Sie ist Teil unseres Begehrens. Unser ganzes Begehrungsvermögen bildet eine Mannigfaltigkeit aus Bedürfnissen und Trieben, und diese können eine ganz verschiedene Gestalt annehmen. Wie sich diese Bedürfnisse insgesamt organisieren, darauf kommt es an. ‚Liebe‘ bildet nur eine mögliche Gestalt unserer Bedürfnisorganisation. Man kann diese im christlichen Sinne zur Pflicht machen. Aber sie ist keine Pflicht, sondern eine Form unseres Begehrens. Sie selbst ist ein Bedürfnis!

Wer meint, die Liebe – insbesondere in Form der Feindesliebe – zur Pflicht machen zu müssen, richtet den menschlichen Willen gegen sich selbst. Das Gebot der Feindesliebe richtet den Willen gegen sich selbst und verhindert so, daß wir selbst das wollen, was wir wollen dürfen, und das begehren dürfen, was uns als begehrenswert erscheint. Die Feindesliebe deklassiert alle anderen Formen der Liebe, weil sie als ‚schwach‘ gelten; als ‚fleischlich‘.

Letztlich macht ein Liebesgebot, also eine ‚Liebe‘, die unserem Begehrungsvermögen widerspricht, genau das, was den Kern dieses Begehrungsvermögens ausmacht, zu etwas Minderwertigem: das Fleisch!

Es geht aber nicht darum, das Fleisch zu verdammen, sondern darum, es zu ‚erlösen‘. Es geht darum, aus dem Begehren etwas zu machen, das nicht erniedrigt, nicht verletzt und nicht mißbraucht. An die Stelle der Gier soll Liebe treten. Aber nicht als Gebot, sondern als eigentlichste Erfüllung unserer Bedürfnisse und Begehrungen.

Wenn jemand irgendjemanden zum Gegenstand seiner Willkür macht, wie beim Mobbing, so ist er der Feind. Man muß ihn nicht hassen. Man kann ihn auch bedauern, insofern er sein Elend dadurch nur vergrößert, anstatt es zu verringern. Aber lieben muß man ihn nicht.

Sonntag, 1. März 2020

Verschiebung

Wenn ich über Formeln und Technologien und ihre Beziehung zur Wirklichkeit nachdenke, frage ich mich, ob hier nicht so etwas wie eine ‚Verschiebung‘ stattfindet. Einerseits partizipieren die Technologien an den Naturkräften und wir nutzen sie für unsere Zwecke. Andererseits aber reduzieren wir die Wirklichkeit auf diese Zwecke und schaffen eine künstliche, zur Wirklichkeit verschobene Welt, in der die Naturprozesse zwar ihren Verlauf nehmen, aber nur wie in einem Kanal, anstatt in ihrem natürlichen Flußbett. Die technologisch gebändigten Naturprozesse verlaufen parallel zur natürlichen Wirklichkeit und ihre kanalisierte Wirkungsweise erzeugt eine Kontrollillusion.

Die technologisch gebändigten Naturprozesse haben eine Tendenz, aus der Verschiebung, in die sie hineingezwungen werden, auszubrechen und in ihr natürliches Wirkungsfeld zurückzukehren. Die durch Formeln und Technologie ermöglichte Verschiebung erzeugt also eine fortwährende Spannung zwischen der Ordnung, die durch Formeln abgebildet wird, und der Naturordnung.

Die Verschiebung, die wir selbst sind, als exzentrisch positionierte Wesen, haben wir auch der Naturordnung aufgezwungen, obwohl sie im wesentlichen zentrisch organisiert ist. Die Natur kennt keine Negation. Wenn es regnet, regnet es. Wenn es nicht regnet, scheint die Sonne oder es ist bloß wolkig; aber es gibt keinen Zustand, der als Nicht-Regen gekennzeichnet werden könnte. Nur der Mensch kann feststellen, daß es nicht regnet und dabei an einen Regen denken, der nicht fällt.

So wie wir neben uns stehen, haben wir zur Naturwelt eine Nebenwelt geschaffen, eine verschobene Welt, die gelegentlich noch an die Naturwelt erinnert, eine Nicht-Welt. Doch die Naturkräfte sind noch wirksam, auf technische Weise. Und die Naturwelt wird sich auf positive Weise in Erinnerung bringen. ‚Positiv‘ im medizinischen Sinne, wo ja Gesundheit auch negativ, als Abwesenheit von Krankheit, diagnostiziert wird. Der Befund wird nicht erfreulich sein.