„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 24. März 2020

Corona-Virus und Spazierengehen

Spazierengehen ist uns noch erlaubt in Coronakrisenzeiten. Und Spazierengehen ist eine nicht zu unterschätzende Tätigkeit, die den Kopf nicht weniger in Anspruch nimmt als unsere Beine.

Marcel Proust beschreibt im ersten Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927: 1979) ausgiebig die Spaziergänge des jungen Marcel in der Ebene von Combray. Einer dieser Spaziergänge wird durch eine Kutschfahrt beendet, auf der er drei Kirchtürme beobachtet. Der junge Marcel hat den Eindruck, daß sich hinter dieser Wahrnehmung etwas verbirgt, das er unbedingt enthüllen muß. Er beobachtet, wie die drei Kirchtürme, die in Wirklichkeit weit auseinanderliegen, scheinbar nahe beieinander stehen. Erst sieht er nur zwei Türme, bis sich dann ein dritter Turm hinzugesellt, und alle drei Türme scheinen sich am selben Ort zu befinden. Tatsächlich gehört aber der dritte Turm zu einer ganz anderen Ortschaft.

Der junge Marcel ist ganz in den Anblick dieser drei Türme versunken. Zugleich aber ist er beunruhigt, weil es ihm nicht gelingt, das Geheimnis dieses Phänomens zu entschlüsseln. Er wähnt sich selbst weit entfernt von diesen drei Türmen, um dann aber nach einer Biegung am Fuße eines Hügels überrascht festzustellen, daß er sich direkt vor den beiden vor ihm aufragenden Kirchtürmen von Martinville befindet.

Als sie wegfahren, schaut der junge Marcel hinter sich und sieht wieder die drei Kirchtürme einträchtig beieinander. Der dritte Turm von Vieuxvicq hatte sich wieder dazugesellt. Der junge Marcel sucht immer noch nach dem Geheimnis dieser Wahrnehmung, die zugleich, wie er ahnt, aufgrund der durch die Kutschfahrt beschleunigten Fortbewegung das Potential hat, das Geheimnis aller seiner vielen anderen Spaziergänge zu enthüllen. Er hat das Gefühl, daß dem Phänomen der drei Türme ein perfekter Satz entspricht, zu dem er noch die Worte finden muß, und er erbittet sich von einem Begleiter Papier und Bleistift. Er beschreibt die drei Türme, den Wechsel der Perspektiven und seine mit dem Perspektivenwechsel verbundenen Empfindungen, und der perfekte Satz wird niedergeschrieben.

Der junge Marcel erlebt das Niederschreiben des Satzes als Triumph:
„Ich dachte niemals an diese Zeilen zurück, aber damals in dem Augenblick, als ich auf der Ecke des Bockes, wo der Kutscher des Doktors gewöhnlich in einem Korb das auf dem Markt von Martinville eingekaufte Geflügel abstellte, sie beendet hatte, spürte ich, daß sie mich so vollkommen von diesen Kirchtürmen und von dem, was sich hinter ihnen verbarg, zu befreien vermocht hatten, daß ich, als sei ich selber ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, mit schriller Stimme zu singen begann.“ (Proust 1979, S.242)
Aber was genau hat sich denn hinter diesen Kirchtürmen ‚verborgen‘? – Der perfekte ‚Satz‘, den der junge Marcel gesucht hatte, gerät ihm schließlich etwas länger und erstreckt sich in mehreren Sätzen mit ihrer linearen Struktur über nahezu anderthalb Buchseiten. Zusammengefaßt meinen sie nichts anderes als den jungen Marcel, der sich selbst in den Bewegungen der drei Türme entdeckt. Marcel Proust hatte ähnlich wie nur wenig später Einstein die Relativität der Phänomene auf ihren Beobachter entdeckt und die dazu passenden Sätze formuliert, als syntaktische Struktur, die das Phänomen beschreibt. Ähnlich wie Einstein in seiner Relativitätstheorie setzte Marcels Satz seine eigene Person zu den Kirchtürmen in ein Verhältnis. In solchen Formeln und Sätzen feiern Struktur und Phänomen Hochzeit.

Aber Marcel Proust geht noch einen Schritt weiter als Einstein. Die Landschaften, die der junge Marcel auf seinen Spaziergängen erlebt, sind nicht da draußen, vor seinen schweifenden Augen, sondern in ihm. Zwar führen Baumaßnahmen in Combray und in der Umgebung von Combray zu Veränderungen in der Landschaft, bis hin zum völligen Verschwinden von Details, die sich dem jungen Marcel eingeprägt hatten. Aber in seiner Erinnerung lebt die damalige Landschaft weiter, solange wie er selbst leben wird. Im Grunde ist die erlebte Landschaft Marcel selbst und deshalb auf sterbliche Weise mit seiner Individualität verschmolzen.

Trotzdem ist das Ergebnis bei beiden dasselbe: Marcels Satz und Einsteins Relativitätstheorie, egal ob als Syntax oder als Formel, beschreiben Menschen, die ihre Bewegung beobachten; mit anderen Worten: Menschen, die spazierengehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen