„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 5. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Den Begriff „Expressivität“ verwendet Judith Butler in dem Sinne, wie Molekularbiologen von „Genexpression“ sprechen: als ursächliche Verbindung von biologischen Anlagen und Persönlichkeitsentwicklung. So heißt es z.B. über die Geschlechtsidentität (Gender):
„Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, die als expressive Attribute des biologischen ‚Männchens‘ (male) und ‚Weibchens‘ (female) verstanden werden.“ (Butler 1991, S.38)
Dabei gibt es bei Butlers kategoralen Bestimmungsversuchen eines Kollektivsubjekts „Frau(en)“ durchaus Parallelen zu Plessners Version von Expressivität als der Differenz zwischen Sagen und Meinen:
„Es wäre falsch, von vornherein anzunehmen, daß es eine Kategorie ‚Frau(en)‘ gibt, die einfach mit verschiedenen Bestandteilen wie Bestimmungen der Rasse, Klasse, Alter, Ethnie und Sexualität gefüllt werden muß, um vervollständigt zu werden. Wenn man dagegen die wesentliche Unvollständigkeit dieser Kategorie voraussetzt, kann sie als stets offener Schauplatz umkämpfter Bedeutungen dienen. Die definitorische Unvollständigkeit der Kategorie könnte dann als normatives Ideal dienen, das von jeder zwanghaften Einschränkung befreit ist.“ (Butler 1991, S.35)
Diese definitorische Unvollständigkeit überträgt Butler dann in ihrem Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009) auch auf die „Kategorie des Menschlichen“:
„... die Geschichte der Kategorie ist nicht abgeschlossen, und das ‚Menschliche‘ ist nicht ein für alle Mal erfasst.“ (Butler 2009, S.28)
Diese definitorische Unvollständigkeit der Kategorien „Frau(en)“ und des „Menschlichen“ steht für Plessners Differenz zwischen Sagen und Meinen: wenn wir vom Menschen reden, meinen wir stets mehr, als wir sagen. Humanität beinhaltet eine Perspektive auf eine offene, unabschließbare Zukunft.

An die Stelle des Begriffs „Expressivität“, auf den Judith Butler verzichtet, treten Begriffe wie „Repräsentativität“ und „Performativität“. Mit beiden Begriffen sind nicht Einzelsubjekte gemeint, sondern Kollektivsubjekte, die politische Forderungen stellen und auf der gesellschaftlichen Bühne agieren. Von diesen beiden Begriffen interessiert mich vor allem der Begriff der „Performativität“. Damit ist gemeint, daß Geschlechtsidentitäten Inszenierungen bilden, die durch rituelle Wiederholung Normativität erlangen:
„In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht. Die Forderung, die Kategorie der Geschlechtsidentität außerhalb der Metaphysik der Substanz neu zu überdenken, muß auch die Tragweite von Nietzsches These in Betracht ziehen, daß es kein Seiendes hinter dem Tun gibt, daß die ‚Täter‘ also bloß eine Fiktion (sind), die Tat dagegen alles ist.“ (Butler 1991, S.49)
Butlers Konzeption der Performativität entspricht der Plessnerschen Vorstellung von der Gesellschaft als Bühne. (Vgl. Helmuth Plessner: „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924)) Beide beschreiben die gesellschaftliche Praxis als eine Maskerade, und bei beiden hat diese Maskerade ein subversives bzw. emanzipatorisches Potential. Allerdings geht Butler beim Träger dieser subversiven Praxis von einem Kollektivsubjekt aus, das sich aus den verschiedenen Milieus von Schwulen, Lesben und anderen sexuell und anderweitig diskriminierten Gruppen hinsichtlich Rasse, Klasse und Ethnie zusammensetzt. (Vgl.u.a. Butler 1991, S.35)

Indem die diskriminierten Milieus mit den Geschlechtsnormen der zwangsheterosexuellen Gesellschaft spielen, unterminieren sie deren starre Struktur und entlarven sie als arbiträren Effekt:
„Die Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität sind gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten zu sehen, d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt.“ (Butler 1991, S.207)
Dabei ist es weniger das einzelne Individuum, das sich hinter diesen Masken verbirgt – „Täter“ sind eine bloße „Fiktion“ (vgl. Butler 1991, S.49) –, als vielmehr die „parodistische Vervielfältigung“ und das „subversive() Spiel der kulturell erzeugten Bedeutung“, von denen die befreiende Wirkung ausgeht und die die Partizipationsmöglichkeiten am „Feld der Macht“ erweitern. (Vgl. Butler 1991, S.190)

Bei Plessner hingegen ist es das Individuum, das sich emanzipiert, weil es auf der gesellschaftlichen Bühne Rollen spielen und Masken tragen kann, die es vor dem totalisierenden Zugriff der Gesellschaft schützen. Zugleich kann es sich in diesem Rollenspiel ausprobieren und sein individuelles Potential entwickeln und entfalten. Für diese Sichtweise auf das gesellschaftliche Rollenspiel ist aber die Differenz zwischen Sagen und Meinen unerläßlich. Denn sie schützt die Seele als „noli me tangere“ vor dem kalten Licht der Öffentlichkeit. Das Individuum spielt seine gesellschaftlichen Rollen, ohne sich mit ihnen identifizieren zu müssen.

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