„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 3. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Judith Butlers eigener Totalitarismus, der den zwangsheterosexuellen Totalitarismus wiederholt, besteht darin, alle Lebensäußerungen als machtförmig zu beschreiben; sogar auch ihre eigene genealogische Methodik als Infragestellung der Legitimationsstrategien der Macht. (Vgl. Butler 1991, S.20f.) Parodistische Widerstandsformen spielen mit denselben normativen Versatzstücken, die sie der zwangsheterosexuellen Matrix entnehmen, und delegitimieren sie auf diese Weise. Damit erweitern sie die Repräsentation, als „Feld der Macht“, im Dienste eines problematischen „höchsten Kandidaten der Repräsentation“, von dem auch im Falle des Kollektivsubjekts „Frau(en)“ fraglich bleibt „was denn die Kategorie ‚Frau(en)‘ konstituiert oder konstituieren sollte“. (Vgl. Butler 1991, S.16) Individuelle Subjekte, deren subjektives Begehren außerhalb politischer Strategien zur Erweiterung politischer Partizipation steht, sind nicht vorgesehen.

Der Körper kommt bei Butler nur als „Komplex individueller und gesellschaftlicher Schranken“ vor, „der politisch bezeichnet und aufrechterhalten wird“. (Vgl. Butler 1991, S.61) Damit richtet sie sich ideologiekritisch gegen die Vorstellung von „Anlagen“ als „innere Wahrheit“. (Vgl. ebenda) Außerdem verweist Butler auf die Sozialanthropologin Mary Douglas, die den Körper als „Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann“, bezeichnet. (Vgl. Butler 1991, S.195) Dieser Modellcharakter wird nicht im Sinne einer Stoffwechselmetapher verwendet, wie bei Plessner, der von diesem physiologischen Modell die exzentrische Position des menschlichen Subjekts zwischen Innen und Außen ableitet. Statt um Stoffwechsel geht es hier um Immunologie, also um Eingrenzung und Ausgrenzung:
„Wenn der Körper als Synekdoche für das Gesellschaftssystem per se oder als Schauplatz, an dem sich offene Systeme überschneiden, gelesen werden kann, stellt jede Art von unregulierter Durchlässigkeit einen Ort der Verunreinigung und Gefährdung dar.“ (Butler 1991, S.195)
Vom Körper zu reden ist also immer verdächtig: entweder versuchen Agenten der Zwangsheterosexualität, mit seiner Hilfe innere Wahrheiten zu postulieren, oder er dient als Modell repressiver Exklusionen. Damit ist auch jede Differenzierung zwischen Innen und Außen ideologieverdächtig.

Butler beschreibt die Vorstellung eines körperlichen „Innenraums“ als eine rein räumliche Phantasie, als einen Ort, in den ‚Objekte‘ „hineingenommen“ und wo sie „aufbewahrt“ werden können. Sie glaubt, daß hier lediglich Oberflächenbezeichnungen, wie z.B. Geschlechtsmerkmale, ‚einverleibt‘ werden, also Merkmale, die sich auf dem Körper befinden und nicht in ihm. (Vgl. Butler 1991, S.107) Wir haben es mit einer Einverleibung zu tun, bei der es sich eigentlich um eine „Einschreibung“ handelt, nämlich in der Art einer Tätowierung auf dem Körper. (Vgl. Butler 1991, S.199)

Expressivität kann es deshalb für Butler nicht geben. Die Vorstellung von Expressivität liegt unter Ideologieverdacht, weil sie Butler zufolge versucht, ursächliche Verbindungslinien „zwischen dem biologischen Geschlecht“ und „den kulturell konstituierten Geschlechtsidentitäten“ zu ziehen, die angeblich im sexuellen Begehren zum „Ausdruck“ bzw. zur „Darstellung“ kommen. (Vgl. Butler 1991, S.38)

Das hat Konsequenzen für das, was Butler als „Seele“ bezeichnet:
„Die Figur der inneren Seele, die ‚innerhalb‘ des Körpers liegen soll, wird also gerade durch ihre Einschreibung auf dem Körper bezeichnet, auch wenn ihre primäre Bezeichnungsweise umgekehrt über ihre Abwesenheit, ihre machtvolle Unsichtbarkeit verläuft.“ (Butler 1991, S.199)
Wir haben es bei der Seele im Butlerschen Sinne mit einer seltsamen „Figur“ zu tun, die einerseits sehr an Plessners Seele als „noli me tangere“ erinnert, aber andererseits ohne die Differenz von Innen und Außen auszukommen versucht, also in der strukturalistischen Denkweise verbleibt, die sich auf Sprache und Schrift beschränkt. Ähnlich wie Plessners Seele ist die Seele bei Butler gleichzeitig abwesend und präsent, als Schrift bzw. als Einschreibung, ohne daß aber in dieser Schrift irgendetwas zum „Ausdruck“ käme. Wir haben es also bei der Butlerschen Seele mit einer bloßen kulturellen Inszenierung zu tun, und die Seele verweist vor allem auf einen Mangel, einen „Bedeutungs-Mangel“:
„Dieser Mangel, der der Körper ist, bezeichnet die Seele als das, was nicht erscheinen kann. In diesem Sinne ist die Seele eine Oberflächenbezeichnung, die die Innen/Außen-Unterscheidung selbst anficht und verschiebt, eine Figur des psychischen Innenraums, die als ständig verleugnende Bezeichnung auf den Körper eingeschrieben ist.“ (Butler 1991, S.199)
Letztlich ist der eigentliche Grund für diesen Bedeutungsmangel ein Verbot, was zum psychoanalytischen Diskurs paßt, der Butlers Argumentation zugrundeliegt. Denn letztlich ist die Seele nicht einfach das, wie es im letzten Zitat heißt, „was nicht erscheinen kann“, sondern was nicht erscheinen darf. Das Verbot richtet sich auf den Menschen, der das begehrende Subjekt ist bzw. sein will. Es darf ihn schlicht nicht geben, weil auch er unter Ideologieverdacht steht. Die Praxis des Begehrens bleibt leer.

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