„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Die Kategorie „Frau(en)“ wie auch die „Kategorie des Menschlichen“ sind in Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) beide durch Abwesenheit gekennzeichnet. Wobei sie auf verschiedene Weise ‚abwesend‘ sind, denn für die Kategorie des Menschlichen muß ich mich auf Butlers Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009/2004, S.28) beziehen. In „Das Unbehagen der Geschlechter“ kommt sie schlicht nicht vor.

Die Kategorie „Frau(en)“ hingegen ist selbst auch auf verschiedene Weise abwesend; ihre Abwesenheit ist aber explizites Thema. Zum einen ist sie bei Lévi-Strauss abwesend, weil sie zwar als „Braut“ vorkommt, aber nur als Tauschobjekt. (Vgl. Butler 1991, S.69) Als solches wird sie von ihrer Herkunftssippe zur Sippe ihres künftigen Mannes weitergereicht. Bis in unsere heutige Zeit ist es üblich, daß Frauen deshalb auch den Namen ihrer Männer annehmen müssen, wodurch sie als Individuen unsichtbar gemacht werden.

Eine weitere Form ihrer Abwesenheit ist sprachlicher Natur. Luce Irigaray verweist auf den „Phallogozentrismus“ der französischen, englischen und deutschen Sprachen, in denen die Frau als Substantiv – grammatisches Substitut für ‚Substanz‘ – nicht vorkommt. ‚Phallogozentrismus‘ setzt sich zusammen aus Phallus und Logos. Die Sprache setzt Menschsein mit Mannsein gleich, was impliziert, daß die Frau durch die Sprache nicht ‚repräsentiert‘ wird:
„In einer durchgängig maskulinen, phallogozentrischen Sprache stellen sie (die Frauen – DZ) das Nichtrepräsentierbare dar. Anders formuliert: Sie repräsentieren das Geschlecht, das nicht gedacht werden kann – eine sprachliche Abwesenheit oder einen dunklen Fleck in der Sprache.“ (Butler 1991, S.28)
Eine dritte Form der Abwesenheit besteht in der Gleichsetzung des Weiblichen mit Körper bzw. Körperlichkeit. Das männliche Subjekt ist abstrakt und universell, das Weibliche ist partikular und körperlich:
„Dieses (männliche – DZ) Subjekt ist insofern abstrakt, als es seine gesellschaftlich markierte Leiblichkeit verleugnet und weiterhin diese verleugnete und verworfene Leiblichkeit in das weibliche Subjekt projiziert, indem es den Körper gleichsam zu etwas Weiblichem umtauft.“ (Butler 1991, S.30)
Nun bildet aber das Körperliche Butler zufolge eine leere Hülle (Oberfläche) und wird nur zum Zwecke der Stabilisierung der zwangsheterosexuellen Matrix mit einer Seele begabt, die Butler als „machtvolle Unsichtbarkeit“ bezeichnet, die den Körper in ein „vitales, heiliges, eingezäuntes Gebiet“ verwandelt:
„Die Seele ist gerade das, was dem Körper fehlt; d.h., der Körper präsentiert sich selbst als ein Bedeutungs-Mangel (signifying lack): Dieser Mangel, der der Körper ist, bezeichnet die Seele als das, was nicht erscheinen kann.“ (Butler 1991, S.199)
Auch hier wird also das Weibliche bzw. die Frau via Körper/Körperlichkeit mit einer Kategorie verglichen, die durch einen Mangel, eine Abwesenheit gekennzeichnet ist und gerade dadurch die heterosexuellen Machtstrukturen stabilisiert.

Vom Menschlichen ist, wie gesagt, nicht die Rede und vom Humanismus nur als etwas, das als vergangen und abschaffenswert gilt. Anders als Monique Wittig geht Butler davon aus, „daß es keinen ‚Täter hinter der Tat gibt‘“. (Vgl. Butler 1991, S.49f. und S.209) Nun ist es aber interessant, daß Butler in ihrem schon erwähnten Buch über die „Macht der Geschlechternormen“ (2009) die „Kategorie des Menschlichen“ für überdenkenswert hält, wenn auch nicht ohne den Zusatz, daß es „keine Rückkehr zum Humanismus“ geben könne bzw. dürfe. (Vgl. Butler 2009, S.27f.) Immerhin gesteht sie ein, daß es „schwer, wenn nicht gar unmöglich“ sei, die Freiheit und Unversehrtheit sexuell divergenter Menschen zu fordern, „ohne sich dabei auf die Autonomie zu berufen, insbesondere auf einen Sinn von körperlicher Autonomie“. (Vgl. Butler 2009, S.40) – Mit diesem Eingeständnis steht Butler im Zentrum eines Humanismusses, den sie zugleich hartnäckig zu leugnen versucht.

Insgesamt wird in diesem Buch ein neuer Ton hörbar, der in „Das Unbehagen der Geschlechter“ völlig fehlt. So spricht Judith Butler von der fundamentalen Bedeutung der „Trauer“, als einem Gefühl, das unsere Beziehung zu Menschen betrifft, die von uns gegangen sind und die wir schmerzlich vermissen. (Vgl. Butler 2009, S.36ff.) Butler versucht, die politische Dimension dieses Trauergefühls zu erschließen, stößt dabei aber auf das Problem, daß der Mensch, den wir vermissen, nur im Singular vorkommt und außerhalb der Gemeinschaft steht. Butler versucht deshalb eine andere Form der Gemeinschaft zu denken, eine Gemeinschaft, die nicht inklusiv ist:
„Ich denke, wenn ich immer noch zu einem ‚wir‘ sprechen kann, in das ich mich selbst einschließen kann, spreche ich zu denjenigen unter uns, die in bestimmten Hinsichten außer sich leben, sei es in sexueller Leidenschaft, emotionaler Trauer oder politischem Zorn. In einem gewissen Sinne besteht die Schwierigkeit darin, zu verstehen, welche Art von Gemeinschaft diejenigen bilden, die außer sich sind.“ (Butler 2009, S.39)
Was bedeutet es, Menschen einzuschließen, die „außer sich“ sind? Ist das ein Paradox oder eine Aporie? Ich habe den Eindruck, daß es Butler hier gar nicht um Gemeinschaftbildung geht, schon gar nicht um politische Gemeinschaftsbildung, sondern um Zweitpersonalität, also um die Beziehung zwischen Ich und Du. So formuliert sie z.B. das Begehren nicht mehr im „Feld der Macht“, sondern als Ohnmacht dem anderen Menschen gegenüber:
„Man bleibt nicht immer intakt. Vielleicht will man das oder bleibt es, aber es kann auch so sein, dass man trotz aller Anstrengungen aufgelöst wird, beim Anblick des Anderen, durch die Berührung, den Duft, das Gefühl, durch die Aussicht auf Berührung, durch die Erinnerung an das Verspürte.“ (Butler 2009, S.38)
An dieser Stelle wird es, wie ich finde, doch recht offensichtlich, daß es hier nicht mehr um ein Kollektivsubjekt geht, sondern um den einzelnen Menschen, dem wir begegnen; und daß es hier um eine Begegnung geht, die wir nicht mehr politisch instrumentalisieren können, um die Partizipation am „Feld der Macht“ zu erweitern. In ihrer Kritik an Monique Wittigs Humanismus (vgl. Butler 1991, S.50) übersieht Butler, daß Wittigs Versuch, über den sprachlichen Universalismus „jeder Person dieselbe Möglichkeit“ zu gewährleisten, „ihre Subjektivität zu begründen“ (vgl. Butler 1991, S.173), letztlich genau auf diese zweitpersonale Ebene des wechselseitigen Austausches zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘ abzielt. Meiner Überzeugung nach begründet sich der Begriff der „Menschheit“ nicht etwa in einem möglichst inklusiven Kollektivsubjekt, also in einem möglichst umfassenden Gruppen-Wir, sondern in der Begegnung zwischen Ich und Du. Die zweitpersonale Ebene grenzt niemanden aus.

Dieser zweitpersonale Universalismus beruht auf einem transzendentalen Moment: alle Menschen nehmen, wenn sie ‚Ich‘ sagen, für sich in Anspruch, einzigartig zu sein, und akzeptieren gleichzeitig, daß auch alle anderen Menschen ‚Ich‘ sagen können. Auf dieser Voraussetzung beruht die Möglichkeit, ‚Du‘ zu sagen. Denn nur jemand, der ‚Ich‘ sagen kann, kann gleichzeitig für einen anderen Menschen ‚Du‘ sein. Ich kann nur Ich sein, wenn ich zugleich Du bin. Du kannst nur Du sein, wenn du zugleich Ich bist.

Deshalb sprengt die Zweitpersonalität auch den strukturalen Totalitarismus: die Zweitpersonalität ist nicht binär! Du ist nicht Nicht-Ich, und Ich ist nicht Nicht-Du. Wir haben es hier weder mit einem Algorithmus noch mit Macht zu tun. Der zweitpersonale Humanismus ist nicht die Vergangenheit, sondern unsere Zukunft.

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