„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 1. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)


1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Judith Butler verweist mit dem Titel ihres Buches „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) auf Freuds Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930). Entsprechend dieser Selbstverortung in einem insgesamt psychoanalytisch geprägten Diskursrahmen führt Butler die scheinbar biologischen Begriffe des Geschlechtsunterschieds und der Geschlechtsidentität auf kulturelle Praktiken und Strukturen zurück. Das zugrundeliegende methodische Verfahren bezeichnet Butler als Genealogie:
„Die grundlegenden Kategorien des Geschlechts, der Geschlechtsidentität (gender) und des Begehrens als Effekte einer spezifischen Machtformation zu enthüllen, erfordert eine Form der kritischen Untersuchung, die Foucault in Anschluß an Nietzsche als ‚Genealogie‘ bezeichnet hat.“ (Butler 1991, S.9)
Die kulturellen Praktiken, die zu einer binär strukturierten Heterosexualität führen, die als Normalität behauptet wird und jedes individuelle Begehren in diese Struktur zwingt, sind Ausdruck eines hierarchischen Machtverhältnisses, das Feministinnen und Feministen im Namen eines emanzipatorischen Kollektivsubjekts ‚weibliches Wir‘, das sich auch gegen andere Formen der Diskriminierung wie Klasse, Rasse, Ethnie usw. richtet, überwinden wollen. Butler spricht hier von der Notwendigkeit eines sektorenübergreifenden Bündnisses, das die Grenzen eines bloßen feministischen ‚Wir‘ sprengt. Butler bewertet diese politische Brechung der weiblichen Kategorie „Frau(en)“ als positiv, weil sie deren inneren Widersprüchlichkeiten offenlegt, die mit dem Beharren auf einer bestimmten Version weiblicher Identität und in der Ausgrenzung anderer Identitätsauffassungen, auch heterosexueller Formen des Begehrens, einhergehen:
„Vielleicht ist es für ein Bündnis gerade notwendig, die eigenen Widersprüche anzuerkennen und mit diesen ungelösten Widersprüchen zum Handeln überzugehen. Vielleicht gehört es auch zur dialogischen Verständigung, daß man die Divergenzen, Brüche, Spaltungen und Splitterungen als Teil des oft gewundenen Demokratisierungsprozesses akzeptiert.“ (Butler 1991, S.35)
Es ist bemerkenswert, daß Judith Butler sich entschieden gegen einen die zwangsheterosexuelle Matrix wiederholenden feministischen Totalitarismus wendet, der die weibliche Sexualität auf die simple Ablehnung von Heterosexualität zu reduzieren versucht:
„Frauen, die diese (‚weibliche‘ – DZ) Sexualität nicht als ihre eigene anerkennen oder ihre Sexualität als partiell durch die phallische Organisation bedingt betrachten, werden im Rahmen dieser Theorie als ‚männlichkeitsidentifiziert‘ oder ‚unaufgeklärt‘ ausgegrenzt.“ (Butler 1991, S.56)
Heterosexuelle und phallische Kulturkonventionen, so Butler, die „in lesbischen, bisexuellen und heterosexuellen Zusammenhängen aufkommen“, sind „kein Zeichen für eine Identifikation mit dem männlichen System in irgendeinem herabsetzenden Sinne“. (Vgl. Butler 1991, S.56)

Dennoch scheint mir Butlers von Foucault übernommene Fixierung auf die Macht selbst einen solchen Totalitarismus zu beinhalten, wenn sie schreibt:
„... die Rechtsstrukturen von Sprache und Politik bilden das zeitgenössische Feld der Macht, das heißt: Es gibt keine Position außerhalb dieses Gebiets, sondern nur die kritische Genealogie seiner Legitimationspraktiken.“ (Butler 1991, S.20)
Wenn es nämlich keine Position außerhalb des Gebiets der Macht gibt, gibt es auch keine Beziehung zwischen den Menschen, die nicht als machtförmig verzerrt und verunstaltet wahrgenommen werden kann. Mit anderen Worten: es gibt keine Zweitpersonalität. Die Sozialperspektiven ‚Ich‘ und ‚Du‘ fallen unter den Tisch. – Darauf wird in einem späteren Blogpost zurückzukommen sein.

Allerdings verführt der Strukturalismus selbst schon zu einer solchen totalitaristischen Denkweise, wie Butler festhält:
„Alle sprachlichen Termini setzen eine linguistische Totalität der Strukturen voraus, deren Ganzheit unterstellt und implizit erfordert ist, damit jeder Term eine Bedeutung tragen kann. Diese gleichsam Leibnizsche Sichtweise, in der die Sprache als systematische Totalität erscheint, unterdrückt jedoch das Moment der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, indem es dieses Moment der Arbitrarität in ein totalisierendes Feld einbindet und vereinheitlicht.“ (Butler 1991, S.70)
Butler meint aber, sie könne mit einer poststrukturalistischen Verflüssigung der binären Zwänge diesem strukturalistischen Totalitarismus entgehen:
„Der poststrukturalistische Bruch mit Saussure und mit den identitätslogischen Tauschstrukturen bei Lévi-Strauss weist sowohl die Totalitäts- und Universalitätsansprüche als auch die Annahme von binären strukturalen Gegensätzen zurück, die implizit bewirken, daß die bestehende Ambiguität und Offenheit der sprachlichen und kulturellen Bedeutung eingeschränkt wird.() Durch diese Kritik verwandelt sich die Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat in die operativ uneingeschränkte différance() der Sprache, die alle Referentialität zu einer potentiell schrankenlosen Verschiebung macht.“ (Butler 1991, S.70)
Butler glaubt, die parodistische Verschiebung sexueller Identitätsmerkmale in lesbischen, schwulen und queeren Milieus führe zu einer Sprengung der starren heterosexuellen Matrix. Letztlich besteht diese spielerische Praxis im Umgang mit Geschlechtsidentitäten aber nur in der Verschränkung und Überlagerung von Symptomen und Praktiken des Begehrens; was vielleicht eine gewisse gesellschaftspolitische Relevanz haben mag, aber die einzelnen ‚Subjekte‘ des sexuellen Begehrens bleiben sich selbst überlassen und gegenseitig isoliert. Denn Butler interessiert sich nicht für sie, sondern nur für den prekären Status des Kollektivsubjekts, das seine politische Agenda umzusetzen versucht:
„Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion, die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses ‚Wir‘ verleugnet und nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht. Freilich ist der schwache oder phantasmatische Status dieses ‚Wir‘ kein Grund zur Verzweiflung – oder besser gesagt: nicht nur ein Grund zur Verzweiflung. Die radikale Instabilität dieser Kategorie stellt die grundlegenden Einschränkungen der feministischen Theorie in Frage und eröffnet damit andere Konfigurationen, nicht nur für die Geschlechtsidentitäten und für die Körper, sondern auch für die Politik selbst.“ (Butler 1991, S.209)
Die befreiende Praxis der Parodie instrumentalisiert das Begehren im Dienste dieses Kollektivsubjekts und verbleibt damit im alles umfassenden „Feld der Macht“. Diese Macht wird nicht etwa abgeschafft, sondern lediglich repräsentativ erweitert:
„Deshalb kann die geschlechtlich bestimmte Identität, statt als ursprüngliche Identifizierung, die als determinierende Ursache dient, neu als persönliche/kulturelle Geschichte übernommener Bedeutungen begriffen werden.“ (Butler 1991, S.203)
Hier steht das Persönliche auf der Ebene des Kulturellen; ein reflektierter Umgang mit kulturellen Bedeutungen des Geschlechtlichen in einer zweiten Naivität, also in der individuellen Praxis begehrender Einzelsubjekte, die niemandem gegenüber verpflichtet sind außer ihren Partnern, ist nicht vorgesehen.

Dazu paßt Butlers Kritik an Monique Wittigs Humanismus, der von der Notwendigkeit eines „absoluten“ Subjekts ausgeht. (Vgl. Butler 1991, S.167ff.) Monique Wittig kritisiert, daß das sprechende Subjekt in der (französischen) Sprache immer nur als männliches Subjekt in Erscheinung tritt. Die Frauen hingegen werden von der Grammatik nur als relative Subjekte berücksichtigt. Das führt aber keineswegs dazu, daß Wittig die Sprache als solche kritisiert. Sie vertritt vielmehr den Standpunkt, daß allein schon zu sprechen, also das Wort zu ergreifen, eine absolute Subjektposition voraussetzt. Zu sprechen bedeutet also, ein absolutes Subjekt zu sein. Alles andere liefe darauf hinaus, zu sprechen, ohne zu sprechen, also auf einen performativen Widerspruch. (Vgl. Butler 1991, S.172f.)

Allerdings macht Wittig den Fehler, den Begriff des Absoluten zu ontologisieren. Schon der Begriff des Absoluten selbst ist problematisch, weil er Relationen ausschließt und mit den Relationen das Mensch-Mensch- und das Mensch-Weltverhältnis. Wittig spricht darüberhinaus von der Notwendigkeit einer „Ontotheologie“ des absoluten Subjekts:
„Wittig setzt ihre Überlegungen mit einer überraschenden Spekulation über das Wesen der Sprache und des ‚Seins‘ fort, die ihr eigenes politisches Projekt in den Kontext des traditionellen Diskurses der Ontotheologie einordnet. Ihrer Ansicht nach bietet die primäre Ontologie der Sprache jeder Person dieselbe Möglichkeit, ihre Subjektivität zu begründen.“ (Butler 1991, S.174)
Obwohl Butler Wittig zurecht wegen dieser Ontotheologie kritisiert, begehen beide denselben Fehler: beide gehen davon aus, daß es ein relatives Subjekt nicht geben könne, also auch kein Mensch-Weltverhältnis, wobei Butler noch einen Schritt weiter geht und behauptet, daß es außerhalb bzw. ‚vor‘ der Sprache kein Subjekt geben könne. Butler entgeht in dieser Kritik das Moment, mit dem Monique Wittig mit ihrer Behauptung eines absoluten Subjekts recht behält. ‚Absolut‘ steht nämlich letztlich für ‚transzendental‘. Daß der Sprechakt ein sprechendes Subjekt voraussetzt, bedeutet nämlich nicht, daß dieses Subjekt dem Sprechakt zeitlich vorhergeht oder ihm ontisch irgendwie zugrundeliegt. Es bedeutet lediglich die Denknotwendigkeit eines Subjekts, das spricht, mag es auch bloß aus dem Sprechakt hervorgehen; denn transzendental ist seine Qualität in dem Sinne, als es zugleich mit seinem Hervorgehen aus dem Sprechakt diesem Sprechakt vorhergeht.

Helmuth Plessner nannte diese transzendentale Qualität des Subjekts „exzentrische Positionalität“. Das Subjekt, das spricht, blickt in beide Richtungen: auf den Sprechakt voraus und auf das, was es damit meint, zurück.

Wenn Butler an anderer Stelle den „Zwang“ thematisiert, über ein „Subjekt des Feminismus“ nachdenken zu müssen (vgl. Butler 1991, S.21), dann versäumt sie es an dieser Stelle und auch sonst in ihrem Buch, die problematische Kategorie der „Frau(en)“ mit ihrer „wesentliche(n) Unvollständigkeit“ (vgl. Butler 1991, S.35) durch den Begriff „Mensch“ zu ersetzen. Denn die Kategorie „Mensch“ mit ihrer ebenfalls wesentlichen Unvollständigkeit steht durchaus zur Verfügung, alle Menschen jenseits von Rasse, Geschlecht, Herkunft und Religion zu bezeichnen. Die Herkunft dieses Wortes ist keineswegs einfach auf ‚Mann‘ zurückzuführen, so wenig wie ‚Mann‘ und ‚Frau‘ ursprünglich Geschlechtsbezeichnungen gewesen sind. Mit ‚Mensch‘ verwandt ist das lateinische ‚mens‘, Bewußtsein, und verweist schon mit dieser Etymologie auf seine transzendentale Qualität. Das Subjekt ‚Mensch‘ ist zum einen transzendental, im Sinne einer Ich-Identität, die sich durch die Zeit durchhält, unabhängig von Prädikaten wie ‚jung‘, ‚erwachsen‘ und ‚alt‘, und es bezeugt im Sprechakt diese Identität des Sprechenden; zum anderen ist die Bezeichnung ‚Mensch‘ auch offen für individuelle Verschiedenheit im Namen einer Humanität, die nicht reguliert oder normiert.

Das ist der nicht-machtförmige, humane Sinn von Universalität, den sogar Butler – allerdings wieder nur mit Bezug auf Wittig und damit offenlassend, ob sie dem zustimmt – positiv hervorhebt:
„Den Standpunkt der Frauen universalisieren bedeutet, die Kategorie ‚Frau(en)‘ zu zerstören und gleichzeitig die Möglichkeit eines neuen Humanismus zu schaffen.“ (Butler 1991, S.177)
In diesem Zitat referiert Butler Monique Wittigs Standpunkt nur, ohne ihn zu teilen. Die Textstelle bleibt zwar insgesamt im Ungewissen, weil Butler sich an dieser Stelle nicht deutlich von Wittigs Standpunkt distanziert. An anderen Stellen nimmt Butler aber eindeutig Position gegen den Humanismus, weil sie ihm vorwirft, nur auf europäische weiße Männer beschränkt zu sein; an einer Stelle übrigens in Übereinstimmung mit Monique Wittigs Kritik am Humanismus, an einer anderen Stelle wiederum in Form einer Kritik an der Wittigschen Adaption des Humanismus. (Vgl. Butler 1991, S.50, 172)

Butler gesteht also im Unterschied zu Wittig dem Menschenrechts-Humanismus nicht zu, daß er sich weiterentwickelt hat und sich im Laufe der Geschichte faktisch universalisiert hat, also alle Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, Hautfarbe etc. umfaßt. Butler verwirft also den Humanismus als politische Option und damit auch Wittigs Universalisierungsthese. An die Stelle des Humanismus soll eine alle heutigen und künftigen Genderpraktiken umfassende Zukunftsoffenheit treten, die durch nichts, also auch durch keinen Humanismus, begrenzt ist. Butler gerät damit in einen performativen Widerspruch: es sind wesentlich der Humanismus und die Menschenrechte, die sich gegen Diskriminierungen aller Art richten. Wenn der Humanismus aber selbst diskriminierend ist, wie Butler behauptet, dann gibt es auch keine Instanz, die vorkommende Diskriminierungen feststellen und verurteilen könnte.

Monique Wittigs Perspektive auf das Universalisierungspotential des Humanismus kann ich mich vorbehaltlos anschließen. Sogar Judith Butler verwendet in ihrem Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009/2004) tatsächlich wieder den Begriff des Menschlichen und ‚Mensch‘. (Vgl. Butler 2009, S.26ff.) Allerdings schränkt sie die Notwendigkeit, den „Status eines menschlichen Lebens“ neu zu ‚überdenken‘, mit dem Hinweis ein, daß das „keine Rückkehr zum Humanismus“ beinhalte. (Vgl. Butler 1991, S.27) – Vielleicht keine Rückkehr. Aber vielleicht doch die Möglichkeit eines Ausblicks auf eine humane Zukunft.

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