„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 8. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Es sind vor allem zwei Entwicklungsebenen, die Markus Gabriel thematisiert:
„Der Mensch hat zwei Komponenten, die sich allerdings gegenseitig beeinflussen und deswegen nicht etwa, wie der Dualismus meint, auf zwei abgetrennte Wirklichkeitsbereiche verteilt werden.“ (Gabriel 2018, S.312) 
Bei den zwei Komponenten handelt es sich um die biologische und um die soziale Entwicklungsebene, die laut Zitat einen einheitlichen Wirklichkeitsbereich bilden, wobei die soziale Komponente, wie Gabriel auf der nächsten Seite schreibt, festlegt, wer oder was der Mensch sein soll. (Vgl. Gabriel 2018, S.313)

Es gibt eine Textstelle, wo er sich umfassender zu den Entwicklungsebenen äußert, aus denen der heutige Mensch hervorgeht. Dort heißt es, daß wir die biologische „Grundausstattung sinnlicher Vermögen“ „niemals vollständig kartografieren können“:
„Denn sie ist untrennbar mit unserer ökologischen Nische und letztlich mit unüberschaubar vielen Überlebensbedingungen vernetzt, die sich in Jahrmillionen der Evolution von Arten und ihrer Interaktion mit der unter anderem durch ihre Lebensvollzüge generierten Atmosphäre auf unserem Planeten entwickelt haben. Hinzu kommen die uns nur teilweise bekannte Rolle, welche die kosmische Strahlung für die Evolution spielt (sie greift, wie wir heute wissen, in biologische Vorgänge auf unserem Planeten ein), die geologischen Phänomene, die unsere Atmosphäre mit beeinflussen, und heute besonders der von Menschen mit angetriebene Klimawandel.“ (Gabriel 2018, S.309)
Neben der biologischen Entwicklungsebene werden hier drei weitere Entwicklungsebenen aufgezählt: die Geologie, die Kosmologie und das Anthropozän. Das Anthropozän könnte man auch als Produkt einer im engeren Sinne technologischen Entwicklungsebene bezeichnen. Zwei Entwicklungsebenen werden in dieser Zusammenstellung nicht erwähnt: die soziale und die individuelle. Es gibt allerdings eine andere Stelle, wo Gabriel auch die individuelle Entwicklungsebene, die Ontogenese anspricht, wenn auch nur negativ als sozial nicht integrierbare, asoziale Entwicklungskomponente:
„Den Unterschied zwischen sozialer Personalität und nicht sozialer Individualität kann man prinzipiell nicht vollständig überbrücken. Daraus ergibt sich eine Spannung, die sich gesellschaftlich in verschiedenen Teilbereichen auswirkt. Diese Spannung besteht darin, dass es zur Struktur sozialer Systeme gehört, dass sie Individualität nicht erfassen können. ... Unsere vergesellschaftete Seite streitet mit der nicht sozialen Komponente.“ (Gabriel 2018, S.186)
Von diesem Antagonismus zwischen Sozialität und Individualität führt bei Gabriel kein Weg zur Anerkennung einer eigenständigen individuellen Entwicklungsebene. Das zeigt sich besonders deutlich an Gabriels Begriff der Narrativität. Er interpretiert die Geschichtlichkeit des Menschen narrativ: Geschichte haben bedeutet, Geschichten zu erzählen. (Vgl. Gabriel 2018, S.310f.) Allerdings sind es hier nicht die Individuen, die sich gegenseitig Geschichten erzählen und sich auf diese Weise individualisieren. Vielmehr haben wir es bei der menschlichen Kulturgeschichte mit „dichten Netze(n) des Erzählens“ zu tun, in die der Mensch „verwoben“ ist. Der Mensch ist ein „Geschichtenerzähler“, der seinen Geschichten „niemals entkommen“ kann. (Vgl. Gabriel 2018, S.311)

Narrativität hat also bei Gabriel nichts befreiendes. Wir haben es hier vielmehr mit einem dichten Netz zu tun, ähnlich dem Internet, dem wir als Individuen nicht entkommen können. Tatsächlich ist das auch gut so; denn Individualität stört bei der sozialen Integration des Menschen.

Das ist so ungefähr das Bild, das Gabriel von der individuellen Entwicklungsebene zeichnet. Worauf es ankommt, ist das Verhältnis zwischen biologischer und sozialer Entwicklungsebene. Dann gibt es noch einige andere Entwicklungsebenen, die ebenfalls mit der Entwicklung des Menschen zusammenhängen. Die individuelle Entwicklungsebene hingegen bedarf der domestizierenden Narration.

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