„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 6. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Mit Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) setzte eine das ganze 20. Jhdt. prägende Bewegung ein, die als „linguistische Wende“ bezeichnet wurde und insbesondere im angelsächsischen Sprachraum die Denkschule der analytischen Philosophie bzw. der Sprachanalytik begründete:
„Die linguistische Wende ist die Umstellung von der Untersuchung des Wirklichen auf die Untersuchung unserer sprachlichen Werkzeuge zur Untersuchung des Wirklichen.“ (Gabriel 2018, S.42)
Die grundlegende These dieser Denkschule bestand und besteht darin, daß das menschliche Denken vollumfänglich von der Sprache bestimmt sei und daß es so etwas wie ein vorsprachliches Denken nicht gebe. Gabriel hält das „von vorne bis hinten für falsch“:
„Auch andere Lebewesen verfügen über Sprache, und es ist abwegig, davon auszugehen, das Denken sei ein Vorrecht des Menschen. Das leuchtet nur ein, wenn man bestimmte Formen des Denkens mit dem Denken selber identifiziert.“ (Gabriel 2018, S.42)
Letztlich ist die sprachanalytische Philosophie in ihrer Denkweise eng verwandt mit dem Konstruktivismus. Wenn nämlich das menschliche Denken auf Sprache beschränkt ist, dann liegt es nahe, die ganze menschliche Wahrnehmung im Sinne des kartesianischen „cogito“ auf die Fähigkeit zu sprechen zu begrenzen. Letztlich ist also die Wirklichkeit nichts anderes als die Art und Weise, wie wir über sie sprechen. Kurz: die Wirklichkeit, einschließlich der Wirklichkeit des Denkens als Künstliche Intelligenz, ist eine Simulation. Gabriel hält dagegen, daß die angeblichen „Simulationen des Denkens ... ebenso wenig ein Denken (sind), wie eine Michelin-Karte Frankreichs identisch ist mit dem Gebiet, das sie abbildet ...“ (Vgl. Gabriel 2018, S.32) – Auch für den Konstruktivismus gilt also: „Der Konstruktivismus ist falsch.()“ (Gabriel 2018, S.64)

Wenn Gabriel aber meint, daß Wirklichkeit und Begriff des Denkens mehr umfassen als Sprache, dann kann sich das nur auf die Formen des ‚Denkens‘ beziehen, die wir gemeinhin mit der Intuition oder dem Unterbewußten gleichsetzen. Bei Tieren hätten wir es hier vor allem mit Instinkten zu tun, die auch uns Menschen nicht ganz fremd sind. Insgesamt haben wir es mit einer körperlichen Form des Denkens zu tun, der auf sprachlicher Ebene Metaphern und auf literarischer Ebene die Dichtung entsprechen.

Gabriel zeigt sich hier ambivalent. Mal hebt er hervor, daß wir es beim Denken vor allem mit ‚reinem‘ Denken zu tun haben: „Das reine Denken besteht darin, dass sich der Denkakt als solcher erfasst.“ (Gabriel 2018, S.308) – Das reine Denken ist das logische Denken, und dieses Denken ist rein formal, weit entfernt von körperleiblichen Einflüssen; denn reines Denken besteht darin, „dass wir uns nicht mit Nichtgedanken, sondern mit der Form des Denkens selbst beschäftigen“. (Vgl. ebenda)

Was aber sind diese „Nichtgedanken“? Es besteht im subjektiven Erleben, also in dem, was wir als vorsprachliches Denken bezeichnen würden; und mit dem soll sich vor allem die Psychologie befassen, nicht aber die Philosophie. (Vgl. Gabriel 2018, S.304 und S.306)

Ganz im Gegensatz dazu heißt es aber an anderer Stelle über die Dichtung:
„Dichtung ist keine Praxis der Unschärfe, sondern häufig umgekehrt der Versuch, Gedanken darzustellen, die bisher ungesagt geblieben sind.“ (Gabriel 2018, S.278)
Was „bisher ungesagt geblieben ist“, ist das, was im im engeren Sinne Begrifflichen, dem rein Logischen nicht aufgeht und das Hans Blumenberg als das Unbegriffliche bezeichnet. Für dieses Unbegriffliche sind die Metaphern zuständig, die eine Vorform der Begriffssprache bilden und die Intuitionen aufgreifen, die der Begriffssprache entgehen:
„Um einen neuen Gedanken zu artikulieren, ist es in der Geschichte des Denkens unumgänglich, dass neue Ausdrücke geprägt werden, die ursprünglich Metaphern, das heißt Brücken zwischen Gedanken und Sätzen sind.“ (Gabriel 2018, S.278)
Das Denken, auch das im engeren Sinne philosophische Denken, ist also doch nicht so ‚rein‘, wie Gabriel uns glauben machen will. Die sogenannten ‚Nichtgedanken‘ lassen sich von den explizit gemachten, versprachlichten Gedanken nicht so einfach trennen.

Die Ambivalenz von Gabriels Ablehnung des Konstruktivismusses einerseits und seinem eigenen Denkformalismus andererseits wird besonders an der Stelle deutlich, wo er den animalischen bzw. biologischen Anteil des menschlichen Denkens als eine Form der Informationsverarbeitung beschreibt. Das zeigt sich zunächst implizit an folgender Analogie:
„Die Informationsverarbeitung in nicht biologischen Rechenmaschinen läuft ohne Bewusstsein ab, was sie fundamental vom menschlichen Verstehen unterscheidet.“ (Gabriel 2018, S.98)
Diesen Satz kann man auf verschiedene Weise verstehen. Zunächst einmal bezeichnet Gabriel Computer als „nicht biologische() Rechenmaschinen“. Meint er damit, daß Lebewesen wie Tiere und Menschen keine Rechenmaschinen sind, oder meint er damit, daß Computer nicht-biologische Rechenmaschinen sind, während Menschen biologische Rechenmaschinen sind? – Desweiteren hält Gabriel fest, daß die Informationsverarbeitung in nicht-biologischen Rechenmaschinen „ohne Bewusstsein“ abläuft. Meint er damit, daß die Informationsverarbeitung deshalb ein ausschließliches Merkmal von Rechenmaschinen ist und nichts mit Tieren und Menschen zu tun hat, oder meint er damit, daß die Informationsverarbeitung in Rechenmaschinen ohne Bewußtsein und, vielleicht nicht bei Tieren, aber doch zumindestens bei Menschen bewußt abläuft?

Beide Deutungsweisen sind möglich. Wenn man andere Textstellen hinzunimmt, in denen Gabriel dem Menschen bescheinigt,
  • eine künstliche Intelligenz zu sein, die ein „Regelsystem zur Datenverarbeitung“ bildet (vgl. Gabriel 2018, S.118f.; zur künstlichen Intelligenz vgl. auch S.19f. und S.310),
  • daß wir unsere Umwelt nicht einfach wahrnehmen, sondern „scannen“ (vgl. Gabriel 2018, S.35),
  • daß wir über unsere Sinnesorgane nicht Reize, sondern „Daten“ empfangen, ohne sie auf dieser Ebene schon bewußt zu „verarbeiten“ (vgl. Gabriel 2018, S.40), 
  • und wenn man bedenkt, daß Gabriel keine Probleme damit hat, Gedanken mit Informationen gleichzusetzen (vgl. Gabriel 2018, S.84f. und S.133),
dann ist es nicht so abwegig, anzunehmen, daß Gabriel nicht nur die bewußte menschliche Intelligenz, sondern auch vorsprachliche Intuitionen als eine Form von Informationsverarbeitung versteht.

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