„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 4. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Gabriel will das Denken wieder versinnlichen: „Denken ist etwas Sinnliches (im besten Fall also Vergnügliches) und keine Gewaltübung, in der man sich kreative Gedankengänge verbietet.“ (Gabriel 2018, S.12) – Deshalb spricht er vom Denken als einem biologischen Sinn wie „Sehen, Hören, Fühlen, Tasten oder Schmecken“. (Vgl. Gabriel 2018, S.18)

Das ist einerseits erfreulich und erinnert an Plessners Körperleib. Aber es hat auch etwas Bedenkliches: wenn das Denken ein biologischer Sinn sein soll, fragt man sich gleich nach dem Sinnesorgan. Welches Organ käme dafür in Frage? Natürlich das Gehirn. Und schon wird das Gehirn zu einem Mechanismus, der denkt. Und nicht genug damit stellt sich natürlich auch gleich die Frage nach dem Code, dem Algorithmus, mit dessen Hilfe das Sinnesorgan ‚Gehirn‘ die Signale, die es empfängt, in Gedanken umwandelt. Die Suche nach dem Homunkulus kann beginnen.

Genau das will Gabriel eigentlich nicht. Das Bewußtsein, so hält Gabriel mit dem Neurowissenschaftler Giuli Tononi fest, läßt sich nicht „über das Gehirn oder irgendein anderes komplexes System () erklären“. (Vgl. Gabriel 2018, S.213f.) Und was für das Bewußtsein gilt, das gilt doch wohl auch für das Denken?

An anderer Stelle wird Gabriel noch deutlicher:
„Ein heute grassierendes Beispiel für einen besonders schlechten Reduktionismus ist dasjenige, was ich in ‚Ich ist nicht Gehirn‘ als ‚Neurozentrismus‘ bezeichnet habe, das heißt hier die Identifikation von Denk- und Hirnvorgängen.“ (Gabriel 2018, S.282)
Genau das impliziert aber Gabriels Redeweise vom Denksinn als biologischem Sinnesorgan: die Identifikation von Denkvorgängen mit einem Organ, naheliegenderweise also mit dem Gehirn.

Aber „Denksinn“ soll noch etwas anderes bedeuten:
„Gleichzeitig plädiere ich aber auch dafür, dem Denken einen neuen Sinn, eine Richtung zur Orientierung in unserer Zeit zu geben, da es – wie eh und je – von vielfältigen ideologischen Strömungen und zugehöriger Propaganda in Unruhe versetzt wird.“ (Gabriel 2018, S.18)
Gabriel denkt hier nicht nur an Ideologiekritik. Es geht um etwas grundlegenderes: er verknüpft diese Orientierung gebende Leistung des Denksinns mit dem phänomenologischen Begriff der Intentionalität. „Intentionalität“ ist, so Gabriel, „in der gegenwärtigen Philosophie der Name für die Ausrichtung unserer Gedanken auf Gegenstände“. (Vgl. Gabriel 2018, S.304) Der Denksinn richtet uns also auf Gegenstände aus, mit denen wir uns dann gedanklich auseinandersetzen. Oder anders ausgedrückt: dem Denksinn fällt etwas ein, und dann denken wir über das, was uns eingefallen ist, nach. (Vgl. Gabriel 2018, S.301)

Der Denksinn wäre also ein anderes Wort für ‚Intuition‘. Dann wäre die Gleichsetzung des Denksinns mit einem ‚Sinnesorgan‘ eine Metapher dafür, daß wir es beim Denken mit einer Art Wahrnehmung zu tun haben, die ähnlich sensibel auf Gedanken reagiert wie unsere biologischen Sinnesorgane auf Geräusche, Gerüche und Lichtreize.

Aber für Gabriel ist die Biologie nicht nur eine Analogie. Es ist ihm ernst damit, daß „denken wesentlich biologisch“ ist. (Vgl. Gabriel 2018, S.198) Und dann doch wieder nicht; denn an anderer Stelle heißt es:
„Unsere menschliche Intelligenz ist nicht durch und durch biologisch, obwohl es sie nicht gäbe, wenn wir keine Lebewesen wären.“ (Gabriel 2018, S.310)
Wenn wir davon ausgehen, daß ‚Intelligenz‘ wesentlich etwas mit ‚denken‘ zu tun hat und Intelligenz „nicht durch und durch biologisch“ ist, dann kann Denken auch nicht wesentlich biologisch sein. Was mich bei diesen Begrifflichkeiten stört, ist, daß Gabriel nirgends definiert, in welchem Verhältnis Intelligenz und Denken und Bewußtsein zueinander stehen.

Doch zurück zum Denksinn: der Denksinn ist Gabriel zufolge nicht nur ein (biologisches) Sinnesorgan und ein geistiger Orientierungssinn, sondern noch etwas Drittes, nämlich ein „Gemeinsinn“. Das paßt zu seiner Orientierungsfunktion, denn der Denksinn ist nicht nur ein Sinn unter Sinnen, sondern er steht zugleich über allen anderen Sinnen und fügt sie zur Einheit einer Wahrnehmung zusammen: ich rieche tierische Ausdünstungen, ich höre etwas flattern und gackern und ich sehe etwas in mein Blickfeld huschen. Und was ich wahrnehme ist ein Huhn. Ich empfange nicht einfach einzelne Reize, die meine Sinne bombardieren, sondern ich habe eine Gestaltwahrnehmung:
„Deshalb lautet Aristoteles’ Lösungsvorschlag, dass wir einen Gemeinsinn haben, den er in Verbindung mit dem Denken (noein) beziehungsweise der Einbildungskraft (phantasia) bringt.() Der entscheidende Gedanke lautet dabei, dass die Wahrnehmung deswegen imstande ist, sich ihrer selbst bewusst zu werden ...“ (Gabriel 2018, S.55)
Interessant ist an dieser Textstelle, daß der Gemeinsinn hier nicht nur mit dem Bindungsproblem in Zusammenhang gebracht wird, also mit dem Problem des Zusammenfügens von Einzelreizen zu einer Gestalt. Der Gemeinsinn hat zugleich eine bewußtseinsstiftende Funktion: seinetwegen ist die Wahrnehmung imstande, „sich ihrer selbst bewusst zu werden“. Gabriel drückt das an anderer Stelle so aus: „Dank unseres Denkens sind alle unsere Sinnesmodalitäten objektiv.“ (Gabriel 2018, S.88) – Wir sind intentional auf Objekte ausgerichtete Subjekte.

Der Gemeinsinn leistet also letztlich nichts anderes als Immanuel Kants transzendentale Apperzeption. Dank ihm sind wir in der Lage, allen unseren Wahrnehmungen ein „Ich denke“ hinzuzufügen und sie uns so bewußt zu machen. Das geht weit über bloße Gestaltwahrnehmung hinaus.

Kants Begriff der transzendentalen Apperzeption entspricht übrigens René Descartes’ „cogito“. So wie Kants „Ich denke“ uns unsere Wahrnehmungen allererst bewußt werden läßt, so begründet Descartes’ „cogito“ die Gewißheit unserer Existenz: Ich denke, also bin ich! Beides meint dasselbe: ich nehme wahr, also bin ich; ich denke, also bin ich.

Gabriel weist darauf hin, daß das kartesianische „cogito“ einen größeren Bedeutungsumfang hat als das Denken von Gedanken im engeren Sinne. Es umfaßt auch „sinnliche Vollzüge“, z.B. Wahrnehmungen und Gefühle:
„Für Descartes sind Empfinden (sentire) und Vorstellen (imaginari) ebenso wie Wollen (velle) Denkvorgänge.() Er reduziert das Denken gerade nicht auf das intelligere, also auf die Ausübung rein rationaler Berechnungsvorgänge.“ (Gabriel 2018, S.261)
Trotzdem hat es Descartes nicht so mit der körperlichen Sinnlichkeit. Der Körper ist für ihn nur eine Maschine und trägt nichts zum seiner selbst gewissen Bewußtsein, zum „cogito“ bei. Von einem biologischen Denksinn kann bei ihm keine Rede sein. Und auch Kant versteht die Apperzeption, also das „Ich denke“, transzendental, nicht empirisch. Helmuth Plessner hat seine eigene Lösung für dieses denkende Bewußtsein gefunden: es ist exzentrisch positioniert. Es ist weder ‚Körper‘ noch ‚Leib‘, weder außen noch innen. Es ist auf der Grenze zwischen beidem oder auch einfach nirgendwo. Damit meint Plessner, daß das exzentrisch positionierte Selbstbewußtsein ‚neutral‘ ist gegenüber den Dualismen, mit denen sich die Philosophie seit der Antike so herumplagt, also gegenüber Leib und Seele, Körper und Geist.

Mit diesem neutralen Nirgendwo hat Gabriel übrigens seine Probleme: es gibt „keinen Blick von Nirgendwo“, so Gabriel; es gibt „keine absolut standpunktfreie Objektivität“. Subjekte sind niemals neutral. (Vgl. Gabriel 2018, S.58f.)

Aber dies nur am Rande. Das eigentliche Problem liegt woanders: ist der Denksinn nun vor allem ein geistiges oder ein physisches Organ? Wenn er ein physisches Organ ist, kann er kein Gemeinsinn im aristotelischen Sinne sein. Wenn er ein geistiges Organ ist, kann er kein biologisches Sinnesorgan sein. Wir haben wieder ein Problem mit den üblichen Dualismen, die sich hier auftun.

Ähnlich wie Plessner will sich Gabriel nicht entscheiden. Er pendelt zwischen beiden Polen hin und her. Denn ungeachtet dessen, daß der Denksinn ein biologisches Sinnesorgan sein soll, soll er zugleich auch ein Organ sein, das für das Unendliche empfänglich ist, z.B. für Mathematik oder für die Quantentheorie:
„Wenn wir die Fähigkeit haben, mathematische Gegenstände wie Zahlen, geometrische Figuren, mehrdimensionale Räume und unendliche Mengen zu erkennen, kann unsere Erkenntnis nicht wie beim Empirismus insgesamt damit begründet werden, dass wir Reize vom Universum empfangen, die wir interpretieren. Denn die abstrakten Strukturen entstehen nicht durch unsere Interpretation, sondern zeigen vielmehr häufig auf, was wirklich der Fall ist.“ (Gabriel 2018, S.48)
Obwohl der Denksinn also ein biologisches Organ ist, soll er vor allem für „reines Denken“ zuständig sein. Gabriel bezeichnet das als seine „Nooskopthese“:
„Unser Denken ist demnach ein Sinn, mittels dessen wir das Unendliche ausspähen und unter anderem mathematisch darstellen können.“ (Gabriel 2018, S.197)
Der Denksinn, „unser Nooskop“, überschreitet „die körperliche Wirklichkeit und verbindet uns mit dem Unendlichen“. (Vgl. Gabriel 2018, S.29)

Trotz der beabsichtigten Versinnlichung des Denkens als Denksinn soll dieser Denksinn Gabriel zufolge also nichts mit unserer beschränkten Sinnlichkeit zu tun haben und sich ausschließlich auf das Unendliche richten. Er soll nicht mehr etwas denken, vor allem nicht etwas Sinnliches, sondern er soll als reines Denken das Unendliche denken; und er soll sich selber denken. (Vgl. Gabriel 2018, S.308) Mit anderen Worten: unser Denksinn soll sich nur noch mit Gedanken befassen, und nicht mit Nichtgedanken. Um die Nichtgedanken soll sich die Psychologie kümmern, aber nicht die Philosophie. (Vgl. Gabriel 2018, S.304 uns S.306) Das reine Denken ist nicht mehr intentional; es beschäftigt sich nur noch mit sich selbst.

Wie paßt das alles zusammen? Gabriel bleibt die Erklärung schuldig. Der Denksinn besteht aus lauter Widersprüchlichkeiten. Er macht keinen Sinn.

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