2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität
Ich vertrete in meinem Blog den anthropologischen Grundsatz, daß drei Entwicklungsebenen zusammenkommen müssen, um einen Menschen zu ergeben: die biologische, die kulturelle und die individuelle Entwicklungsebene. Zwischen der biologischen und der kulturellen Entwicklungsebene gibt es eine fundamentale Diskontinuität: die biologische Entwicklungsebene bildet eine Stammesgeschichte, die zwischen den verschiedenen biologischen Gattungen eine genetische Verwandtschaft begründet. Es gibt keine Monstren in der Biologie. Die kulturelle Entwicklungsebene hingegen ist katastrophenanfällig. Kulturelle Traditionen brechen abrupt ab, neue Traditionen entstehen, ohne daß irgendeine das Überleben sicherstellende Rationalität erkennbar wäre. Die individuelle Entwicklungsebene bildet das Schlachtfeld, auf dem die gegensätzlichen biologischen und kulturellen Tendenzen um die Dominanz kämpfen, und sie versucht, den Zufällen der Stammes- und Kulturgeschichte einen individuellen Sinn zu geben.
Judit Butler eröffnet gleich auf der ersten Seite des ersten Kapitels fünf verschiedene thematische Ebenen. In der Überschrift ist von „Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren“ die Rede und weiter unten im Text auf derselben Seite von den „feministischen Interessen und Zielsetzungen in der Welt des Diskurses“ und von einem Kollektivsubjekt, „dessen politische Repräsentation angestrebt wird“. (Vgl. Butler 1991, S.15) Diese fünf Ebenen lassen sich der Reihe nach in folgenden Stichworten auf den Punkt bringen:
- Biologie (Geschlecht)
- Kultur (Geschlechtsidentität bzw. Gender)
- Individualität (Begehren)
- Kultur (Diskurse)
- Kultur (Macht/Politik)
„Die Mechanismen aufzuweisen, durch die das anatomische Geschlecht (sex) in die Geschlechtsidentität (gender) verwandelt wird, bedeutet nicht nur, die Konstruiertheit der Geschlechtsidentität, ihren nicht-natürlichen, nicht-notwendigen Status darzulegen, sondern auch die kulturelle Universalität der Unterdrückung in nicht-biologischen Termini zu behaupten.“ (Butler 1991, S.67)Es gibt also keinen unmittelbaren Zugang zum anatomischen Geschlecht; auch nicht über die Wissenschaft. Und das Begehren ist Butler zufolge nicht expressiv, also kein Ausdruck seelischer Not, sondern gebunden an Effekte öffentlicher Inszenierungen. Wenn bei Butler von Expressivität die Rede ist, dann nur in dem Sinne, daß in den Geschlechtsmerkmalen irgendeine verborgene Identität oder Substanz zum Ausdruck kommen könnte. Butler sieht darin eine politische Strategie des zwangsheterosexuellen Diskurses:
„Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, die als expressive Attribute des biologischen ‚Männchens‘ (male) und ‚Weibchens‘ (female) verstanden werden.“ (Butler 1991, S.38)Es gibt also kein individuelles Begehren und somit auch keine Individualität. Übrig bleiben von den fünf Ebenen nur drei; bzw. in meiner Terminologie verbleibt nur eine einzige Entwicklungsebene: die kulturelle.
Die Reduktion der drei Entwicklungsebenen auf eine einzige Ebene ist nach meiner Auffassung der Fragestellung geschuldet, an der sich Butler orientiert:
„Wenn ‚Identität‘ ein Effekt diskursiver Praktiken ist, inwiefern ist dann die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) – als Verhältnis zwischen biologischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender), sexueller Praxis und Begehren verstanden – der Effekt einer regulierenden Praxis, die als Zwangsheterosexualität identifiziert werden kann?“ (Butler 1991, S.39)Der Fehler dieser im ideologiekritischen Sinne durchaus berechtigten Fragestellung liegt darin, daß sie das Verhältnis zwischen den drei Entwicklungsebenen Biologie/Kultur/Individuum zur kulturellen Seite hin, nämlich Biologie und Individualität als Effekte der Kultur, auflöst. Berücksichtigt wird nur noch die kulturelle Ebene der „regulierenden Praxis“, also die Zwangsheterosexualität. Dabei hätte Judith Butler die biologische Entwicklungsebene durchaus als Teil ihrer ideologiekritischen Fragestellung verstehen können. Denn daß die Biologie keine der Gesellschaft enthobene, gleichsam freischwebende Erkenntnisform bildet, bedeutet ja nicht automatisch, daß die biologische Entwicklungsebene überhaupt keine Relevanz für das individuelle Begehren hätte. Das gleiche gilt für den Bruch (Diskontinuität) zwischen biologischer und kultureller Entwicklungsebene. Gerade der Antagonismus zwischen diesen beiden Ebenen bedarf einer eigenen anthropologisch begründeten Aufmerksamkeit.
An anderer Stelle verweist Butler selbst auf die Relevanz der biologischen Entwicklungsebene, wenn sie hervorhebt, „daß der Körper“ nicht der Grund für das Begehren sei „oder seine Ursache, sondern sein Anlaß und Objekt“:
„Teilweise besteht die Strategie des Begehrens gerade in der Verwandlung des begehrenden Körpers selbst.“ (Butler 1991, S.111f.)Hier bringt Butler die Wechselseitigkeit zwischen biologischer und individueller Entwicklungsebene auf angemessene Weise zum Ausdruck; denn „Anlaß“ bzw. „Objekt“ des Begehrens zu sein, ist ja nicht nichts! Zum einen beinhaltet diese Wechselseitigkeit, daß es, was die Veranlassung betrifft, gar kein Begehren ohne den Körper gäbe; zum anderen beinhaltet die Objekthaftigkeit des Körpers, daß dieser den subjektiven Projektionen als Projektionsfläche dient. In diesem Sinne muß also durchaus auch die biologische Entwicklungsebene in den Fokus eines ideologiekritischen, emanzipatorischen Diskurses genommen werden.
Darüberhinaus möchte ich ergänzen, daß es transzendentale Konzeptionen des Körpers gibt, die dieser sexuellen Bestimmung von Oberflächenmerkmalen (Geschlechtsmerkmalen) noch vorausliegen. Dazu gehören der Körperleib von Helmuth Plessner, der aufrechte Gang bei Hans Blumenberg und die mit dem aufrechten Gang zusammenhängende Verhältnisbestimmung von Hand und Wort von André Leroi-Gourhan. Die transzendentale Qualität dieser anatomischen Bestimmungen liegt darin, daß sie völlig unabhängig von sexuellen Geschlechtsmerkmalen vorgenommen wurden. Das Bewußtsein, das der Körperleib ermöglicht, ist, mit Plessner gesprochen, zu seinen Geschlechtsmerkmalen exzentrisch positioniert. Erst die individuelle Ontogenese führt zu einer sexuellen Orientierung, die die Geschlechtsmerkmale mit einer bestimmten sexuellen Bedeutung auflädt.
Zu dieser sexuellen Bedeutung kann durchaus auch gehören, daß sich Individuen von diesen Geschlechtsmerkmalen abwenden und sich im Widerstreit zu ihnen orientieren. Und dieser Widerstreit ist genau das, was Plessner zufolge den Körperleib ausmacht: wir liegen mit unserem Körper im Streit. (Vgl. Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne. Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369)
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