„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. Oktober 2019

Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018 (2016)

Eine Freundin fragte mich vor einigen Monaten, ob ich Hartmut Rosa kenne, was ich verneinen mußte. Die Freundin, wohl wissend, daß ich seit über neun Jahren einen Blog mit Rezensionen zu Büchern quer durch die Wissensgebiete fülle, brachte mit unverhohlener Schadenfreude ihr Erstaunen über meine Unbedarftheit zum Ausdruck. Das war’s dann auch schon. Ich nahm ihr das nicht weiter übel. Unser Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Aber den Namen merkte ich mir.

Jetzt habe ich mir Rosas Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (3/2018) zugelegt, und ich möchte hiermit auch gleich meine Eindrücke zum Besten geben, um zu zeigen, daß die von meiner Freundin aufgedeckte Wissenslücke nicht mehr besteht.

Das erste, was mir auffällt, ist der Optimismus des Professors für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Rosa geht es um eine Soziologie des gelingenden Lebens. Trotzdem stellt er sich gleichzeitig in die Tradition der Kritischen Theorie. (Vgl. Rosa 2018, S.36) Ein natürlicher Partner in dieser Traditionslinie ist Jürgen Habermas mit seiner Konsensorientierung, ein natürlicher Gegner Theodor W. Adorno mit seinem bekannten Ausspruch, daß es kein richtiges Leben im falschen geben könne.

Nun hat Adorno, wie ich glaube, diesen Ausspruch getan, damit ihm widersprochen werde. So ein Satz kann einfach nicht unwidersprochen bleiben. Wo es keine Lebensmöglichkeit mehr gibt, bleibt nur noch der Strick. Hartmut Rosa widerspricht also und setzt seine Resonanztheorie dagegen. Er behauptet, daß es ein gelingendes Leben gebe – im Sinne einer ‚Resonanz‘ zwischen Mensch und Welt – und daß man sogar wissen könne, wie es aussieht. Allerdings verfährt er dabei nach einem schwarz-weiß-Schema, in dem das gelingende Leben kein Mißlingen kennt und das mißlingende Leben kein Gelingen. Seine Beispiele, Anna (gelingendes Leben) und Hannah (mißlingendes Leben), sind allzu einfach gestrickt. (Vgl. Rosa, S.20ff.) Zwar korrigiert Rosa später dieses starre Schema, indem er auf die Notwendigkeit von Entfremdungserfahrungen verweist, die die totalitäre Tendenz einer auf Gelingen fixierten Lebensführung brechen (vgl. Rosa S.59f.u.ö); aber die Entfremdung wird dadurch bestenfalls zum Instrument einer sozialen Gelingensbildung, die den anthropologischen Einsichten von Denkern wie Helmuth Plessner oder Hans Blumenberg in die Entfremdungsstrukturen des Mensch-Weltverhältnisses nicht gerecht wird. Wie übrigens Rosa selbst implizit eingesteht, wenn er sein Unverständnis für Plessners ‚einseitige‘ Fixierung „auf die Aspekte der Störung und Irritation in der Weltbeziehung“ zum Ausdruck bringt. (Vgl. Rosa 2018, S.134)

Auch ich widerspreche Adornos Postulat zum notwendigerweise falschen Leben, begründe meinen Widerspruch aber anders: es gibt die Chance auf ein gelingendes, richtiges Leben, weil der Mensch ein Anachronismus ist. Er paßt nie genau in die Zeit, in der er lebt; und wenn er aus dem (falschen) Zeitgeist herausfällt, wird gelingendes Leben möglich. Mein Begriff des Anachronismusses entspricht dem Adornoschen Begriff der Nicht-Identität.

Sogar Rosa spricht von „Rissen und Brüchen des gesellschaftlichen Denkens, Handelns und Erlebens“, in denen sich die „primordiale Resonanzfähigkeit des Menschen und der Welt“ zeigt. (Vgl. Rosa 2018, S.582) Aber, anders als Rosa meint, scheint in diesen „Rissen und Brüchen“ nicht einfach nur geradehin eine Möglichkeit auf. Wir haben es bei ihnen vielmehr mit einer grundlegenden Brechung unserer individuellen Intentionalität zu tun, die sich nicht einfach harmonisierend überwinden läßt, sondern bestenfalls zu einer zweiten Naivität führt, in der wir um ihre Gebrochenheit wissen. Bei dieser zweiten Naivität geht es eben nicht mehr um eine undifferenzierte, pauschal angesetzte „primordiale Resonanzfähigkeit“, sondern um die Entwicklungsebene von Individuen. Aber der Soziologe Rosa vernachlässigt diese Ebene. Ihm zufolge kommt es auf die Individuen nicht an, sondern nur auf die Kultur bzw. auf die Gesellschaft. (Vgl. Rosa 2018, S.33f., 43, 58, 70 u.ö.)

Dazu paßt, daß Identität für Rosa ein zweifelhafter Begriff ist, der Dauerhaftigkeit vortäuscht, wo Wandel die Regel ist. (Vgl. Rosa 2018, S.43) Unter diesen Zweifel fällt dann auch die Vorstellung von einer ‚Seele‘ als einer geistigen Substanz, wie sie seit Platon das christliche Abendland prägt. Aber es ist nicht phänomenologisch, die Vorstellung von einer ‚Seele‘ damit gleich in Bausch und Bogen zu verwerfen. Wir müssen nicht gleich an eine unvergängliche seelische Substanz glauben, wenn wir uns selbst als Körperdinge erleben und es vor allem die Dinge um uns herum sind, denen wir eine zeitliche Dauer ansehen, die dem Wandel zumindestens für einen begrenzten Zeitraum zu widerstehen scheinen.

Im Gegensatz zu diesen Dingen sind es die Flüssigkeiten und Gase, denen wir Vergänglichkeit und Unbeständigkeit ansehen; eine Option, für die sich Hermann Schmitz, mit dem ich mich im nächsten Blogpost befassen werde, entschieden hat. An uns selbst haben wir die Anschauung eines festen Körpers und die Erfahrung einer Dauer unseres Ichs, woraus sich wiederum die Vorstellung einer Ich-Identität ergibt. Das hat etwas Dinghaftes. Die Vorstellung einer dinglichen Seele ist also lebensweltlich begründet. Und mehr braucht ein Phänomenologe nicht, um dieses Thema ernstzunehmen.

Ich selbst bin der Meinung, daß die Seele ihre Herkunft aus der Lebenswelt hat und sich an der Grenze zwischen Innen und Außen individualisiert. Deshalb definiere ich sie mit Plessner nicht als Ding, sondern als ein Verhalten auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Die Vorstellung einer fortdauernden Ich-Identität verbinde ich mit der exzentrischen Positionalität des Menschen. Sie ist außerzeitlich und nicht-örtlich und deshalb andauernd.

Bei aller Wandelbarkeit unseres Auftretens bleibt die Ich-Identität immer dieselbe, ohne daß wir von einer Ich-Substanz ausgehen müssen. ‚Transzendental‘ meint nicht ‚transzendent‘. Es handelt sich hier lediglich um eine Bewußtseinsfunktion. Das hat nichts mit irgendeinem „Authentizitätsterror“ zu tun, wie Rosa Michel Foucault zitiert. Gerade weil wir raumlos und zeitlos hinter (und neben) uns stehen und deshalb auch nicht authentisch sein können, sondern exzentrisch zu uns und der Welt positioniert sind, bleiben wir immer ‚dieselben‘: nämlich als diejenigen, die sich, mit Plessner gesprochen, zu allem, was ihnen widerfährt, ‚positionieren‘ können. Das ist eine Bewußtseinsleistung. Kant bezeichnet das mit Bezug auf René Descartes als das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption.

In „Beschreibung des Menschen“ (2006) hält Hans Blumenberg fest, daß „Daten des inneren Sinnes ... keine räumliche Bestimmtheit haben müssen“ – also auch im Sinne von Rosas Hinweis darauf, daß wir ständigem Wandel unterliegen und es keine dauerhafte Identität (und deshalb auch keine Seele) gebe –, sei kein Beleg dafür, daß das „physische Körperding“ für die (innere) Bestimmung des Menschen keine Bedeutung hat:
„Die Gegebenheiten des inneren Sinnes, der inneren Erfahrung, sind Etwas im vollen Verstande, nicht nur so etwas wie Etwas für das, was in der Welt vorkommt.“ (Blumenberg 2006, S.333)
Mit anderen Worten: Unsere inneren Bewußtseinsprozesse beinhalten selbst Phänomene, die wir als solche ernstzunehmen haben, und sie bilden nicht nur Außenweltphänomene ab. Es gibt eine von der Außenwelt sich unterscheidende innere Welt. Und diese innere Welt ist individuell oder sie ist nicht innen. Kollektiv geteilte Welten mögen vielleicht subjektiv sein, aber sie sind immer nur außen. Zwischen innen und außen verläuft dieselbe Grenzlinie wie zwischen privat und öffentlich.

Für die gesellschaftliche Perspektive sind Individuen wie überhaupt das Scheitern und der Tod des Einzelnen wenig relevant. Im Grunde ist Rosas Resonanztheorie nur eine aufwendig begründete, mit Entfremdungsmomenten angereicherte Wohlfühlphilosophie. Was Rosa als Resonanzphänomene beschreibt, ist letztlich nichts anderes als die gute alte Lebenswelt (Husserl/Blumenberg), ohne daß Rosa ihrem Höhlencharakter gerecht wird.

Tatsächlich erwähnt Rosa selbst die Kritik an der Harmonielastigkeit seiner Resonanztheorie. (Vgl. Rosa 2018, S.740) Er erwidert, daß auch Adorno von „Mimesis“ spricht, und Mimesis meine auch nichts anderes als Resonanz. (Vgl. Rosa 2018, S.584f.) Ich würde sogar ergänzen, daß es Parallelen zwischen Rosas Resonanz und Michael Tomasellos Rekursivität gibt, die in meinem Blog eine wichtige Rolle spielt. Allerdings beinhaltet diese Rekursivität, wie ich sie verstehe, eine Sphären bzw. Ebenen des Bewußtseins überschreitende Dynamik; ein Aspekt, der der Rosaschen Resonanz fehlt. Doch abgesehen von diesen (eingeschränkten) Parallelen zur Mimesis und zur Rekursivität fehlt dem Rosaschen Konzept ein gewisser anthropologischer Realismus, so daß man es eben doch als harmonistisch bezeichnen muß.

Rosa verortet die Entfremdung nicht anthropologisch, sondern beschreibt sie lediglich als sozialen Prozeß. (Vgl. Rosa 2018, S.741) Tatsächlich ist sie, auch als soziohistorisches Phänomen, aber in der exzentrischen Positionalität des Menschen begründet. Rosas Verbindung des Entfremdungsphänomens mit der „Fähigkeit zur Resonanzverweigerung“ (vgl. ebenda) läßt sich auch als eine Form des Herausfallens aus der Lebenswelt beschreiben. Wir haben es hier insofern mit einem anthropologisch begründeten Anachronismus zu tun, als er dem Menschen schon immer innewohnte und frühestens mit der Einführung der Schrift vor 5000 Jahren zum Vorschein und in der Moderne zur vollen Entfaltung kam.

Rosa verfehlt die individuelle Entwicklungsebene, weil er die Resonanzverweigerung nur als gegenseitige Abgrenzung von Gruppen beschreibt, nicht aber als individuelle Option. (Vgl. Rosa 2018, S.742) In dem Beispiel mit den beiden Nachbarn, die sich grüßen und der eine den anderen auf das heiße Wetter anspricht, während der andere kontert, daß die Juden daran schuld seien, was wiederum eine Abwendung des einen zu Folge hat, versucht zunächst der andere seinen Nachbarn für sein antisemitisches Gruppen-Wir zu vereinnahmen. Dieser Nachbar aber, der nur über das Wetter hatte reden wollen und im übrigen nichts anderes als einfach nur nett sein wollte, grenzt sich jetzt verständlicher Weise gegen dieses ihm zugemutete antisemitische Gruppen-Wir ab, um, wie Rosa schreibt, seine intersubjektiven Resonanzbeziehungen zu „anderen (‚belebten‘) Weltausschnitten“ (Rosa 2018, S.742), sprich Gruppen-Wirs, nicht zu gefährden.

An keiner Stelle haben wir es hier mit der zweitpersonalen Beziehung zwischen Ich und Du zu tun, und deshalb auch nicht mit einer individuellen Entwicklungs- bzw. Prozeßebene. Der Soziologe Hartmut Rosa kennt nur die drittpersonale Ebene von Kultur und Gesellschaft. Dem Menschen, in dem immer drei Entwicklungsebenen, die Biologie, die Kultur und das Individuum, zusammenkommen müssen, um als Mensch in Erscheinung zu treten, wird Rosa mit seiner Resonanztheorie nicht gerecht.

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